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»Du hast Recht: Ich bemühe mich, mir vorzustellen, wie du dich selbst empfindest«, sagte Robin nach einer kleinen Pause. »Doch es fällt mir schwer. Dabei meine ich nicht die Folge der Ereignisse – dafür gibt es sachliche Erklärungen. Ich meine eher die Gefühle, die sich an Erinnerungen knüpfen – die du ja nicht mehr hast. Da hat es doch Menschen gegeben, die dir nahe standen … mit denen dich etwas verbunden hat: Freundschaft, Zuneigung, Liebe … Selbst wenn du dich an diese Personen erinnerst – ohne die damit verbundenen Gefühle verlieren sie ihre Bedeutung.«

»Das hast du gut beschrieben«, antwortete Angelo. »Gelegentlich fällt mir dies oder jenes ein, was weit zurückliegt. Da gab es eine Frau, die ich sehr geliebt habe … Ich erinnere mich an sie – aber ich empfinde nichts mehr dabei.«

Robin fühlte plötzlich eine fiebrige Unruhe. »Michèle?«, fragte er unwillkürlich.

Angelo schaute ihn erstaunt an. »Du kennst sie? Sie ist die Tochter meines früheren Vorgesetzten im Gerichtshof, Jan van der Steegen. Michèle und ich – wir haben ein paar Jahre zusammengelebt.«

»Ja, ich kenne sie …«, flüsterte Robin. Michèle … die Tochter des Direktors! Es war völlig unerwartet gekommen, eine kurze Bemerkung, nebenbei, aber sie hatte wie ein Blitz gewirkt, ihm war, als hätte sich eben seine innere Perspektive verändert, und mit ihr seine Hoffnungen, seine Ziele.

»Ja, ich kenne sie«, wiederholte er. Robin sprach so leise, dass ihn Angelo kaum verstehen konnte. Einen Moment lang hatte Robin das Bedürfnis, dem Freund von Michèle zu erzählen: wie er ihr begegnet war und aus welch haarsträubendem Irrtum heraus er sich von ihr gelöst hatte. Aber dann wurde er sich der Situation bewusst, in der es nicht um sein, sondern um das Schicksal des anderen ging.

Angelo hatte nicht bemerkt, dass Robin kurzfristig aus der Fassung geraten war. Er war zu stark mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.

Er hatte inzwischen weitergesprochen, aber es war nicht zu Robin gedrungen.

»Du brauchst aber nicht zu glauben, ich wüsste nicht, wie man Gefühle empfindet«, sagte er gerade. Es war das erste Mal, dass er über das sprach, was ihn in den letzten Tagen am allermeisten bewegt hatte, und es kostete ihn offenbar gewisse Überwindung. »Es war erst in jüngster Zeit – die Zeit, die ich als Sylvan verbrachte. Was auf der Eisinsel geschehen ist, ist mir in ganz anderer Weise gegenwärtig. Und dazu gehört noch etwas, etwas sehr Wichtiges: Ich habe eine Frau getroffen. Sie war Geschäftsführerin im Hotel auf der Eisinsel, sie hieß Ellen …« Angelo sprach nicht weiter, jetzt saß er stumm und unbewegt da. Dann fügte er leise hinzu: »Sie ist gemeinsam mit den anderen umgekommen.«

Wieder brauchte er einige Sekunden, um die Beherrschung zurückzugewinnen. Schließlich fuhr er äußerlich unbewegt fort: »Nun, das alles ist vorbei, und es lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Aber ich möchte nicht mehr zurück. Nicht mehr in diese kleine, langweilige Stadt, und nicht mehr an die alte Arbeitsstätte. Und vor allem möchte ich nicht, dass die Ärzte in ›Sanssouci‹ erneut an mir herumdoktern. Ich komme nicht mit dir, ich bleibe hier. Die einzigen Momente, in denen ich mich uneingeschränkt wohl fühle, sind jene, die ich in den letzten Tagen zusammen mit den anderen im Eis verbracht habe. Diese endlose Landschaft ist eine Herausforderung für mich. Vielleicht sind das die Antriebe und Vorstellungen, mit denen man mich für meine Rolle als Sylvan ausgestattet hat, aber ich habe eben keine anderen … Also bleibe ich hier, in dieser Region, die wundervoll friedlich ist.«

Robin hatte keinen Versuch unternommen, Angelo von seinem Plan abzuhalten. Was für Argumente hätte er auch schon gehabt? Er konnte verstehen, dass der Freund keine Lust hatte, sich einer erneuten Behandlung in »Sanssouci« zu unterziehen. Einer Behandlung, die wahrscheinlich erfolglos geblieben wäre. Und er verstand auch, dass er alles Vergangene endgültig hinter sich lassen wollte.

Robin hatte sich noch am Abend nach seinem Gespräch mit Angelo mit Gaskell, dem Arzt, unterhalten, und dieser war der gleichen Meinung: Er fand es richtig, dass sein Patient zunächst einmal in dieser friedlichen Umgebung blieb, um seine Ruhe zu finden. Dann würde man weitersehen …

Und nun saß Robin bei Kjell an dessen Arbeitsplatz im Laboratorium, wo dieser auch seine Verwaltungsarbeit erledigte. Es gab noch einige Formalitäten zu regeln. Die Hilfsaktion, die das Forscherteam für den Internationalen Gerichtshof durchgeführt hatte, musste ja bezahlt werden. Und auch für Angelos Absicht, bei den Arktisforschern zu bleiben, musste eine Basis gefunden werden. Doch Kjell bat ihn, sich darüber keine Gedanken zu machen. »Einerseits sind wir darüber froh, wenn wir Angelo noch weiterhin beobachten können – immerhin haben wir bei seiner Wiederbelebung neue Methoden angewandt. Und andererseits hat Angelo angeboten, die Forschungsstation finanziell zu unterstützen – für die Erlaubnis, sich hier weiterhin als Gast aufzuhalten.«

Robin bedankte sich noch einmal für die Hilfe und die Gastfreundschaft und zog sich in seine Kammer zurück. Früh am nächsten Tag würde er die Rückreise antreten. Und später, am Abend, saß er noch einige Zeit mit den Mitgliedern der Besatzung beisammen, und diesmal war auch Angelo dabei, und es sah so aus, als wäre er schon als festes Mitglied der Besatzung anerkannt.

Am nächsten Tag war der Himmel strahlend blau. Kjell und Angelo brachten Robin zum bereitstehenden Helikopter. Als er später aus dem Fenster blickte, sah er sie noch unten stehen, bis sie als kleine Pünktchen aus seinem Blickfeld verschwanden.

Der erste Teil des Flugs führte über die im Licht der Morgensonne glitzernden Eismassen. Es war der Eindruck eines unberührten Zauberlands von makelloser Schönheit. Robin hatte Verständnis für Angelos Wunsch, sich dorthin zurückzuziehen. Zum Abschied hatte ihm Angelo eine MiniCD gegeben – sobald er den Text gelesen hätte, würde er die Entscheidung seines Freundes besser verstehen.

Sosehr ihn Angelos Schicksal bewegte, so stark drängten sich ihm immer wieder Gedanken an Michèle auf. Er hatte sie so lange nicht gesehen, hatte die Verbindung mit ihr abgebrochen. Wie dumm war er doch gewesen! Würde sie ihm verzeihen?

Inzwischen war er vom Helikopter in ein Flugzeug umgestiegen; sie befanden sich schon hoch in der Luft, die Landschaft glitt gemächlich unten vorbei, sie flogen viel zu langsam für seine Ungeduld.

Es war Abend geworden, als der Pilot endlich zur Landung ansetzte … und noch einmal folgte eine zermürbende Wartezeit, bis die Passagiere aussteigen durften. Im Flughafengebäude lief Robin auf das erste im Gang stehende Vidiphon-Gerät zu und rief bei Michèle an. Es knackte in der Leitung … war sie zu Hause? Da erschien sie auf dem Bildschirm und blickte ihn erstaunt an.

»Ich komme gerade von einer Reise zurück. Ich muss dir viel erzählen. Können wir uns heute noch treffen? In einer Stunde im Palmengarten?«

Michèles Gesichtsausdruck blieb unbewegt, Robin überlief ein beklemmendes Gefühl, und er dachte schon, sie würde ablehnen.

Doch dann sagte sie leise: »In Ordnung, in einer Stunde.«

Jetzt saß er in der Ecke auf ihrer Bank, wo sie sich schon früher getroffen hatten, und konnte es kaum erwarten, sie zu sehen.

Endlich war sie da – plötzlich tauchte sie zwischen den Büschen auf und kam mit raschen Schritten näher. Robin stand auf und ging ihr entgegen. Als er auf ihrem Gesicht ein Lächeln sah, wusste er, dass nun alles gut werden würde.

Ende meiner Aufzeichnungen

Jetzt bin ich mit meinem Bericht in der Gegenwart angekommen. Es war mühevoll und nicht immer angenehm, all das, was geschehen ist, noch einmal auszugraben, aber es hat mir geholfen. Einerseits hat mich die Arbeit beschäftigt, sie hat mir Spaß gemacht. Andererseits habe ich dadurch einen Teil meines Lebens zu einem Abschluss gebracht – jetzt kann ich einen Schlussstrich unter diesen Abschnitt ziehen.