Als sie sich am nächsten Tag kurz vor zwei Uhr nachmittags dem Ziel näherten und im Blickfeld die Aufbauten des Autodroms erschienen, war Robin beeindruckt. Die Anlage ähnelte einer Achterbahn, doch die Fahrstrecke war kein Schienenzug, sondern eine Straße. Ein bizarres Bauwerk, das an eine für den schwerelosen Raum bestimmte Weltraumarchitektur erinnerte. Es gab kühn geschwungene Schleifen, nahezu senkrechte Steilabfahrten, haushohe Loopingkreise – Ausgeburten einer verrückten Mathematik –, und all dies, um letzten Endes zum Startplatz zurückzukehren.
»Es geht nicht mehr darum, von hier nach dort zu kommen – es geht um die Fahrt selbst: Sie ist das Ziel. Diese Bahn ist so etwas wie ein interaktives Kunstwerk«, erklärte Josz, »in den Benutzern entfacht es Emotionen, die sonst nur Raumfahrer erleben. Und selbst die Zuschauer peitscht es an die Grenze ihrer Empfindungsfähigkeit.«
Eine solche Aussage hätte Robin nicht von Josz erwartet, und dieser gestand dann, dass er schon bei mehreren Rennen zugesehen habe und aus eigener Erfahrung sprach.
Aber diesmal waren sie nicht zum Vergnügen da, sondern zum Zweck einer geheimen Besprechung – geheim selbst vor den Kollegen in den höchsten Etagen. Der Ort war raffiniert gewählt. Es war die Prominentensuite eines Informatik-Unternehmens, in das man nach mehrfachen Kontrollen und Ausweisprüfungen nur mit persönlicher Einladung hineinkam: ein versteckter Winkel inmitten eines Stadions mit einem Fassungsvermögen von 600.000 Personen. Wie geschaffen für konspirative Treffen – ein Teilnehmer, der unerkannt bleiben wollte, konnte jederzeit unauffällig aus dem Zuschauerraum dazustoßen, andererseits aber auch jederzeit im Gewühl untertauchen und sich für Verfolger unsichtbar machen.
Ein Angestellter mit einer respekteinflößenden Schockpistole nahm Josz und Robin in Empfang und führte sie in einen Nebenraum mit halbkreisförmigem Grundriss. Die geschwungene Rückwand war mit schwarz eloxiertem Aluminium verkleidet, und in die gegenüberliegende flache Wand war ein Fenster in Superbreitformat eingelassen, durch das man die dahinrasenden Autos beobachten konnte. Die Ausstattung des Raums machte deutlich, dass die Szenerie, die man durch das Fenster sah, lediglich ein Aperçu war. Das Zentrum bildeten vier feudale Lehnstühle, die um einen runden Tisch mit goldgefasster Glasplatte herum angeordnet waren. Um die Sitzgarnitur zu erreichen, mussten die beiden Besucher über einen Teppich gehen, der wie eine aus Wolle bestehende Spielwiese anmutete. Und als sie sich setzten, versanken sie tief in der Polsterung der Sitze.
Die beiden mussten warten, ihre Gesprächspartner waren noch nicht da. Der Angestellte brachte dampfenden Mokka und eine Schachtel mit überlangen Zigarren, dazu ein Schneidinstrument, dessen Zweck Robin nur erraten konnte: Diente es dazu, die Zigarren in kleinere Stücke zu zerlegen?
Das Rennen war schon in vollem Gang. Durch das Fenster sah man die dahinflitzenden Boliden; im Vordergrund war ein besonderes Spektakel zu verfolgen: ein Abgrund, den die Autos mit einem Salto überquerten. Aber alles das wirkte wie eine Miniatur, weit entfernt, unwirklich, und auch das Heulen der Motoren und das Geschrei der Zuschauer drangen nur gedämpft durch das dicke Glas.
»Draußen ist der Eindruck viel stärker«, erklärte Josz und versuchte erst gar nicht, sein Bedauern zu verbergen.
Die Führungskräfte, mit denen es Josz und Robin zu tun hatten, waren zwei Angehörige des Vorstands, Beatrice Reneau und Vladimir Trov, über deren Aufgaben nichts bekannt war. Als die beiden endlich eintrafen, erwiesen sie sich als eloquente Persönlichkeiten um die vierzig, denen man ihre Fähigkeiten und den darauf beruhenden Rang nicht ansah. Erst während des Gesprächs zeigte sich, dass sie doch von anderem Kaliber waren als die meist überalterten Führungskräfte des Gerichtshofs, die noch von der früheren nationalen Behörde übrig geblieben waren.
Es war die Frau, die sprach; sie wusste, was sie wollte, und verstand es auch, ihre Meinung kurz und bestimmt vorzutragen. Der etwas ältere Mann hörte zu, nickte gelegentlich und schaltete sich nur ein, um ihm wichtig scheinende Ergänzungen anzubringen.
»Wir haben ein Problem«, erklärte Beatrice. »Es ist noch kaum an die Öffentlichkeit gedrungen, und somit muss ich mich einige Zeit bei der Vorgeschichte aufhalten. Es begann vor etwa drei Jahren. Damals war beschlossen worden, eine internationale Konferenz mit den wichtigsten Repräsentanten der Weltwirtschaft abzuhalten. Es sollte um engere, über Grenzen hinwegreichende Kooperationen gehen … Und dann erfuhren wir, dass eine Gruppe von Unternehmern diese Gelegenheit zur Stärkung der eigenen Macht missbrauchen wollte. Es handelte sich um jene Leute, die wir unter uns als ›Erben der Mafia‹ bezeichnen. Das Geld, das ihre Vorfahren durch illegale Machenschaften erworben hatten, wurde längst gewaschen. Sie steckten es in Wirtschaftsunternehmen, die sich gesetzestreu verhalten, so dass es keinen Grund gibt, gegen sie einzuschreiten.«
Beatrice machte eine kleine Pause, in der sie eine der Zigarren auswählte. Sie schnitzelte mit dem bereitliegenden Werkzeug an der Spitze herum und hielt schließlich ein Feuerzeug daran. Dann nahm sie einen tiefen Zug und blies dichten weißen Rauch in die Luft.
»Es zeigte sich allerdings«, fuhr sie fort, »dass im Hintergrund noch immer die alten, vom Verbrechen profitierenden Strukturen lebendig waren. Ihre neue Aufgabe war es, die sich im Besitz der sogenannten Familien befindlichen Wirtschaftsunternehmen mit Methoden zu unterstützen, die etwas effektvoller sind als die gesetzlich erlaubten. Wie in alten Zeiten stützten sie sich auf Zwangsmaßnahmen, Erpressung, Entführung, Geiselnahme und so weiter bis hin zum Mord, daneben aber nutzten sie auch die Errungenschaften der modernen Wirtschaftskriminalität wie Industriespionage, Datendiebstahl, Abhörtechnik, elektronische Überwachung und so fort. Diese Unterstützung erbrachte den Unternehmen erhebliche Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten, so dass sie ihre Macht immer weiter ausbauen konnten. Inzwischen sind sie längst in Bereiche der Politik eingedrungen. Was dort geschieht, ist heute bereits weitgehend von der Mafia diktiert. Mehr und mehr gelingt es ihr, auch Institutionen des öffentlichen Rechts in die Privatisierung einzubeziehen und sich in ihnen festzusetzen.«
Jetzt gab Vladimir Trov ein Zeichen, und seine Kollegin überließ ihm das Wort. »Zu diesen Institutionen gehören Militär, Polizei und das Unterrichtswesen, also jene Stellen, die für die staatliehe Ordnung sorgen. Als ein ganz wichtiges Instrument in den Händen dieser Kräfte haben sich die Informations- und Massenmedien erwiesen. Es ist klar, dass eine solche Umschichtung außerordentlich bedenklich ist. Inzwischen hat es ja sogar einen Versuch gegeben, unsere Justizbehörde zu unterwandern.«
»Ich weiß«, warf Josz ein. »Wir haben erst kürzlich …«
»Unter diesem Aspekt ist auch die Konferenz zu sehen«, unterbrach Beatrice ihn. »Für uns bestand höchstes Interesse daran, zu prüfen, ob es in der Konferenz zu irgendwelchen Arten betrügerischer Beeinflussung kommen würde. Bald stellte sich heraus, dass für uns keine Chance bestand, einen offiziellen Beobachter zu delegieren, denn die Konferenz sollte unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Doch darauf brauche ich nicht näher einzugehen – das ist ja jetzt allgemein bekannt.«
Sie machte eine kleine Pause, um wieder an ihrer Zigarre zu ziehen. Es war still, nur gelegentlich drang von außen schwach der Lärm der außer Rand und Band geratenen Zuschauer herein.
Beatrice legte die Zigarre auf den Aschenbecher. Eine dünne Rauchfahne schlängelte sich in die Höhe. »Natürlich haben wir uns damit nicht zufrieden gegeben, wir haben mehrere Versuche unternommen, unsere Mitarbeiter und Agenten in die Umgebung der Konferenz einzuschleusen. Bei dem, was wir heute zu besprechen haben, geht es nur noch um einen davon – er ist der Einzige, der noch im Spiel ist: die einzige Aktion, die sich als erfolgversprechend erwiesen hat.«
»Und jetzt haben wir auch noch den Kontakt mit diesem Mitarbeiter verloren«, sagte Trov. »Es ist ein Kollege von euch, und darum hoffen wir, dass ihr die Verbindung wiederherstellen könnt. Die Situation ist viel ernster, als wir angenommen hatten – es wäre außerordentlich wichtig.«
Er schwieg wieder, beide blickten uns an, als ob wir diese Frage jetzt schon beantworten könnten.
Schließlich sagte Josz: »Die Aufgabe übernehmen wir gern, doch wir brauchen Hintergrundinformationen.«
»Die sollt ihr bekommen«, versprach Trov und blickte Beatrice auffordernd an.
»Es handelt sich um eine Mission«, sagte Beatrice, »die unter strengster Geheimhaltung vor sich ging. So nehme ich an, dass ihr auch nichts davon wisst. Der Kollege von euch, den wir damit betraut haben, heißt Angelo Brugger; vielleicht kennt ihr ihn. Wir haben ihn monatelang auf seine Aufgabe vorbereitet. Vor allem ging es darum, ihn auf unverdächtige Weise in das Globe-Hotel einzuschleusen. Ihr habt es sicher schon in den Nachrichten gesehen, es liegt völlig einsam mitten im Eismeer der Arktis. Wir hatten uns genau darüber informiert, welche Methoden der Kontrollen der Sicherheitsdienst anwenden würde, um Unbefugte zu entlarven. Neben den üblichen Methoden der Identifikation sollten auch moderne Lügendetektoren eingesetzt werden. Wir mussten also dafür sorgen, dass unser Agent ein neutrales Alias nicht nur äußerlich annimmt, sondern auch daran glaubt, diese Person zu sein. Dabei haben wir die neuesten Methoden der Schönheitschirurgie und der Gedächtnisneurologie angewandt. Wir fanden eine unverdächtige Person, deren Identität Angelo annehmen konnte. Es war ein Abenteurer, der kurz zuvor tödlich verunglückt war: Sylvan Caretti. Es ist uns gelungen, seinen Tod zu verheimlichen. Angelo wurde operiert, so dass seine Gesichtszüge jenen von Sylvan glichen. Von der Statur her gab es keine auffälligen Unterschiede. Weitaus schwieriger war es, seine Gedankenwelt so zu manipulieren, dass er als Sylvan auftreten konnte …«
»… und sich auch als Sylvan fühlte«, fiel ihr Trov ins Wort. »Es war eine Meisterleistung unserer Mitarbeiter aus der neurologischen Abteilung. Sie unterdrückten seine bisherigen Erinnerungen und speicherten stattdessen Sylvans Vergangenheit ein. Für die Übergangszeit ließen wir von einem bekannten Autor ein Drehbuch schreiben, und wir sorgten auch dafür, dass der neue Sylvan, um seinen Bekanntheitsgrad zu steigern, einen spektakulären Auftritt in der Öffentlichkeit hatte. Diese Aktion ging durch die Medien und machte ihn weithin bekannt. Noch wichtiger allerdings war es, ihn auf seine Aufgabe einzustellen, die in seinem Bewusstsein höchste Priorität haben musste. Wir wandten das an, was man früher als posthypnotischen Befehl bezeichnet hat; heute kennen wir weitaus bessere Mittel, um diesen Effekt hervorzurufen. Wir erreichten damit, dass er die Anfangskontrollen überstehen konnte, sich aber später – ausgelöst durch ein Schlüsselsignal – auf seine eigentliche Aufgabe einstellen konnte. Und dass diese Aufgabe in all seinen Gedanken absolute Priorität hatte.«
»Kann man diese Eingriffe wieder rückgängig machen?«, fragte Robin und hatte gleich danach den Eindruck, dass er diese Frage besser nicht aufgeworfen hätte. Er war tief bewegt, denn der Bericht von Beatrice war die erste Bestätigung für das, was bisher nur ein unbestimmter Verdacht gewesen war. War der phantastische Einsatz, den Beatrice da beschrieb, tatsächlich nach Plan verlaufen?
»Ich nehme es an«, antwortete Beatrice sichtlich irritiert, und es war leicht zu erkennen, dass sie sich für dieses Problem bisher nicht interessiert hatte. Sie fing sich aber schnell und gab im Folgenden eine genaue Beschreibung der ersten Schritte Sylvans, die ihn schließlich zum Einsatz in der Arktis bringen sollten. Durch eine vorgetäuschte Gefahrensituation wurde er zum Absprung bewegt, und dann sollte er so reagieren, wie es der Logik nach vorauszusehen gewesen war. Der vorausberechnete Weg sollte ihn direkt zum Hotel führen, in dem er seiner Aufgabe nachzukommen hatte.
»Von diesem Zeitpunkt an haben wir nichts mehr von Sylvan gehört«, berichtete Trov. »Inzwischen verstärkt sich für uns der Eindruck, dass es bei der Konferenz tatsächlich nicht mit rechten Dingen zugeht. Das muss aufgeklärt werden – wir müssen die Verbindung mit Sylvan unbedingt wiederherstellen.«
Wieder entstand eine Pause. Trov rief nach dem Bediensteten und ließ Getränke bringen. Ein Kellner servierte Gläser mit einer goldgelben Flüssigkeit, die würzig schmeckte und nach getrockneten Blumen roch. Josz und Robin lehnten sich in die Stühle zurück und ließen sich durch den Kopf gehen, was ihnen eben eröffnet worden war.
Durch das Glasfenster hindurch sah man die Autos in voller Fahrt auf ihren gewundenen Wegen, umgeben von der Masse des Publikums – eine Masse, die sich in Wellen bewegte wie ein aufgepeitschtes Meer. Manchmal drang ein Rauschen durch die Glaswand, das an einen Sturm denken ließ. Selbst in diesem abgeschiedenen Raum mit seinem sinnlosen Luxus waren Josz und Robin ein wenig betäubt von den aufwühlenden Eindrücken aus einer Welt künstlich erzeugter Gefahr.
Die ihnen gestellte Aufgabe war schwierig und verlangte großes Verantwortungsgefühl. Sie würden sie übernehmen, daran bestand kein Zweifel. Einerseits weil es ohnehin keine Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen erhaltenen Auftrag gab, andererseits weil es eine Aufgabe war, von deren Gelingen das Gleichgewicht der Welt abhing. Doch für Robin kam noch etwas hinzu: weil er dadurch endlich erfahren hatte, was mit Angelo geschehen war.
Es fragte niemand, ob sie den Auftrag annehmen wollten. Beatrice hatte angekündigt, dass die beiden Ermittler die notwendigen detaillierten Daten bekommen würden, sie sollten sie studieren und sich dann ihr weiteres Vorgehen genehmigen lassen.
Damit waren sie entlassen.