Jede Reise erschöpfte sie mehr als die vorhergehende, andererseits aber spürte Mutter Kashur auch eine Erregung, die ihr half, die Qual und die Müdigkeit zurückzudrängen. Sie hatte bereits viele Kinder, Mädchen wie Jungen, auf diesem abschließenden Teil des Ritus begleitet, aber niemals zuvor war sie gebeten worden, eines zu den Ahnen zu bringen. Sie war nicht zu alt, um neugierig zu sein.
Es waren nur ein paar Stunden für die jungen, aber eine gute Tagesreise für ihre älteren Knochen. Der Abend brach an, und sie waren fast am Ziel. Mutter Kashur schaute auf die vertraute Form des Berges und lächelte. Anders als andere Berge, deren Gestalt vom Zufall geprägt war, bildete die Spitze des Oshu’gun ein perfektes Dreieck. Glitzernd wie Kristall fingen seine Facetten die Sonne ein. Nichts in der Umgebung sah vergleichbar aus. Er war vor langer Zeit vom Himmel gefallen, und die Geister waren davon angezogen worden. Das war der Grund, warum die Orcs in seinem heiligen Schatten siedelten. Welche Zankereien und kleine Differenzen sie im Leben auch gehabt hatten, im Berg waren sie vereint. Sie würde bald dorthin gehen, das wusste sie, aber nicht als humpelnde alte Frau. Dies war ihr letzter Besuch, den sie dem Berg in diesem gealterten Körper abstattete. Beim nächsten Mal würde sie den Oshu’gun als Geist aufsuchen, durch die Luft fliegend wie ein Vogel, ihr Herz leicht und rein und neu.
„Stimmt etwas nicht, Mutter?“, fragte Durotan, und Besorgnis zeichnete sich auf seinem jungen Gesicht ab.
Sie blinzelte, als sie aus ihrer Träumerei zurück in die Wirklichkeit kam, und lächelte ihn an.
„Nein, es ist nichts“, versicherte sie ihm aufrichtig.
Die Schatten hatten bereits das Sonnenlicht verjagt, als sie den Fuß der Berge erreichten. Sie würden in der folgenden Nacht hier schlafen und ihren Aufstieg bei Sonnenaufgang beginnen. Durotan schlief als Erster ein, eingewickelt in das Fell des Talbuks, das er vor nicht allzu langer Zeit selbst erlegt hatte. Mutter Kashur wachte liebevoll über ihn, während er den tiefen Schlaf des Gerechten schlief. Sie selbst würde keine Träume haben, ihr Geist musste klar sein, wenn sie für die Visionen am Morgen bereit sein wollte.
Der Aufstieg war lang, ermüdend und härter als die gesamte Wanderung zum Berg. Kashur war für beides dankbar – für ihren harten Stab und für Durotans helfende Hand. Zudem schienen sich ihre Füße an diesem Tag sicherer zu bewegen, und ihre Lungen atmeten besser als sonst, während sie und ihr junger Begleiter den Berg emporstiegen. Es war, als ob die Ahnen ihr Kraft gaben, indem sie ihren Körper um zusätzlicher Energie versorgten.
Sie rasteten am Eingang zur heiligen Höhle, der ein perfektes Oval in der weichen Oberfläche des Berges darstellte. Durotan versuchte tapfer zu wirken, aber tatsächlich war er sehr nervös. Mutter Kashur schenkte ihm nicht mal ein Lächeln. Er sollte nervös sein. Er stand dicht davor, heiligen Boden zu betreten, auf Geheiß von einem seiner längst verstorbenen Ahnen hin. Auch sie ließ das nicht völlig unberührt.
Sie entzündete ein Grasbündel, das einen süßen, stechenden Geruch von sich gab, und wedelte den Rauch über ihn, um ihn zu reinigen. Dann markierte sie ihn mit dem Blut, das sein Vater extra für diesen Moment hergegeben hatte. Sie hatte es in einem kleinen, sorgsam verschlossenen Lederbeutel aufbewahrt. Dann legte sie ihm die verwitterte Hand auf die Stirn, murmelte ihren Segen und nickte dann.
„Du weißt genau, dass nur wenige, die nicht auf dem Pfad des Schamanen wandeln, vor die Ahnen gerufen werden“, sagte sie feierlich, und Durotan nickte, mit großen braunen Augen. „Ich weiß nicht, was passieren wird. Vielleicht gar nichts. Aber wenn etwas passiert, musst du wissen, dass du dich den Toten gegenüber mit Ehre und Respekt zu verhalten hast.“
Durotan schluckte und nickte erneut. Dann machte er einen tiefen Atemzug und richtete sich auf. In dem noch unfertigen Körper des Jungen erkannte Kashur bereits Hinweise auf den Häuptling, der er einst werden würde.
Sie gingen zusammen hinein. Mutter Kashur schritt voraus, um die Fackeln anzuzünden, die an den Wänden angebracht waren. Das orange Licht zeigte ihnen den nach unten führenden, sich windenden Pfad, der über die Jahre von Orcfüßen ausgetreten war. Hier und dort waren Stufen in den Fels geschlagen, um den Weg sicherer zu machen. Es war immer kühl in dem Tunnel, aber wärmer als draußen, wo der Winter herrschte. Kashur ließ ihre Hände über die Wand streichen, und sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie vor langer Zeit an diesem Ort gewesen war, das Blut ihrer Mutter feucht auf ihrer Stirn, ihre Augen weit, ihr Herz rasend.
Schließlich endete der Pfad. Es gab keine Fackeln mehr an der Wand, und Durotan sah sie verwirrt an.
„Wir brauchen kein Feuer, um vor die Ahnen zu treten“, sagte Kashur. Sie ging weiter und bewegte sich durch die Dunkelheit. Durotan war nicht ängstlich, aber er war schon verwirrt, als sie den Fackelschein hinter sich zurückließen.
Dann war es vollständig dunkel. Kashur griff nach seiner Hand, um ihn zu führen. Seine starken Finger schlangen sich sanft um ihre. Selbst in dieser Situation gibt er acht, sie nicht zu stark zu drücken, wenn er meine Hand berührt, ging es ihr durch den Kopf. Der nächste Frostwolf-Häuptling würde ein mitfühlendes Herz haben.
Sie gingen weiter ohne zu sprechen. Und dann, fast unbemerkt wie die Ankunft des Sonnenaufgangs nach einer langen, dunklen Nacht, entstand langsam Licht um sie herum, in dem Kashur schwach die Umrisse des Jungen neben ihr sehen konnte. Er war so viel jünger als sie und hatte trotzdem schon fast den Körper eines Erwachsenen. Sie beobachtete ihn, als er voranging. Das Wunder der Höhle der Ahnen war ihr vertraut, aber sie war neugierig auf Durotans Reaktion darauf.
Seine Augen weiteten sich, und er sog laut die Luft ein, während er sich umschaute. Das Glühen kam aus einem Becken im Zentrum der Höhle und hüllte alles in weiches weißes Licht. Alles schien sanft zu leuchten, es gab keine scharfen Kanten oder raue Stellen, und Kashur spürte, wie sie das vertraute Gefühl von tiefem Frieden überkam.
Sie ließ Durotan sich still umsehen. Die Höhle war groß, größer als der Tanzbereich beim Kosh’arg-Fest mit der Haupttrommel. Abzweigende Tunnel führten zu Bereichen, die Kashur niemals zu erforschen gewagt hatte. Es musste einfach so groß sein, um die Geister jedes Orcs, der je gelebt hatte, aufnehmen zu können.
Sie ging zum Wasser. Durotan folgte ihr und beobachtete sie genau. Sie schnürte den Packen auf, den sie bei sich getragen hatte, und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun. Sorgfältig öffnete Kashur mehrere Wasserschläuche. Mit einem Gebet goss sie das Wasser in die leuchtende Flüssigkeit.
„Du hast mich nach den Wasserschläuchen gefragt, als wir losgegangen sind“, sagte sie mit ruhiger Stimme zu Durotan. „Das Wasser hier drin entstammt nicht diesem Ort. Vor langer Zeit haben wir begonnen, den Geistern gesegnetes Wasser mitzubringen. Jedes Mal, wenn wir kommen, füllen wir das heilige Becken etwas auf. Doch das Wasser verdunstet nicht, wie es in einer normalen Höhle der Fall wäre. Dies ist die Macht des Berges der Geister.“
Nachdem sie die Wasserschläuche geleert hatte, setzte sie sich mit einem leisen Grunzen hin und starrte in die glühende Tiefe. Durotan machte es ihr nach. Sie wusste, wie sie sitzen musste, um ihr Spiegelbild sehen zu können, und stellte sicher, dass sie beide entsprechend ihren Platz einnahmen. Am Anfang konnte Kashur nur ihr eigenes Gesicht erkennen und das von Durotan. Die Gesichtszüge wirkten geisterhaft, reflektiert in einem weißen Becken statt in einem dunklen.
Dann gesellte sich eine dritte Gestalt hinzu, als wenn sich Großvater Tal’kraa direkt neben ihr befinden würde, sein Spiegelbild so deutlich wie ihres. Ihre Blicke trafen sich, und Kashur lächelte.