Nur wenige Stunden hatte Robin geschlafen, jetzt saß er schon wieder in seinem Büro. Er hatte sich vorgenommen, sich von nun an mit aller Energie seinem Auftrag zu widmen und sich durch nichts ablenken zu lassen. Als ihn Michèle am ComSet sprechen wollte, zögerte er kurz – doch dann siegte sein Stolz, und er ließ sich mit dem Hinweis auf eine Besprechung entschuldigen.
Er rief seine Mitarbeiter zusammen und bat sie um das Ergebnis ihrer Analyse. Sie hatten mehr herausgefunden, als er erwartet hatte, wenn es für manches auch nur vage Indizien gab. Die wichtigste Erkenntnis war zweifellos, dass einige an der Konferenz beteiligte Diplomaten enge Verbindungen zur Mafia hatten.
Etwas später erschienen auf den Holo-Schirmen die Delegierten Hawk und Jafei: Sie seien vorausgeeilt, um der Welt über die erzielte Einigung zu berichten und die ersten Schritte zur Neuorganisation der internationalen Politik vorzubereiten, während ihre Kollegen die Rückkehr zur Zivilisation in Ruhe hinter sich bringen wollten und nach den Anstrengungen einen freien Tag genossen. An diesem Abend sollte im Globe-Hotel ein großes Abschlussfest stattfinden.
Robin fand es merkwürdig, dass sich zwei der Diplomaten von der Insel zurückgezogen hatten, während die übrigen Zeugen des Geschehens zurückblieben und dadurch daran gehindert wurden, den Ablauf der Verhandlungen aus ihrer Sicht zu schildern. Es war ja allgemein bekannt, dass sich die Weltpresse nahezu vollständig in der Hand von Hawk und seinen Mitarbeitern befand. Robin zermarterte sich den Kopf über der Frage, was dort, auf der fernen Eisinsel, in Wirklichkeit geschehen sein könnte. Vielleicht eine groß angelegte Erpressung oder – noch schlimmer – irgendeine Art von psychologischem Zwang?
Es wirkte, als würde von einem Teleprompter abgelesen.
Je länger Robin darüber nachdachte, umso stärker wurde seine Überzeugung, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er empfand es als geradezu unerträglich, sich selbst in Sicherheit zu wissen, während das Unheil in der Welt seinen Lauf nahm. Erregt stand er auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Er glaubte, diese Situation nicht länger ertragen zu können, und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als verzweifelt darüber nachzudenken, wie er den bereits fahrenden Zug doch noch aufhalten könnte.
Robin kam bei seinen Grübeleien immer wieder auf den Wunsch zurück, die Sperre, die die Sicherheitskräfte um die Eisinsel und ihre Umgebung errichtet hatten, zu durchbrechen, um dort die Ermittlungen aufzunehmen. Am liebsten hätte er sich sofort aufgemacht, um näher an den Schauplatz des Geschehens zu kommen, und wenn er sich – so wie es Angelo ja auch gemacht hatte – auf einem Fußmarsch über das Eis durchschlagen müsste. Er wäre dazu bereit. Aber, so schalt er sich gleich darauf, das war natürlich Unsinn, es musste andere, realistischere Möglichkeiten geben, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Jetzt, da die Sache vorbei war … Vielleicht waren die strengen Absperrungen inzwischen aufgehoben worden? Robin versuchte es herauszufinden, doch er wurde enttäuscht – bisher hatte sich nichts geändert. Der Luftüberwachung durch die Satelliten entging kein technischer Flugkörper, und andere Möglichkeiten, die isolierte Region zu erreichen, gab es nicht.
Doch dann erreichte ihn ein Anruf, der die Situation mit einem Schlag änderte. Zuerst eine Meldung, dass es einen Anruf höchster Dringlichkeitsstufe gäbe. Und dann nannte jemand den Namen jener Person, die Robin sprechen wollte: Es war Sylvan Caretti!
Eine kurze Wartezeit, dann starkes Rauschen als Hintergrundgeräusch und eine Stimme, die sagte: »Verbindung hergestellt, bitte sprechen!«
Robin rief mehrfach nach Sylvan, ehe er Antwort bekam, aber dann konnte er doch einige Worte verstehen: »Hier Sylvan Caretti. Es liegt ein Notfall vor.«
Robin spürte, wie sein Herz vor Aufregung hämmerte, und strengte sich an, ruhig zu bleiben. Er nannte seinen Namen, stellte Fragen, und endlich schien sein Gesprächspartner verstanden zu haben. Und ebenso schwierig war es für Robin, den Sinn dessen zu begreifen, was Sylvan mitzuteilen hatte. Erst nach einigen vergeblichen Versuchen glaubte Robin zu verstehen: Im engeren Umkreis des Hotels unterband ein Störsender jeden Funkverkehr. Deshalb hatte sich Sylvan vom Hotel entfernt, war aufs Eis hinausgegangen und hatte nun endlich einen Kontakt hergestellt. Er glaubte die Menschen auf der Bohrinsel in großer Gefahr. Und er wollte nach diesem Gespräch dorthin zurückkehren.
Robin musste an die vorausgesagte Katastrophe denken und warnte Sylvan vor einer Rückkehr zur Eisinsel. Schon bald aber verschlechterten sich die Sendebedingungen erneut, und gleich darauf brach die Verbindung ab. Robin war nicht sicher, ob die letzten Worte durchgekommen waren. Er bemühte sich, die Verbindung wiederherzustellen, aber alle Versuche misslangen.
Ein Lebenszeichen von Sylvan und ein Hilferuf, dem man nicht Folge leisten konnte! Es war zum Verzweifeln. Aber Robin wehrte sich gegen Resignation – sie mussten das Problem immer wieder durchdenken und jeder Möglichkeit nachgehen, die auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg versprach.
Robin verbiss sich geradezu verzweifelt in das Problem: Wie konnte man zur Eisinsel vordringen? Stunde um Stunde suchte er nach Lücken im System der gesperrten Verkehrswege … Es war schon fast ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit, als Robin schließlich sein Suchprogramm aktivierte und den Begriff »Arktis« eingab. Und das, was er als Resultat erhielt, bestätigte eigentlich die Vergeblichkeit seiner Bemühungen: Er bekam an die 50.000 Stichworte, Hinweise, die in allen möglichen Zusammenhängen mit der Arktis standen – wie sollte sich darunter etwas Nützliches finden lassen? An erster Stelle waren die aktuellen Ereignisse berücksichtigt, und er empfand es geradezu als Hohn, als die Liste mit 50 Notizen über die Konferenz auf der Eisinsel begann. Und viel nützlicher war auch der Eintrag über das Globe-Hotel nicht.
Gl’obe-Hotel, tourist. exot-hotels *****; Arktis, Standort wechselnd. Errichtet auf der Plattform einer mobilen Bohrinsel inmitten einer treibenden Eismasse (34.000 km2); Bj: 2057. Der Name bezieht sich auf die futuristische Architektur des Gebäudes in Kugelform (Architekt: Bodo Jablonka). Konferenzräume, Holotheater, virtuelle Spiele, Bäder und Massagen. Touren in die Umgebung. (Hb. Fremdenverkehr, 2875-224)
Es folgte die Beschreibung der Flugrouten, die Nordamerika über die Polregion hinweg mit Europa verbanden, danach gab es technische Informationen über die Ausbeutung der in der Arktis verfügbaren Ressourcen, Fischfang, Trinkwassergewinnung und Erdölförderung. Ein Dutzend der Hinweise richtete sich auf wissenschaftliche Aktivitäten, speziell auf die jüngsten Initiativen einer schwedischen Forschergruppe; sie erkundete mit einem U-Boot die submarine Region unter dem Eis der Polkappe und war dabei auf merkwürdige Meerestiere gestoßen, die Temperaturen unter dem Nullpunkt ertragen konnten.
Mit wachsender Enttäuschung hatte Robin eine Meldung nach der anderen überflogen und fragte sich schon, wie lange er ohne Aussicht auf Erfolg weitermachen sollte – plötzlich stutzte er … Hatte er nicht etwas Wichtiges übersehen? Da hatte er doch etwas gelesen, was ihm im Nachhinein interessant vorkam: was vielleicht sogar die Lösung versprach! Da war von einem U-Boot die Rede gewesen, mit dem die Forscher unter den Eisschichten hinwegfuhren und das sich dort – wie Robin schlagartig klar wurde – ungehindert von jedem Überwachungssystem frei bewegen konnte! War das nicht die erhoffte Möglichkeit für ihn, die Eisinsel zu erreichen?
Zurück zur Eisinsel