Während meiner Exkursion auf den Bohrturm hatte Ellen die Diplomaten ohne Schwierigkeiten befreien können. Sie hatten sich schon einigermaßen von den Strapazen der letzten Tage erholt und sich zunächst aus den Vorräten der Gefriertruhen versorgen können. Übrigens hatten sie eine Nachrichtensendung von WWNews empfangen und waren bestürzt über die Meldungen von einem glücklichen Abschluss der Konferenz. Man hatte angekündigt, dass Hawk und Jafei an diesem Abend in London ankommen und über den großen Erfolg berichten würden, während die übrigen Diplomaten noch ein paar Tage auf der Eisinsel bleiben würden – um ergänzende Gespräche zu führen, vor allem aber, um den großen Erfolg gemeinsam zu feiern. Dann sei jedoch, so berichteten sie, der Empfang von einem Moment auf den anderen abgebrochen.
Ellen hatte die Diplomaten zu einem Imbiss eingeladen. Dabei informierte sie ihre Gäste über die Situation, doch hatte ich den Eindruck, dass diese sich der Gefahr, in der sie schwebten, nicht bewusst waren. Als wir uns schließlich von den Tischen erhoben, war es später Nachmittag geworden.
Ellen war noch immer von den Diplomaten umringt; sie bedrängten sie mit Wünschen, die sie nicht erfüllen konnte. Ich befreite sie aus dieser misslichen Lage, indem ich ihr auch für die anderen hörbar zuflüsterte, dass sie dringend im Büro gebraucht wurde. Sie reagierte sofort, entschuldigte sich bei den Gästen und zog sich mit mir in ihre Arbeitsräume zurück.
Ellen machte einen ziemlich gestressten Eindruck, immerhin hatte sie jetzt wieder die Verantwortung für die aufgeregten und verwirrten Diplomaten zu tragen. Wir setzten uns auf die Couch in der Ecke hinter dem Schreibtisch. »Hast du schon eine Idee?«, fragte sie, aber es klang so niedergeschlagen, dass es mich traurig machte. Für einen privaten Gedankenaustausch war jetzt keine Zeit, trotzdem ergriff ich ihre Hand.
»Es gibt nur einen Weg«, sagte ich. »Ich muss mich mit meinem Sender so weit aus dem Bereich des Störsenders entfernen, dass wieder Senden und Empfangen möglich ist. Sobald ich Verbindung mit meiner Dienststelle kriege, sind wir gerettet.«
»Du musst weg von hier?«, fragte Ellen. »Wohin gehst du? Wie lange wirst du fort sein?«
»Nicht sehr lange«, sagte ich etwas unbestimmt. »Ich nehme das Boot, das ich schon einmal benutzt habe. Und dann nehme ich den Weg, den ich gekommen bin – den kenne ich schon ganz gut. Es kommt ja nur darauf an, dass ich mich wirklich weit genug vom Störsender entferne. Ich denke, ein paar Kilometer genügen, ich gebe meine Nachricht durch und komme dann zurück. In einem Tag kann ich wieder da sein. Morgen früh breche ich auf.«
Ich merkte, dass mein Vorschlag Ellen in große Besorgnis gestürzt hatte, und versuchte sie zu beruhigen. »Es kann eigentlich gar nichts schief gehen. Es ist ja nur ein kurzes Stück, und ich kenne die Strecke.«
»Willst du allein gehen?«
»Wer könnte schon mitkommen? Es ist niemand da, der an Eistouren gewöhnt ist. Und meine Ausrüstung ist nur für eine Person ausgelegt.«
»Es wird mir schwer fallen, dich da allein draußen zu wissen«, flüsterte Ellen. »Du musst zurückkommen, hörst du? Du darfst mich nicht allein lassen.« Sie lehnte sich an mich.
»Was sind das für Gedanken? Ich werde zurückkommen – du kannst dich darauf verlassen.«
Wir blieben noch ein oder zwei Minuten in Gedanken versunken nebeneinander sitzen. Dann stand ich auf, winkte Ellen noch einmal zu und ging.
Ich hatte eine Menge zu tun. Wenn es auch nur ein kurzer Ausflug in die kalte weiße Wüste werden sollte, so musste ich das Unternehmen doch so sorgfältig vorbereiten wie eine wochenlange Expedition. Ich nahm mir jedes Stück der Ausrüstung einzeln vor und überzeugte mich davon, dass es einsatzfähig war. Die Lampen, der Heizkocher, die Nahrungsmittel und die dazugehörigen Behälter und Bestecke, der Schlafsack, Kleidung, Schuhe und Helm, Kletterhilfen, Verbandskästchen, Kompass, Toilettenpapier und natürlich das Sendeaggregat – Mikrophon und Lautsprecher, der USB-Adapter und die Batterien. Die Schuhe waren noch nicht repariert – ich hatte nicht damit gerechnet, sie hier noch einmal zu brauchen; ich beschloss, das Problem weiterhin so zu lösen wie bisher: sie mit Klebeband zu verschließen, das sich nach Gebrauch leicht wieder entfernen ließ.
Nachher ging ich noch zur Anlegestelle, um das Boot zu inspizieren: den Motor, den Treibstoffvorrat, die Steuerung, die Verkleidung. Nach menschlichem Ermessen war alles in Ordnung.
Bevor ich mich für eine kurze Nachtruhe niederlegte, fertigte ich ein Backup meiner Aufzeichnungen an und legte den Chip in den Tresor – zur doppelten Sicherung. Wer wusste schon, ob ich wohlbehalten zurückkommen würde.
Ellen hatte es sich nicht nehmen lassen, mich am Morgen zur Anlegestelle zu begleiten. Und so standen wir dann, als das Gepäck verstaut war, in einer leicht dunstigen Dämmerung beieinander und nahmen Abschied. Wir brauchten nur wenige Worte, »Leb wohl«, »Komm wieder«, »Ich denk an dich« … Dann stieg ich hinunter ins Boot.
Es war fast so wie bei meiner Ankunft, nur in umgekehrter Reihenfolge. Die Entfernung vom Pier vergrößerte sich, ich nahm Ellen nur noch als vage umrissene Gestalt wahr, der Bohrturm verschwand im Nebel … Dann war ich allein mit dem Boot und den merkwürdigen Gefühlen, die da in mir aufkamen. »Komm wieder«, »Ich denk an dich« … – zum ersten Mal kam mir die Bedeutung dieser Worte in den Sinn. Mir war, als hätte ich alle Brücken hinter mir abgebrochen.
Robin hatte eine Weile darüber nachgedacht, ob er mit einem großen Aufgebot an Polizeikräften vor Goroschs Grundstück auffahren sollte, doch inzwischen war er nicht mehr so optimistisch, und er beschloss, es zunächst ohne jedes Aufsehen allein mit Fay zu versuchen.
Aus dem Fundus der Behörde besorgte er sich einige Geräte, die ihm nützlich sein mochten: eine Schockpistole, einen Handscheinwerfer, einen Geruchssensor für die Verfolgung von Spuren, eine Mini-Kamera und einen winzigen Universalspeicher mit einem großen Satz an Zwischensteckern. Dazu kam noch ein Hilfsmittel, das ihm auf Wunsch extra angefertigt worden war: ein Kabel mit isolierten Klemmen, mit dem man einen Elektrozaun kurzschließen konnte – denn einen solchen hatte Fay noch erwähnt, als sie ihre Unternehmung geplant hatten. Robin mochte nicht noch einmal in Berührung mit einer solchen Einrichtung kommen.
Den Nachmittag nutzte er, um sich mit den Geräten vertraut zu machen, und Fay erzählte ihm ein bisschen aus ihrem Leben. Sie war in ärmlichen Verhältnissen in den USA aufgewachsen, hatte eine gute Ausbildung in Büroelektronik und war nach Europa gekommen, um besser zu verdienen und ihre zurückgebliebenen Geschwister zu unterstützen. Wenn es so war, wie sie es schilderte, dann konnte man verstehen, dass ihr zusätzliche Verdienstmöglichkeiten willkommen waren.
»Wenn man die Anklage gegen dich fallen lässt, dann kannst du vielleicht sogar dein Geld behalten«, sagte Robin.
Als die Dämmerung einsetzte, fuhren sie los. Sie parkten das CityCar in angemessener Entfernung von Goroschs Anwesen. Hier begann das ansteigende Sträßchen, das sie über zwei Serpentinen ans Ziel führte. Robin trug einen Rucksack, so dass man sie für verspätete Wanderer halten konnte. Sie gingen ohne anzuhalten am Haus vorbei, am Elektrozaun entlang, wo die Straße in einen Fußweg überging. Dann war der Zaun zu Ende, und an seiner statt lief der Zaun in rechtem Winkel dazu den Berg hinauf.
Dort verließen auch Robin und Fay den Weg und stiegen über die Felsen des Hangs aufwärts, in angemessener Entfernung zu den unter Spannung stehenden Drähten. Robin hatte den Fährtenleser ausgepackt und hielt den Sensor in Kniehöhe gegen den Boden gerichtet. Wenn Gorosch hier öfter vorbeikam, sollten sie seine Spuren finden.
Der Aufstieg war ein wenig beschwerlich, vor allem, weil sie beide keine festen Schuhe trugen. Sie arbeiteten sich zwischen aus dem Boden ragenden Felsen weiter aufwärts, der mit Grasbüscheln bewachsene Untergrund bot keinen festen Halt, und mehrmals blieben sie an den Dornen hängen, die ihre Spuren an Gesicht und Händen hinterließen. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt, aber sie benutzten die Handlampe noch nicht, deren Schein von weitem zu sehen gewesen wäre. Trotzdem kamen sie gut voran.