Es kostete Fay einiges an Überwindung, allein in die Nacht hinauszulaufen – man sah es ihr an. Robin gab ihr die Handlampe mit auf den Weg. Er folgte ihr langsamer mit Jan; inzwischen hatte sich über ihnen ein heller Sternenhimmel ausgebreitet, der genügend Licht spendete, um den Weg zu erkennen.
Als Robin und Jan in die Nähe des Gebäudes kamen, sahen sie das Fahrzeug als dunklen Umriss am Parkplatz stehen. Sie stiegen ein, und Fay mochte keine Sekunde mehr verlieren. Sie startete – jetzt erst waren sie endgültig in Sicherheit.
Gleich nachdem sie losgefahren waren, hatte Robin seine Kontaktstelle angerufen und um ärztliche Betreuung für Jan gebeten. Sie vereinbarten einen Treffpunkt, wo sie eine Ambulanz erwartete. Jan war erschöpft auf die Rücksitze gesunken, sofort eingeschlafen und musste geweckt werden. Zwei Sanitäter halfen ihm beim Umsteigen und betteten ihn auf eine Liege im Fond des Krankenwagens. Dann setzte sich Robin wieder ins CityCar und brachte Fay in seine Wohnung. Sie war sehr enttäuscht, als er ihr erklärte, dass die Auswertung des erbeuteten Materials unverzüglich beginnen musste und er dabei in seiner Dienststelle gebraucht wurde.
Robin fuhr ins Gerichtsgebäude, wo ihn Josz mit drei Mitarbeitern erwartete. Sie arbeiteten die ganze Nacht hindurch, dann lag ein Ausdruck mit einer Menge unzusammenhängender Textfragmente und Zahlenreihen vor ihnen – das war die gesamte Ausbeute des mühevollen Unternehmens. Von irgendwelchen Dokumenten, die über geplante Aktionen Auskunft geben würden, konnte keine Rede sein. Am wertvollsten waren noch einige in ein Diktiergerät gesprochene Stichworte; der Chip war von Gorosch offenbar als Erinnerungshilfe aufbewahrt worden.
Mit der langwierigen Tüftelarbeit waren die fünf Männer beschäftigt. Um auch das Letzte aus den Daten herauszuholen, war noch eine computerunterstützte logische Analyse nötig, darunter auch ein Vergleich mit allen anderen bereits vorliegenden Unterlagen. Eine Gruppe von spezialisierten Fachleuten übernahm diesen abschließenden Teil der Arbeit. Es dämmerte schon, als einer der Beamten bei Robin erschien: Ihm war es gelungen, eine verschlüsselte Nachricht zu dechiffrieren: Es handelte sich um die Organisation eines Transports, mit dem Truppen aus einem »Katastrophengebiet« herausgebracht werden sollten. Es war weder klar, um welche Truppen es sich handelte, noch, wo dieses Katastrophengebiet lag. Das Auffällige daran war aber die Tatsache, dass dafür ein konkretes Datum angegeben war: 13. Mai, 9 Uhr vormittags – eine Katastrophe, die auf Tage hinweg vorausgeplant war! Und dieses Datum stand unmittelbar bevor!
Robin dachte angestrengt nach, doch es fehlten einfach zu viele Informationen. Und er geriet in noch größere Verwirrung, als ein Kollege ins Zimmer gelaufen kam und ihn darauf hinwies, dass es sensationelle Neuigkeiten von der Internationalen Konferenz gäbe: Erstmals sei die Nachrichtensperre aufgehoben, es habe einen entscheidenden Durchbruch gegeben. Einige Delegierte würden sich demnächst zur Lage äußern, und so schaltete Robin den Kanal von WWNews ein. Sollte die Tagung wider Erwarten zufriedenstellend verlaufen sein?
Was dann bekannt gegeben wurde, machte die Konfusion in Robins Kopf perfekt. Da war von einer Einigung die Rede, von der Zustimmung aller Teilnehmer zu einem bahnbrechenden Vorschlag, und auch die um Stellungnahmen gebetenen Diplomaten zeigten sich optimistisch, sie seien über die Fortschritte hocherfreut und rechneten mit einem raschen Abschluss der Verhandlungen. In Kürze würden Einzelheiten über diesen gewaltigen Schritt in eine bessere Welt verkündet werden. Das klang alles sehr positiv. Fast zu positiv …
Robin fiel etwas Merkwürdiges an den Kommentaren der Delegierten auf: Dem Sinn nach zeigten sich alle von den Ergebnissen begeistert, doch in den Klang der Stimmen mischte sich ein merkwürdiger Ton, der nicht zu den Aussagen passte. Was wurde da gespielt?
Robert beschloss, sich bei nächster Gelegenheit im internen Netz nach Hinweisen umzuschauen, die seine Bedenken bestätigen oder entkräften könnten, aber zunächst musste er bei seinen Auswertungsarbeiten bleiben.
Der neue Tag hatte schon begonnen, als Robin sich schließlich zurückzog, doch an Schlaf war trotzdem nicht zu denken. Er musste sich um Fay kümmern. Sie hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt, und nun war er ihr auch die Belohnung schuldig.
Es dauerte wieder ein paar Stunden, bis alle Formalitäten erledigt waren. Und als Robin schließlich die Entlassungspapiere in der Hand hielt, machte ihn der Beamte auf einen Umstand aufmerksam, den Robin bisher übersehen hatte: Die Anklage von Fay war zwar zurückgezogen worden, und sie konnte wegen desselben Vergehens nicht mehr belangt werden. Andererseits hatte sie gegen mehrere Vorschriften ihres Arbeitgebers, des Gerichtshofs, verstoßen, und somit stand ihr ein zivilrechtlicher Prozess bevor. Robin war zumute, als hätte er Fay mit falschen Versprechungen hinters Licht geführt.
Fay hatte Robin in seiner Wohnung erwartet, und da blieb ihm nichts anderes übrig, als die Karten auf den Tisch zu legen. Sie war weniger enttäuscht, als er befürchtet hatte. »Ich habe so etwas erwartet«, meinte Fay. »Es ist doch klar, dass ich nicht mehr an meine Arbeitsstelle zurückkehren kann. Ich werde in die USA zurückkehren und nicht erst warten, bis ein Prozess gegen mich angestrengt wird. Ich reise heute noch ab.«
Fay hatte die paar Sachen, die sie schon im Gefängnis bei sich gehabt hatte, in ihre Tasche gepackt und sie im Flur bereitgestellt.
Robin musste ihr zustimmen: Er würde sie nicht aufhalten. Was konnte er noch für sie tun? Er steckte ihr einen Umschlag mit Creditscheinen zu – anstelle des Geldes, das bei ihrer Verhaftung beschlagnahmt worden war. »Nimm das, du wirst es brauchen.«
Die Situation hatte sich auf merkwürdige Weise geändert. In den letzten zwei Tagen hatten sie aufregende Stunden miteinander verbracht, waren sich nahe gekommen, und Fay war wieder in Freiheit. Und nun, ganz plötzlich, stand ihnen der Abschied bevor. Sie umarmten sich noch einmal, dann nahm Fay ihre Tasche und ging die paar Schritte zum Aufzug. Robin begleitete sie. Das letzte Mal sah er sie durch das Fenster der Liftkabine, die sie unwiderruflich forttrug. Irgendetwas daran erinnerte ihn an eine ähnliche Situation, aber das wühlte Erinnerungen in ihm auf, an die er jetzt nicht denken wollte.
Wieder im Eis
Um mich herum das Wellenspiel des kleinen arktischen Sees. Als ich mich mit dem Boot über das Wasser bewegte, während die Gerüste des Bohrturms und der Rundbau des Hotels im Dunst untertauchten, übermannte mich ein merkwürdiges Gefühl – als ob etwas zu Ende gegangen wäre.
Ohne Schwierigkeiten fand ich die Anlegestelle, ich kettete das Boot an und hob meinen Rucksack heraus. Er war leichter als jener, mit dem ich gekommen war – auf die meisten Werkzeuge hatte ich verzichtet, und auch bei den Nahrungsmitteln hatte ich es mir bequem gemacht: ein paar Konzentrate und Quellkonserven. Wasser gab es ja hier genug, das ich mir aus dem Eis schmelzen konnte.
Ich war diesen Weg bisher nur einmal gegangen, doch er schien mir vertraut. Vielleicht lag es daran, dass man sich in solchen Situationen – allein in gefährlichem Gelände – auf jede Einzelheit konzentriert und die Wahrnehmungen entsprechend fest ins Gedächtnis verankert. Da war die Uferböschung, jetzt mit Schnee bedeckt. Da war die Bresche durch den Stacheldraht. Von hier aus hatte ich das kugelförmige Gebäude des Hotels erstmals aus der Nähe gesehen – jetzt lag es hinter einer Nebelwand verborgen. Dieser Nebel machte mir Sorgen … hoffentlich wurde er nicht dichter und nahm mir die Sicht.
Ich hatte mich ungefähr einen Kilometer vom Eissee entfernt, es war nicht mehr weit bis zu jener unangenehmen Strecke, die ich über schroffe Eishügel hinweg überwinden musste. Es konnte nicht schaden, den Sender einmal probeweise einzuschalten. Ich legte also eine kurze Rast ein, vergaß nicht, ein wenig Wasser aufzubereiten und zu trinken, und schaltete den Sender ein. Das Ergebnis war eigentlich so, wie ich es befürchtet hatte: Das Rauschen übertönte noch jedes andere Geräusch, das sich eventuell darunter verbergen mochte, aber es schien mir doch ein wenig gedämpfter. Es hatte keinen Sinn, hier mit einem Sendeversuch zu beginnen, aber nach einigen Kilometern, da war ich mir sicher, würde eine Funkverbindung möglich sein. Also schulterte ich den Rucksack und ging weiter hinein in das unwegsame Gelände.