Sie wandte den Kopf und bog den Nacken, um zu ihm aufzusehen, während Durotan weiterhin auf das Wasser starrte, als läge dort die Antwort auf all seine Fragen. Kashurs Herz sank ein wenig, aber sofort maßregelte sie sich selbst. Wenn Durotan Tal’kraa nicht sah und nichts von einem Schamanen in ihm schlummerte, dann war es eben so. Sicherlich würde er dennoch ein guter Anführer seines Stammes werden.
„Ich grüße dich, Enkelin“, sagte Tal’kraa, und er sagte es freundlicher als jemals zuvor. „Du hast ihn hergebracht, wie ich es wünschte.“
Während der Großvater schwer auf einen Stab gestützt stand, der so substanzlos war wie er selbst, bewegte sich sein Geist in einem langsamen Kreis um Durotan, während der junge Orc immer noch auf das Wasser starrte. Kashur betrachtete die beiden Frostwolfmänner genau. Durotan fröstelte und schaute sich um; zweifelsfrei wunderte er sich, woher das Frösteln kam. Kashur lächelte innerlich. Er konnte den Geist des Ahnen nicht sehen, aber er spürte Tal’kraas Anwesenheit irgendwie.
„Du kannst ihn nicht sehen“, sagte sie traurig.
Durotan hob den Kopf, und seine Nasenlöcher zitterten. Geschmeidig stand er auf. In dem unheimlichen Licht sahen seine Hauer blau aus, und seine Haut wirkte grünlich. „Nein, Mutter. Das kann ich nicht. Aber... ist ein Ahne anwesend?“
„Ja, ist er“, sagte Kashur. Sie wandte sich an den Geist. „Ich habe ihn zu dir gebracht, wie du wolltest. Was hältst du von ihm?“
Durotan schluckte schwer, blieb aber hoch aufgerichtet stehen, als der Geist ihn gedankenvoll umlief.
„Ich spürte... etwas“, sagte Tal’kraa. „Ich hatte gedacht, er könne ein Schamane werden, aber wenn er mich nicht sehen kann, wird dies niemals der Fall sein. Doch obwohl er keine Geister sehen kann oder die Elemente beschwören, ist er für eine große Bestimmung geboren. Er wird ein bedeutender Gewinn für den Frostwolf-Clan sein, sogar für sein ganzes Volk.“
„Wird er ein... ein Held sein?“, fragte Kashur und schnappte nach Luft. Alle Orcs lebten nach ihrem Kodex von Tapferkeit und Ehre, aber nur wenige waren mächtig genug, dass sich ihr Name ins Gedächtnis der Nachfahren eingrub. Als er ihre Worte vernahm, atmete Durotan heftiger, und sie konnte den Wunsch auf seinem Gesicht erkennen.
„Das kann ich nicht sagen“, antwortete Tal’kraa. „Erziehe ihn gut, Kashur, denn eins ist sicher: Von seiner Familie wird die Erlösung kommen.“
In einer Geste der Zärtlichkeit, die Kashur nie bei ihm erlebt hatte, fuhr Tal’kraa mit seinen nichtstofflichen Fingern über Durotans Gesicht. Durotans Augen weiteten sich, und Kashur konnte sehen, dass er gegen den natürlichen Instinkt zurückzuzucken kämpfte. Aber Durotan behielt sich unter Kontrolle und wich nicht unter der Liebkosung des Geistes zurück.
Dann, wie der Nebel an einem heißen Tag, war Tal’kraa verschwunden. Kashur war ein wenig irritiert; stets vergaß sie, wie sich die Energien der Geister näherten und wieder entschwanden.
„Mutter, bist du in Ordnung?“ fragte Durotan.
Sie nickte. Seine größte Sorge galt ihr, nicht dem, was sein Ahne vielleicht gesagt haben mochte. Sie entschied sich, Durotan nichts davon zu erzählen. Zwar war er besonnen und großherzig, aber eine solche Prophezeiung konnte selbst das treueste orcische Herz korrumpieren.
Von seiner Familie wird die Erlösung kommen.
„Mir geht es gut“, versicherte sie ihm. „Aber ich bin nicht mehr jung, und die Energie der Geister ist stark.“
„Ich wünschte, ich hätte ihn sehen können“, sagte Durotan ein wenig wehmütig. „Aber... aber ich weiß, dass ich ihn gefühlt habe.“
„Das hast du, und das ist mehr, als wozu die meisten fähig sind“, sagte Kashur.
„Mutter... verrätst du mir, was er gesagt hat? Ob ich... ob ich ein Held werde oder nicht?“
Er versuchte ruhig zu bleiben und reif zu wirken. Aber ein wenig Verlangen schwang schon in seinen Worten mit. Sie zürnte ihm deswegen nicht. Jeder wollte in glorreicher Erinnerung weiterleben, wollte, dass Sagen seine Geschichte erzählten. Er wäre kein Orc gewesen, wenn er nicht dieses Verlangen geteilt hätte.
„Großvater Tal’kraa sagte, dass er unsicher ist“, sagte sie schroff. Er nickte und verbarg seine Enttäuschung. Eigentlich wollte sie mehr nicht sagen, aber etwas trieb sie dazu, hinzuzufügen: „Du hast eine Bestimmung zu erfüllen, Durotan, Sohn des Garad. Also verhalte dich im Kampf nicht wie ein Narr, damit du nicht stirbst, bevor du diese Bestimmung erfüllen kannst.“
Er lachte. „Ein Narr dient seinem Clan nicht gut, und das Gegenteil will ich tun.“
„Dann, zukünftiger Häuptling“, sagte Kashur amüsiert, „ist das Beste, was du tun kannst, eine Gefährtin zu finden.“
Und sie lachte zum ersten Mal laut während ihrer gemeinsamen Reise. Durotan wirkte völlig erschüttert darüber.
5
Im Nachhinein, wie mir Drek’Thar erzählte, war diese Zeit in der Geschichte unseres Volkes wie ein perfekter Tag im Frühsommer. Wir Orcs hatten alles, was wir brauchten: eine herrliche Welt, die Ahnen, die uns leiteten, und die Elemente, die uns halfen. Es gab genug zu Essen, unsere Feinde waren grimmig, aber nicht unbesiegbar, und wir waren alle gesegnet. Die Draenei waren zwar keine direkten Verbündeten, aber auch nicht unsere Feinde. Sie teilten ihr Wissen und ihre Beute, wann immer sie danach gefragt wurden. Wir, die Orcs, waren es, die zurückhaltend waren. Und wir, die Orcs, waren es, die unwissentlich verderbt wurden, um jemand anderem zu dienen.
Hass ist machtvoll. Hass kann ewig sein. Hass kann ein Wesen von Grund auf verändern.
Und Hass kann willentlich erzeugt werden.
Kil’jaeden lebte in der Dunkelheit, alterslos, zeitlos. Die Macht brandete und pulsierte durch ihn, nährte ihn besser als Blut, war gehaltvoller als Fleisch oder Trank, erhitzte und beruhigte ihn gleichermaßen. Er war nicht allmächtig, noch nicht, sonst wären ganze Welten kraft eines Gedankes von ihm gefallen statt durch aufwendigen Kampf und Zerstörung. Aber alles in allem war er zufrieden.
Und dennoch lebten sie noch, die Exilanten. Kil’jaeden konnte sie durch die Jahrhunderte spüren, doch Velen und der Rest der Narren blieben versteckt. Zu feige, sich ihm und Archimonde entgegenzustellen, der als sein Freund und Verbündeter auch nach dieser... Veränderung mit ihm zusammengearbeitet hatte, so wie zu der Zeit, als sie noch einfache Wesen waren.
Er, Archimonde und die anderen dachten von sich selbst nicht mehr als „Eredar“. Velen nannte sie „Man’ari“, aber sie selbst nannten sich die Brennende Legion. Sargeras’ Armee. Die Auserwählten.
Er streckte seine rote Hand mit den langen biegsamen Fingern und den Krallen in das Nichts aus, das alles war, und fühlte, wie sich etwas darin tat. Kundschafter waren in der Sekunde losgeschickt worden, als der Feind entkommen war. Kundschafter, die nichts als Versagen meldeten. Archimonde wollte sie wegen dieses Versagens töten, aber Kil’jaeden entschied sich anders. Die, die sich fürchteten, würden fliehen, so nahm er an. Die, die eine Belohnung erwarteten und die Anerkennung ihres Herrn, gierten regelrecht danach. Deshalb gab Kil’jaeden denen, die versagt hatten, ein zweite Chance. Oder eine dritte, wenn er ihnen glaubte, dass sie ihr Bestes gaben und nicht einfach auf seinen guten Willen hofften.
Archimonde war anderer Meinung.
„Es gibt ein Menge Welten, die wir für unseren Herrn Sargeras erobern und unterwerfen können“, sagte er. Die Schwärze glühte um sie herum, als seine Stimme sie durchdrang. „Lass den Narren gehen. Wir würden es spüren, wenn er seine Talente irgendwo eingesetzt hätte, dass eine Bedrohung für uns entstünde. Lass ihn auf irgendeiner Welt verrotten, allem beraubt, was ihm wichtig war.“
Kil’jaeden wandte langsam seinen massigen Kopf und sah den anderen Dämonenlord an.
„Es geht nicht darum, ob er machtlos ist oder nicht“, zischte Kil’jaeden. „Ich will ihn vernichten und alle die, die ihm gefolgt sind. Ihn vernichten wegen seiner mangelnden Loyalität. Für seine Sturköpfigkeit. Für seine Weigerung, das zu akzeptieren, was für uns alle das Beste wäre.“