Normalerweise, so erklärte Velen, lebte er an einem schönen Ort, genannt „Tempel von Karabor“. Es gab noch andere Draenei-Städte; die größte davon lag im Norden und hieß Shattrath.
Schließlich war das Mahl beendet. Velen seufzte. Sein Blick ruhte auf den leeren Tellern. Aber Durotan war sicher, dass der Prophet sie nicht sah.
„Ihr müsst mich entschuldigen“, sagte Velen und stand auf. „Es war ein langer Tag; ich muss meditieren, bevor ich schlafen gehe. Es war mir eine Ehre, euch kennengelernt zu haben, Durotan vom Frostwolf-Clan und Orgrim vom Schwarzfels-Clan. Ich hoffe, ihr schlaft gut und tief. Ihr seid sicher innerhalb dieser Mauern, wo niemand von eurem Volk je zuvor war.“
Durotan und Orgrim standen ebenfalls auf und verneigten sich. Velen lächelte mit dem seltsamen Anflug von Leid, das Durotan vorher schon bei dem Anführer der Draenei gesehen hatte.
„Wir werden uns wiedersehen, junge Freunde. Gute Nacht.“
Die beiden Orcs verließen kurz nach ihm den Raum. Sie wurden zu ihren Zimmern gebracht und schliefen tatsächlich tief und fest. Durotan hatte einen Traum von einem alten Orc, der still neben ihm saß, und fragte sich, was das wohl bedeuten konnte.
„Bring ihn her!“, sagte der alte Orc zu Mutter Kashur.
Mutter Kashur war die älteste Schamanin des Frostwolf-Clans. Sie schlief fest. Wegen ihres hohen Rangs war ihr Zelt das Zweitbeste in Sachen Ausstattung, nur knapp hinter dem von Garad, dem Anführer des Clans. Dicke Decken aus Spalthufpelz schützten ihre alten Knochen vor der Kälte des Bodens. Und eine liebende und sorgende Enkeltochter kümmerte sich um ihre Bedürfnisse. Sie kochte und putzte und sorgte dafür, dass an kalten Tagen das Feuer für die Mutter des Clans nicht ausging.
Mutter Kashurs Aufgabe war es, dem Wind, dem Wasser, dem Feuer und dem Gras zuzuhören, und jeden Abend trank sie den bitteren Kräutersaft, der ihren Geist für Besuche der Ahnen offen hielt. Sie sammelte Informationen für ihren Clan, so wie andere Früchte oder Feuerholz sammelten, und diese Gabe nährte sie genauso.
Der alte Orc war nicht anwesend, und doch wusste sie, dass er real war. Er war in ihrem Traum, und das reichte ihr. In ihrem Traumzustand war sie jung und lebendig, ihre rote Haut strahlte vor Gesundheit, und sie wusste, dass ihr Körper geschmeidig war, mit starken Muskeln.
Der alte Orc behielt stets das Alter, in dem er gestorben war. Das Alter, in dem seine Weisheit ihren Höhepunkt erreicht hatte. Im Leben war sein Name Tal’kraa gewesen. Aber sie, obwohl er viele Generationen von ihr entfernt war, nannte ihn nur Großvater.
„Du hast die Nachricht erhalten“, sagte Großvater zu der jungen, blühenden Traum-Kashur.
„Ja, er und der Schwarzfelsjunge sind bei den Draenei“, antwortete sie. „Sie sind in Sicherheit. Das kann ich spüren.“
Großvater Tal’kraa nickte, und seine dicken Hängebacken wippten dabei. Seine Hauer waren gelb vom Alter, und einer war in einem lange vergangenen und vergessenen Kampf abgebrochen. „Ja, sie sind in Sicherheit. Bring ihn her.“
Es war schon das zweite Mal, dass er das forderte, und Kashur war sich nicht sicher, was das bedeutete.
„Er wird in ein paar Monaten in die Berge kommen, wenn die Bäume die Blätter abwerfen, um zu schlafen“, sagte sie. „Dann werde ich ihn zu dir bringen.“
Tal’kraa schüttelte vehement den Kopf, und seine braunen Augen zogen sich ärgerlich zusammen. Kashur unterdrückte ein Grinsen. Von all den Geistern, die sie mit ihrer Gegenwart ehrten, war Großvater der Ungeduldigste.
„Nein, nein“, knurrte Tel kraa. „Bring ihn zu uns. Bring ihn in die Höhlen von Oshu’gun. Ich werde dort auf ihn warten.“
Kashur atmete tief ein. „Du... willst, dass ich ihn zu den Ahnen bringe?“
„Habe ich das nicht gerade gesagt? Törichtes Mädchen! Was ist uns den Schamanen nur geworden?“
Das sagte er regelmäßig, deshalb machte sich Kashur keinerlei Gedanken mehr darum. Dennoch war sie von seinen Worten, seiner Forderung wie gebannt. Manchmal wollten die Ahnen ein Kind sehen. Das geschah unregelmäßig, aber es kam vor. Normalerweise bedeutete es, dass das fragliche Kind für den Weg des Schamanen vorgesehen war. Sie hatte nicht geglaubt, dass das Durotans Weg war. Es geschah nur selten, dass ein Schamane einen Stamm anführte, denn es gab zu vieles, womit er sich beschäftigen musste, um ein guter Anführer zu sein. Gleichzeitig den Geistern lauschen und seinen Clan leiten war mehr, als die meisten Orcs bewältigen konnten. Einer, der beides konnte, war in der Tat sehr selten.
Als Kashur nicht antwortete, knurrte Großvater und schlug mit seinem Stab auf den Boden.
Kashur zuckte zusammen. „Ich bringe ihn an seinem Inititationstag“, versprach sie ihrem Ahnen.
„Du hast es also endlich begriffen!“, grollte Tal’kraa und gestikulierte mit seinem Stab. „Wenn du versagst, werde ich dir meinen Stab auf den Kopf hauen anstatt auf die unschuldige Erde.“ Er konnte ein Lächeln nicht vollständig unterdrücken, als er das sagte.
Kashur lächelte zurück, während ihre Traumgestalt die Augen schloss. Trotz all seines Wütens und der Ungeduld war Tal’kraa weise und gutmütig, und er liebte sie inniglich. Sie wünschte sich, sie hätte ihn zu seinen Lebzeiten kennengelernt. Aber er war schon vor hundert Jahren gestorben.
Kashur schlug die Augen auf, und sie seufzte, als ihr Geist wieder vollständig in ihren richtigen Körper zurückgekehrt war. Sie war so alt wie Tal’kraa, als er gestorben war. Hände und Füße schmerzten vor Rheuma. Der Körper war schwach, das Haar schneeweiß. Sie wusste in ihrem Herzen, dass bald die Zeit kommen würde, da sie diesen Körper, diese Hülle das letzte Mal verlassen würde, um danach mit den Ahnen in dem heiligen Bergen zusammen zu sein. Drek’Thar, ihr Lehrling, würde dann der Ratgeber für Garad und den Rest des Frostwolf-Clans werden. Sie hatte Vertrauen in ihn, und sie freute sich eigentlich auf den Tag, an dem sie sich in pure Energie verwandeln würde.
Allerdings, grübelte sie, als das Sonnenlicht durch die Ritzen des Zelts drang und das Lied der Vögel ihre Ohren liebkoste, ein paar Dinge würde sie schon vermissen, die das Leben ihr schenkte. Einfache Dinge wie Vogelgesang, warmes Essen und die liebevolle Berührung ihrer Enkeltochter.
Bring ihn her!, hatte Großvater gesagt.
Und das würde sie tun.
4
Letzte Nacht, als der Mond voll am Himmel stand und die Sterne leuchteten, wurde ein junger Mann initiiert, in die Erwachsenenwelt aufgenommen. Es war das erste Mal, dass ich bei diesem Ritual dabei war, dem Om’riggor. In meinen früheren Jahren war ich von den Riten und Gebräuchen meines Volkes abgeschnitten. Um die Wahrheit zu sagen: Alle Orcs waren davon für lange Zeit abgeschnitten. Und als ich meinen Fuß auf den Pfad meiner Bestimmung setzte, war ich in Kämpfe verwickelt. Der Krieg vereinnahmte mich völlig. Ironischerweise entfernte mich die Notwendigkeit, mein Volk vor der Brennenden Legion zu retten und ihnen einen Ort zu geben, wo unsere Traditionen wieder blühen konnten, von genau diesen Dingen.
Aber jetzt sind Durotar und Orgrimmar gegründet. Jetzt herrscht Friede, so brüchig er auch sein mag. Jetzt wandeln die Schamanen wieder auf den alten Pfaden. Die jungen Männer und Frauen werden, so die Ahnen es wollen, niemals die Schreckendes Krieges kennenlernen.
Letzte Nacht nahm ich an einem zeitlosen Ritual teil, das einer ganzen Generation verwehrt war.
Letzte Nacht war mein Herz voll Freude und erfüllt vom Sinn für die Gemeinschaft, nach der ich immer gestrebt habe.
Durotans Herz hämmerte in seiner Brust, während er den Talbuk anstarrte. Es war ein riesiges Biest, eine würdige Beute. Seine Hörner dienten nicht zur Zier, sondern waren scharf und gefährlich. Durotan hatte mindestens einen Krieger verbluten sehen, aufgespießt von den zwölf Zinken, als wäre er von mehreren Speeren getroffen worden.