Die Richtung war kaum zu verfehlen, und wenn ich wirklich einmal vom Weg abgekommen war, brauchte ich nicht lange zu suchen, um meine eigenen Spuren zu finden, denen ich folgen konnte – so stellte ich es mir zumindest am Beginn meines Weges vor.
In den nächsten zwei Stunden ging alles gut. Erst als sich die Sonne unter den Horizont senkte, wurde es beschwerlich. Von der Leuchtkraft her erwies sich meine Lampe durchaus als ausreichend, aber ihre Position auf meinem Helm brachte es mit sich, dass ich die von ihr beleuchteten Eispartien als schattenlose Masse wahrnahm, und das erschwerte es gewaltig, auf der optimalen Route zu bleiben. Immer wieder geriet ich mehrere Schritte weit in Sackgassen und musste dann umkehren, um einen erneuten Anlauf zu versuchen. Mit Schrecken stellte ich fest, dass die Zeit rasend schnell verging.
Besonders schwierig wurde es dann in jenem Wegstück mit den stark wechselnden Höhenunterschieden, wo ich zu kleineren Klettereien gezwungen war. Und als ich endlich über den Kamm hinweggekommen war, schlug mir ein Wind entgegen, den ich zunächst als angenehm warm empfand, doch er wehte mit solcher Kraft, dass er durch Mark und Bein drang. Zwar hätte ich die Isolation noch erheblich erhöhen können: Mein Anzug war mit einer Kapsel mit komprimiertem Argon ausgerüstet, ich hätte sie öffnen können, um das wärmedämmende Gas in die dafür vorgesehenen Poren zu pressen, aber dadurch hätte die Kleidung ihre Elastizität verloren, und das hätte jede Bewegung doppelt beschwerlich gemacht. So nahm ich die Kälte auf mich, um schneller weiterzukommen.
Aber bald war von einem schnellen Vorwärtskommen keine Rede mehr. Als hätten sich die bösen Geister gegen mich verschworen, wehte mir der Sturm auch noch Schnee entgegen. Eisgrus schlug mir ins Gesicht und setzte sich überdies am Schutzglas meiner Lampe an, so dass die Beleuchtung wiederholt ausfiel, und dann musste ich stehen bleiben, um die zähe Schicht abzukratzen. Allmählich nahmen meine Kräfte ab – jetzt machte sich doch bemerkbar, dass ich nun schon 14 Stunden ohne nennenswerte Rast unterwegs war.
Die Situation erforderte den Einsatz der letzten Energiereserven, und bald fehlte mir selbst die Kraft, vor mich hin zu fluchen. Ich kämpfte roboterhaft, immer nur auf den nächsten Schritt bedacht … ich glich wohl mehr einem Automaten als einem denkenden Menschen.
Dann war es wie ein Erwachen: Über mir ein grauer, aber nicht mehr so dunkler Himmel – das Schneetreiben hatte ausgesetzt. Vor mir wie auf einer Bühne die schwarzgrüne Scheibe des Eissees, und in der Mitte das Hotel – immer noch ein Bollwerk der Zivilisation in dieser naturhaften Umgebung und glücklicherweise unversehrt – noch schien nicht eingetreten zu sein, was Robin angedeutet hatte, und ich spürte einen Anflug von Erleichterung. Wer war dieser Robin? Es gab da eine vage Erinnerung …
Als ich den Durchgang im Stacheldraht erreicht hatte, blieb ich einen Augenblick lang stehen. Ich blickte auf die Uhr und stellte betroffen fest, wie spät es geworden war: gerade noch eine halbe Stunde bis zur angekündigten Katastrophe.
Trotz meiner Müdigkeit begann ich zu laufen. Es ging leicht bergab, und das linderte die Anstrengung ein wenig, andererseits musste ich einsehen, dass ich meine Fähigkeit zur schnellen Reaktion eingebüßt hatte. Ich setzte die Füße nicht mehr präzise auf dem Boden auf und glitt mehrmals aus. Meist konnte ich gerade noch das Gleichgewicht halten, aber einmal schlug ich einfach der Länge nach hin – wobei ich glücklicherweise keinen Schmerz spürte und am liebsten liegen geblieben wäre.
Trotz allem kam ich schließlich am Ufer an, da war das Bootshaus, daneben der Metallsteg mit dem heftig schaukelnden Boot. Ich stieg ein und wäre dabei fast über den Rand gekippt. Ich ließ mich auf dem Sitzbrett nieder und warf den Motor an. Das Boot setzte sich in Bewegung, und ich versuchte die Fahrt in Richtung auf das Hotel auszurichten. Das erwies sich aber als überraschend schwer, denn der Wind kam genau von vorn, und er trieb mir Wellen entgegen, die Wasser ins Innere schwappen ließen. Und die Fahrt wurde langsamer.
Es war ein Rennen gegen die erbarmungslos zuschlagenden Naturgewalten, und es war ein Rennen gegen die Zeit. Vergeblich versuchte ich den kürzesten Weg einzuhalten, immer wieder wurde ich abgedrängt.
Es war ein Rennen, das ich verlor.
Ich sah, dass sich die Zahlen auf meiner Uhr dem angegebenen Termin näherten, und immer noch befand ich mich weit von der Insel entfernt. Obwohl ich etwas Unheilvolles erwartete, kam das Unfassbare dann völlig überraschend: Direkt vor mir blähte sich plötzlich ein Feuerball auf, Sekunden später folgte der Donnerschlag, und dann sah ich nur noch eine in den Himmel steigende und sich über die Umgebung ausbreitende kohlschwarze Wolke.
Von da an gab es nichts mehr zu denken, ich vermochte nur noch reflexhaft zu reagieren: Das Boot wurde von einem gewaltigen Stoß erfasst, er kam von einer meterhohen Welle – ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war, ich flog in die Höhe, war von Wassermassen, Gischt und schwarzem Rauch umgeben, kämpfte darum, wieder Atem holen zu können, suchte nach Halt, der nirgends zu finden war … Und schließlich trieb ich im Wasser, und ich merkte, dass ich Schwimmbewegungen machte, Reflexe, die mich an der Oberfläche hielten. Ein wenig später war das Ärgste vorbei, ich schwamm, bewegte mich vom Herd der Explosion fort.
Dann fiel mir wieder ein, worum es ging, und ich blickte mich um: Dort, wo früher die Bauten der Eisinsel gewesen waren, schlugen nun Flammen empor, aus denen sich Massen von schwarzem Rauch lösten, die die Umgebung verdunkelten.
Erst jetzt begriff ich, dass das Hotel zerstört war, der Bohrturm in sich zusammengestürzt, die Plattform verschwunden. Und dass alle Menschen, die sich dort drüben, im Zentrum des Infernos, aufgehalten hatten, zu Tode gekommen waren.
Ich schwamm automatisch weiter, und schließlich – ich war noch ein ganzes Stück vom Ufer des Eissees entfernt – kam der Augenblick, der auch mein Ende besiegelte: Ich hatte alle Kraft verloren, die Ermattung übermannte mich, ich ließ mich treiben, drohte zu versinken. In einem kurzen lichten Moment griff ich in die Hüfttasche meines Overalls, wo sich unter einer dünnen Stoffschicht der Hebel befand, mit dem sich der Anzug aufpumpen ließ. Es sollte der Wärmespeicherung dienen, doch – und daran hatte ich gar nicht gedacht – es verwandelte meine Jacke gleichzeitig in eine Schwimmweste, die mich vor dem Untergehen bewahrte.
Ich hatte die Augen geschlossen, sah nichts mehr – wollte nichts mehr sehen. Ich bewegte mich nicht, nur der Wellengang hob mich immer wieder hoch empor und ließ mich fallen.
Ich weiß noch, dass ich keine Kälte mehr spürte, allenfalls eine angenehme Müdigkeit. Von meinem Bewusstsein war nur noch ein winziger Rest erhalten – ich hoffte nichts, und ich fürchtete nichts. Meine Gedanken irrten in unbestimmten Räumen umher, und ich empfand diese neue Umgebung als angenehm, frei von Furcht und Schmerz. Und dann, als der Aufruhr nachgelassen hatte und mich das arktische Wasser sanft schaukelte, war mein Bewusstsein erloschen.
Eine Forschungsstation am Rande der Arktis und Wissenschaftler, die ein U-Boot für eine Unterquerung des Eises zur Verfügung hatten! Das war der erste Hoffnungsschimmer nach einer Periode von Enttäuschungen, und er aktivierte neue Energiereserven in Robin.
Jetzt kam es darauf an, mit der genannten Forschergruppe Kontakt aufzunehmen und sie dazu zu bewegen, Robin auf dem Weg unter dem Eis zur Bohrinsel zu bringen und dort abzusetzen.
Was nun folgte, war nur Routine, doch es kostete trotzdem kostbare Zeit. Zuerst – es war drei Uhr früh – ließ Robin Vladimir Trov wecken, und der verlor kein unnützes Wort, sondern erteilte Robin sofort die nötigen Vollmachten. Nun galt es, den Leiter der Forschungsgruppe zu finden, den er um Hilfe bitten konnte. Er musste erklären, wer er, Robin, war und für welche Behörde er arbeitete, und er musste den aktuellen Fall schildern, bei dem es um die Rettung von Menschenleben ging. Dann aber – er konnte es kaum glauben – hatte er das alles erfolgreich hinter sich gebracht. Er erreichte, dass ihm ein Düsenjet seiner Dienststelle zur Verfügung gestellt wurde, und er flog ohne Zeitverlust los.