An einem Net-Com-Platz saß Gorosch und sah den beiden Ankommenden entgegen. Er verhielt sich so, als hätte er Robin nie zuvor gesehen, und Robin war inzwischen in eine Stimmung geraten, in der ihn nichts mehr wunderte. Der Security-Chef kam ihm jetzt nicht mehr so nett und freundlich vor.
»Das hat aber lange gedauert«, sagte Gorosch vorwurfsvoll.
Dr. Occoroni zuckte die Schultern. »Ich habe noch ein paar zusätzliche Tests gemacht«, erklärte er.
»Und was ist mit ihm?«
»Der Mann gibt sich ganz schön renitent. Sonst ist alles in Ordnung, er verträgt die volle Dosis.«
Gorosch wandte sich an die Assistentin: »Die Injektion vorbereiten.«
Während sich diese an die Arbeit machte, wandte sich Gorosch noch einmal an den Psychologen. »Glaubst du, dass er …?« Er führte die Frage nicht zu Ende.
»Vermutlich unschuldig«, antwortete der Arzt. »Harmlos. Aber man kann ja nie wissen …«
»Ich find’s heraus«, sagte Gorosch betont. »Bleibst du noch?«
»Der Mann interessiert mich nicht mehr«, sagte Dr. Occoroni. Er warf Robin einen verächtlichen Blick zu und zog sich wieder in seinen Kellerraum zurück.
Robin stand scheinbar teilnahmslos daneben, aber natürlich hörte er jedes Wort, das da gesprochen wurde. Mein Vorteil ist, dachte er, dass ich in der Tat nichts über Angelo weiß, was die Security interessieren könnte. Aber schon meldete sich in ihm eine Gegenstimme: Was ist, wenn Gorosch immer schlimmere Mittel einsetzt, um das vermutete Wissen herauszupressen? Wenn er Schmerzen bis ins Unerträgliche steigert? Ist man in solchen Fällen nicht bereit, alles zu sagen, was der andere hören will? Aber, und das war wieder eine andere Schlussfolgerung, was hätte Gorosch von einem solchen Geständnis? – Lässt er es später vom Computernetz analysieren, dann löst sich alles wie eine Seifenblase auf.
Jetzt trat eine streng blickende Frau in Schwesterntracht mit einem Injektionsspray an seine Seite, dahinter tauchten zwei stämmige Männer in grünen Kitteln auf.
Mir kann nichts geschehen, sagte sich Robin, trotzdem hatte er Angst. Doch sich zu wehren hatte keinen Sinn, und so ließ er alles mit sich geschehen. Mit einem blaffenden Geräusch wurden die feinen Tröpfchen der Chemikalie unter seine Haut geschossen, und schon Sekunden später spürte er, dass sich sein Denken und Empfinden änderten …
Später hatte er Mühe, den Zustand zu beschreiben, in den man ihn versetzt hatte. Am ehesten ließ er sich noch mit einem jener Fieberträume vergleichen, die immer wieder um dasselbe Thema kreisen – etwas, das man sucht und das einem stets von Neuem entwischt; ein Problem, das man lösen muss, und eine Lösung, die man schon in der Hand zu haben glaubt … worauf das Ganze von Neuem beginnt.
In diesem Fall war es eine Erinnerung, der er nachjagte. Es war alles in Ordnung, erstand nicht unter Zwang. Er wäre gern behilflich gewesen, und er versuchte unzählige Male, jenen Zipfel zu fassen, mit dessen Hilfe es oft gelingt, das Vergessene dem Dunkel zu entreißen. Dabei herrschte nicht der geringste Zweifel, dass es in der Vergangenheit tatsächlich das gegeben hatte, was er so verzweifelt suchte. Nein, es war kein Schmerz, der ihm zusetzte, keine körperliche Qual, die den Willen tötete, aber Verzweiflung … ja, dieses Gefühl war beteiligt, und es wirkte so stark, dass es sich durch nichts mehr steigern ließ.
Allmählich wurde er sich der Vergeblichkeit seiner Bemühungen bewusst und begann unter seinem Unvermögen zu leiden. Der psychische Druck steigerte sich ins Unerträgliche – Robin schrie diese Verzweiflung aus sich heraus … Aber es gab keine Möglichkeit, dem gestellten Befehl zu folgen. Ich kann dem Befehl nicht folgen, klagte eine Stimme tief in seinem Inneren. Und es wiederholte sich ständig: Ich kann dem Befehl nicht folgen, beim besten Willen – ich kann es einfach nicht …
Allein in der Eiswüste
Im freien Fall ging es abwärts. Wie von Zauberhand verwischt war das Flugzeug verschwunden, die Sichtweite minimal.
Grauer Nebel um mich herum, nur ein paar Sekunden lang der Eindruck aufwärts strebender Schwaden, und dann öffnete sich die Sicht nach unten – lebenswichtig für mich, eine Blindlandung wäre fatal gewesen. Ich beeilte mich, den Fallschirm zu öffnen – die Oberfläche lag nur noch 150 Meter unter mir.
Schnell kam ich tiefer. So weit ich blicken konnte, Eis, aber glücklicherweise keine aufragenden Spitzen. Unter mir eine flache Mulde, ich versuchte, dort aufzusetzen, und es gelang mir. Die Landung war hart, doch ich ließ mich abrollen, Schlimmeres als ein paar blaue Flecken würde nicht zurückbleiben. Hoffentlich war der Inhalt des Rucksacks heil geblieben.
Der Sturmwind wehte in Böen, dazwischen gab es kurze, nahezu windstille Pausen, und – täuschte ich mich? – darin war das Propellergeräusch noch schwach zu hören: Konnten sich die beiden Piloten vielleicht doch noch samt der Maschine in Sicherheit bringen? Ich aber war froh, dass ich sie los war.
Inzwischen hatte ich mich vom Aufprall erholt, und nun richtete ich mich auf und sah mir die Gegend genauer an, in die ich hineingeschneit war. Die Wolkendecke war nicht allzu dick, es drang genügend Licht hindurch, um ausreichende Sicht zu gewähren. Und dieses Licht würde auch so rasch nicht wieder verschwinden, denn wir hatten Frühling, und da waren die Tage lang und die Nächte hell.
Im Übrigen war ich gut ausgerüstet. Glücklicherweise hatte ich meinen Rucksack mitnehmen können, der alles enthielt, was ein einsamer Wanderer in der Arktis braucht: einen zweiteiligen Thermoanzug, einen Schlafsack, kombiniert mit einer Luftmatratze, eine hochwertige Katalyt-Batterie, einen Sender für Satellitenfunk, Nahrungskonzentrate, quellbare Ballaststoffe in Pulverform, damit die Verdauung etwas zu tun bekommt, dazu ein paar Kleinigkeiten, die aber unter Umständen wichtig sein konnten: einen Taschenscheinwerfer, ein Schweizer Universal-Messer, ein Zeolith-Präparat zur Wasserentsalzung, ein paar Medikamente und so weiter. All diese Dinge unterschieden sich im Prinzip nicht von herkömmlichen Ausrüstungsgegenständen, doch sie waren von der Konstruktion und vom Material her auf minimales Volumen und Gewicht ausgerichtet. Das meiste davon hatte ich schon im Himalaja und in den Anden ausprobiert, und das Gelände in der Nähe des Nordpols erschien mir doch etwas einfacher als die steilen Schroffen der Achttausender.
Alles in allem keine schlechten Voraussetzungen für einen Überlebenskünstler wie mich. Um weiter zu planen, musste ich allerdings zunächst einmal meinen Standort feststellen. Ich zog den Reißverschluss am Ärmel meines Anzugs auf und legte das Display des Ortungssystems frei. Meine Position war als roter Kreis inmitten einer Landschaft angegeben, die nichts anderes zeigte als Eis. Daneben erschien nun eine Schrift: BITTE ZIELADRESSE ANGEBEN. Und dann erschien eine Liste der im Umkreis gelegenen Restaurants – das nächste davon in Grönland.
Was tun? Hier in der Nähe ein Biwak errichten und abwarten, bis sich ein Suchtrupp meiner erbarmt? Das wäre eine Möglichkeit, doch mir fiel etwas Besseres ein: Da waren wir doch erst vor kurzem an jenem spleenigen Hotel im Eissee vorbeigekommen, in dem die Prominenz der internationalen Welt ihre Abenteuerlust auf mühelose Weise ausleben konnte … Ich sah mir die LeoSat-Karte noch einmal an und erweiterte den Ausschnitt in Richtung Südwest … da war auch schon der blau markierte Fleck des Sees. Ich ließ mir die Entfernung ausgeben … Das sah schon besser aus: nicht viel mehr als 50 Kilometer. Da gab es nicht viel zu überlegen. Es war noch früh am Tag, ich konnte meinem Ziel heute noch ein schönes Stück näher kommen. Vielleicht erreichte ich es schon morgen.
Ich warf noch einen Blick auf das Display des LeoSat-Empfängers … hier meine Position, dort der blaue Fleck des Sees … die Richtung, die ich einschlagen musste, war eindeutig vorgegeben. Leider ließ die Darstellung zu wünschen übrig: Nur wenige markante Stellen waren eingezeichnet, Hügel, Wasserrinnen und dergleichen, doch wenn ich mich umblickte, suchte ich vergeblich danach. Aber es war ja bekannt: Die Eisformationen veränderten sich ständig. Hauptsache, die eingezeichnete Position des Eissees stimmte! Und hoffentlich zeigte mein Kompass die Richtung korrekt an – ein Gerät zur Trägheitsnavigation, weil man sich hier nicht auf die magnetischen Kraftlinien verlassen kann.