Als sie dann eine halbe Stunde später wieder zusammentrafen, sagte Kjell nur: »Ich denke, wir sollten es versuchen. So wie Robin die Situation geschildert hat, bleibt uns sowieso keine andere Möglichkeit.«
Das Abendessen war einfach, aber es erfüllte seinen Zweck. Nachher führte Kjell den Gast zu einer Kammer, in der ein Matratzenlager vorbereitet war.
»Nicht sehr komfortabel«, bemerkte er. »Für die Bequemlichkeit bleibt nicht viel Geld.«
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Robin. »Wann geht es morgen los?«
»Ich denke, es genügt, wenn du um sechs Uhr früh zum Frühstück kommst.« Er deutete auf einen alten Wecker auf dem Regal. Er wünschte eine gute Nacht und ließ Robin dann mit seinen Gedanken allein.
Am nächsten Morgen wurde er durch den schnarrenden Wecker aus einem unruhigen Schlaf geschreckt und machte sich rasch bereit. Er ging in den Aufenthaltsraum, wo sich die Besatzung des U-Boots zu einem einfachen Frühstück eingefunden hatte, und lernte bei dieser Gelegenheit einen wichtigen Mann, den Mediziner und Biologen Dr. Vergil Gaskell, kennen. Mit einem Blick auf Robins Garderobe wies Kjell den Zeugwart an, ein Bündel wasserdichter und winterfester Kleider zu bringen, und Robin zog sich schnell um.
Gleich danach brachen sie auf und gingen hinunter zu einer eisumsäumten Bucht, wo Robin erstmals ein U-Boot aus der Nähe sah. Es war größer, als er es sich vorgestellt hatte, und es sah aus, als wäre es eben erst frisch von der Werft gekommen.
Kjell hatte Robin beobachtet und sagte mit deutlichem Stolz: »Das hast du nicht erwartet, gib es zu. Wir haben alles Geld in dieses U-Boot gesteckt und dafür bei den Unterkünften gespart. Es ist ein Typ, wie er von der Marine verwendet wird, doch wir haben es zu einem schwimmenden Laboratorium umgebaut.«
Im Moment hatte Robin wenig Sinn für die wissenschaftliche Arbeit, doch er war froh darüber, dass er in ein neues, gut ausgerüstetes Schiff steigen konnte, denn die bevorstehende U-Boot-Fahrt war ihm etwas unheimlich.
Im Innern war es dann doch beengter, als er es erwartet hatte; diejenigen, die nicht mit den Vorbereitungen zum Start zu tun hatten, saßen in einem schmalen Raum nahe nebeneinander auf einer Bank. Man hatte Robin einen Platz überlassen, von dem aus er eine gute Sicht zum Fernsehmonitor hatte, der oberhalb einer kreisförmigen und jetzt verschlossenen Türluke befestigt war. Im Moment war nur eine trübe grünliche Masse zu sehen.
Über den Lautsprecher hörten sie Stimmen – es waren für Robin unverständliche Befehle und Meldungen – und gleich darauf polternde Geräusche, die vom Schließen des Eingangsschachtes und von den anlaufenden Motoren herrührten. Kurze Zeit danach kippte der Bootskörper nach vorn, und auf dem Bildschirm waren Anzeichen von Bewegung zu erkennen – treibende, vom Strahl des Unterwasser-Scheinwerfers erfasste Teilchen, die sich auf den Betrachter zuzubewegen schienen. Sonst war von der sich rasch beschleunigenden Fahrt wenig zu bemerken. Trotzdem empfand Robin eine ungewöhnliche Unsicherheit, die einfach vom Bewusstsein kam, sich unter Wasser zu befinden …
Das konnten lange, nervenzermürbende Stunden werden, dachte Robin, doch dann begann der neben ihm sitzende Leiter der Forschungsgruppe einiges über die Arbeiten zu erzählen, die sie hier zu verrichten hatten. Ganz allgemein ging es um die Erforschung des unter dem Eis verborgenen arktischen Festlands, um Vermessung und Kartierung, um das Studium der Bodenformationen und auch um Anzeichen für technisch auswertbare Ressourcen.
»Hättest du erwartet, dass es auch in dieser Region in den Sedimenten des Meeresbodens steckende große Manganknollen gibt?«, fragte Kjell.
Robin brauchte nicht erst zu versichern, dass er es nicht erwartet hatte. Insbesondere waren die Wissenschaftler an verschiedenen fachspezifischen Phänomenen interessiert, die mit der hier alles beherrschenden Kälte zusammenhingen. So erfuhr Robin, dass sie in der Tiefe Regionen gefunden hatten, in denen die Wassertemperatur zehn Grad minus erreichte.
»Kaum zu glauben, wie viele Lebewesen es hier gibt«, sagte Kjell mit einem Blick auf den Bildschirm, der nicht viel mehr zeigte als ein strukturloses schmutziges Blaugrün. Nur selten geriet eine Partie des Meeresbodens in Sicht, und bei einer dieser Gelegenheiten schaltete Kjell die Fernsehanlage auf 100fache Vergrößerung: Da erschien plötzlich eine fremdartige Landschaft, die man eher von einem fremden Planeten erwartet hätte: Pflanzen mit langen, sich im Wasser wiegenden Stängeln, an denen längliche Blätter saßen, und schwammige Massen, aus denen sich Teile ausstülpten, um nach kurzer Zeit wieder in den Untergrund einzutauchen. Es waren aber auch Tiere dabei: Würmer, mit den Enden am Boden verankert, spinnenartige Wesen mit langen, mehrfach geknickten Stelzenbeinen und winzige Fische mit unverhältnismäßig großen Telleraugen. Und das alles in einheitlich graugrünen Farbschattierungen.
»Hinter diesen Formationen steckt ein Rätsel, das wir lösen wollen: Wie können diese Pflanzen und Tiere Temperaturen unter null Grad ertragen?« Kjell wies auf die praktische Bedeutung dieser Frage hin und kam damit auf medizinische Problemfelder zu sprechen: »Es geht darum, Erfrierungen zu verhindern. So kennen wir heute die Enzyme, die die peripheren Gefäße erweitern, ohne dass der Sauerstoffgehalt reduziert wird. Menschen, die in arktischen Regionen zu tun haben, können sich so mit Injektionen vor Erfrierungen schützen. Davon haben wir natürlich auch Gebrauch gemacht. Später wird man vermutlich gentechnische Methoden anwenden.«
Inzwischen waren die lukenartigen Türen an beiden Enden ihres Raums geöffnet worden, und einige der Wartenden standen auf, um ihren Pflichten nachzugehen. Kjell forderte Robin zu einer Besichtigungstour auf, dabei konnte er die Laboratorien betreten und mehr über die Arbeiten der Forscher erfahren. Robin nahm es als Gelegenheit, die quälende Wartezeit zu überbrücken.
Danach setzten sie sich wieder vor den Monitor. Immer noch bewegten sie sich in einer grünen Dämmerzone, aber gelegentlich erschienen vor ihnen in die Tiefe reichende Ausläufer der Eisdecke, die das Boot zu Kursänderungen zwangen. Es wich zur Seite aus oder stieß kopfüber in dunklere Bereiche, die nur noch von den Scheinwerfern am Bug aufgehellt wurden.
Eine Weile ging es so dahin, dann wurde es plötzlich unerwartet hell – eine Strecke, bei der es nur eine dünne Eisdecke war, die sie von der Welt über Wasser trennte.
Einer der Forscher brachte zwei Becher mit Tee – es war unangenehm kalt geworden, und das heiße Getränk tat gut.
Unversehens ging ein Ruck durch das Boot … »O weh – das sieht nicht gut aus!« Kjell war besorgt wegen der Erhebungen des Untergrunds, die sie zu einem Bremsmanöver gezwungen hatten. Zwischen Boden und Decke war es eng geworden, an manchen Stellen stieß das Eis bis zur Schicht der Ablagerungen hinunter und bildete Pfeiler, die im Gewölbe lediglich torartige Passagen offen ließen.
Und dann schien der Weg völlig versperrt zu sein – die frei bleibende Öffnung reichte nicht für eine Durchfahrt.
Das Boot hatte wieder abgebremst und lag nun bewegungslos im Wasser. Robin beobachtete über den Monitor, dass der Strahl des Scheinwerfers hin- und herwanderte, auf der Suche nach einer anderen Möglichkeit, die Fahrt fortzusetzen.
Aus dem Lautsprecher kam eine Stimme. »Da müssen wir durch! Es gibt keinen anderen Weg – soll ich es versuchen? Was meinst du?«
»Versuch es!«, antwortete Kjell nach kurzem Zögern. Robin hatte nicht verstanden, um was es dabei ging, und wartete mit gewissem Unbehagen auf die Dinge, die da kommen sollten: Es war, als nähme das Boot einen Anlauf. Es setzte ein Stück zurück, dann ein Moment des Stillstands, und schließlich ein Aufheulen der Turbinen: ein Anlauf auf die enge Lücke zu, verbunden mit einem bedrohlichen Poltern und Knirschen … Die Insassen des Bootes hatten Mühe, nicht von ihren Sitzen geschleudert zu werden.