„Wir haben nicht viele“, sagte Restalaan. „Unser Volk ist sehr langlebig, deshalb haben wir nicht so viele Kinder.“
„Wie langlebig?“, fragte Orgrim.
„Sehr langlebig“, antwortete Restalaan ausweichend. „Es genügt zu sagen, dass ich mich noch an unsere Ankunft hier erinnern kann.“
Orgrim starrte seinen Begleiter ungeniert an. Durotan wollte ihn mit dem Ellbogen anstoßen, aber er war zu weit weg. Ihm wurde auf einmal bewusst, dass das Mädchen, das sie gerade gesehen hatten und das so jung gewirkt hatte, vielleicht gar nicht in seinem Alter war.
In diesem Moment kam der Kundschafter, den Restalaan ausgeschickt hatte, zurück. Er sprach ein paar hastige Worte, und Restalaan schaute zufrieden und wandte sich dann lächelnd den beiden Orcs zu.
„Derjenige, der uns auf diese Welt gebracht hat, unser Prophet Veten, befindet sich für einige Tage hier. Ich habe mir gedacht, er würde euch gern treffen. Wir bekommen nicht oft Besuch.“ Restalaans Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Ich bin sehr stolz darauf, euch verkünden zu können, dass Velen einem Treffen mit euch zugestimmt hat. Er hat euch eingeladen, den Abend mit ihm zu verbringen. Ihr werdet mit ihm essen und im Haus des Meisters schlafen. Das ist eine sehr große Ehre.“
Beide Jungen waren wie vor den Kopf geschlagen. Essen mit dem Propheten, dem Anführer aller Draenei?
Durotan kam es allmählich so vor, als wäre es doch besser gewesen, hätte sie der Knüppel des Ogers erschlagen.
Sie folgten Restalaan, der sie gewundene Treppen hinabführte, dann über Straßen durch die Berge und schließlich zu einem großen Gebäude auf einem Bergrücken. Die Stufen dorthin bestanden aus perfekten Quadraten und schienen sich endlos hinzuziehen. Durotan atmete hastig, während sie die steile Treppe emporstapften. Oben angekommen besah er sich mit großem Interesse die Schneckenhausstruktur, bis Restalaan von ihnen forderte: „Dreht euch um!“
Durotan und Orgrim gehorchten, und Durotan verschlug es die Sprache. Unter ihnen erstrecke sich die Stadt der Draenei und wirkte dabei wie verstreut liegende Juwelen auf einer Wiese. Der Rest des Sonnenlichts tauchte sie in flammende Farben. Dann versank die Sonne hinter dem Horizont, und alles war in Purpur und Grau gebadet. In den Häusern wurden Lichter entzündet und erinnerten Durotan an Sterne, die auf die Erde schienen.
„Ich will nicht angeben, aber ich bin stolz auf mein Volk und unsere Stadt“, sagte Restalaan. „Wir haben hier hart gearbeitet. Wir lieben Draenor. Nun, ich habe nie geglaubt, dass ich diesen erhabenen Anblick einmal mit einem Orc teilen kann. Die Wege des Schicksals sind oft merkwürdig.“
Als er das sagte, schien sich ein alter Schmerz auf seinen starken blauen Gesichtszügen abzuzeichnen. Er schüttelte die Bedrückung ab und lächelte wieder. „Tretet ein, und man wird sich um euch kümmern.“
So still, als wären sie unfähig zu sprechen und ihre jungen Geister allem gegenüber geöffnet, betraten Durotan und Orgrim den Sitz des Magistrats. Man zeigte ihnen prachtvoll eingerichtete Räume, in denen sie jedoch trotzdem das Gefühl hatten, eingesperrt zu sein. Die gebogenen Wände, so einladend sie von innen und außen auch wirken mochten, schienen sie einzuengen. In einem Zimmer standen Schüsseln mit Früchten zum Verzehr, merkwürdige Kleidung lag bereit, die sie tragen sollten, und eine Wanne mit Wasser, so heiß, dass es dampfte, stand in der Mitte des Raums.
„Das Wasser ist zu heiß zum Trinken und zu viel, um Blätter darin ziehen zu lassen“, sagte Durotan.
„Es ist zum Baden“, erklärte der Draenei.
„Baden?“
„Um sich den Schmutz vom Körper zu waschen“, sagte Restalaan.
Orgrim schaute ihn misstrauisch an, aber Restalaan schien es ernst gemeint zu haben.
„Wir baden nicht“, grummelte Orgrim.
„Wir schwimmen im Sommer in den Flüssen“, sagte Durotan. „Das ist vielleicht ähnlich.“
„Ihr müsst nichts tun, was euch unangenehm ist“, entgegnete Restalaan. „Das Bad, das Essen und die Kleidung sind dazu da, damit ihr euch wohl fühlt. Prophet Velen erwartet euch in einer Stunde. Ich werde euch dann holen. Braucht ihr noch etwas?“
Sie schüttelten die Köpfe. Restalaan nickte und schloss die Tür.
Durotan wandte sich Orgrim zu. „Glaubst du, wir sind in Gefahr?“
Orgrim beäugte die merkwürdigen Dinge und das heiße Wasser. „Nein“, meinte er. „Aber... ich fühle mich wie in einer Höhle. Ich wäre lieber in einem Zelt.“
„Ich auch.“ Durotan ging zur Wand und berührte versuchsweise die gekrümmte Oberfläche. Sie fühlte sich kühl und weich an unter seinen Fingern. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie warm und... irgendwie lebendig wäre.
Er drehte sich um und zeigte auf das Wasser. „Willst du es versuchen?“
„Nein“, antwortete Orgrim, und beide Orcs lachten, bespritzten sich dann gegenseitig die Gesichter und empfanden das warme Wasser angenehmer als erwartet. Sie aßen die Früchte, tranken das Wasser und entschieden, dass die bereitliegende Kleidung angemessener war als ihre verschmutzten, verschwitzten Hemden; ihre Hosen aus Leder behielten sie aber an.
Die Zeit verging schneller, als sie gedacht hatten, und sie waren gerade dabei, aus Jux eines der metallenen Beine des Stuhls zu verbiegen, als es leise an der Tür klopfte. Sie sprangen schuldbewusst auf; Orgrim war es gelungen, das Bein ein wenig zu biegen, und es stand daraufhin ein wenig schief.
„Der Prophet ist nun bereit, euch zu empfangen“, sagte Restalaan.
Er ist einer der Ältesten!
Das war das Erste, was Durotan durch den Kopf ging, als er den Prophet Velen sah.
Den anderen Draenei so nah zu sein, war verwirrend genug gewesen, doch Velen zu sehen war noch etwas ganz anderes.
Der Prophet der Draenei war einen halben Kopf größer als der Größte der Stadtwache, aber er wirkte nicht so kräftig. Sein Körper, in weiche, leichte Gewänder gehüllt, war weniger muskulös als ihrer. Und erst seine Haut – sie war von einem warmen alabasternen Farbton.
Seine Augen lagen tief, glühten in einem strahlenden Blau und waren umgeben von scharfen Falten, was auf jemanden hindeutete, der uralt war. Das silberne Haar floss ihm nicht über den Rücken, sondern war schmuckvoll geflochten und ließ seine Haut noch bleicher erscheinen, während sein Bart, der wie eine silberne Welle wirkte, ihm fast bis zur Hüfte reichte.
Kein Ältester, nicht mal ein Ahne... Durotan betrachtete diese intensiven blauen glühenden Augen, deren Blick sich in die Tiefe seiner Seele zu bohren schien. Nein, kein Ältester, sondern fast außerhalb der Zeiten.
Er dachte über Restalaans Bemerkung nach, dass er selbst über zweihundert Sommer alt war. Velen war ein ganzes Stück älter.
„Willkommen“, sagte der Prophet mit sanfter Stimme, während er aufstand und seinen Kopf neigte. Das geflochtene Haar tanzte in der Bewegung. „Ich bin Velen. Und ich bin froh, dass meine Leute heute auf euch trafen. Obwohl ich nicht bezweifle, dass ihr in ein paar Jahren durchaus in der Lage seid, einen Oger oder gar einen Gronn allein zu erlegen.“
Wieder wusste Durotan nicht, ob es sich bei den Worten um ein Kompliment handelte oder nicht. Orgrim erging es wohl nicht anders, denn seine Haltung straffte sich, und er erwiderte den Blick des Draenei.
Velen bedeutete ihnen, sich zu setzen, und sie folgten der Einladung. Durotan fühlte sich linkisch und unbeholfen in den mit Verzierungen versehenen Stühlen, doch als das Essen kam, entspannte er sich. Talbuk-Lende, geröstete Weißfeder, große runde Brote und Teller voller Gemüse – das war Nahrung, die er kannte. Irgendwie hatte er etwas völlig anderes erwartet. Aber warum? Ihre Gebäude und ihre Lebensart mochten unterschiedlich sein, aber wie die Orcs lebten die Draenei von dem, was das Land ihnen gab. Die Zubereitung war ein wenig ungewöhnlich – die Orcs kochten ihr Essen entweder oder brieten es über einer offenen Flamme, wenn sie überhaupt kochten. Hin und wieder aßen sie das Fleisch auch roh, aber im Prinzip war Essen eben Essen, und dieses hier war lecker.