Die große Klauenhand ballte sich zur Faust, und die scharfen Krallen drangen in die Handfläche. Flüssiges Feuer drang daraus hervor, erkaltete in der kühlen Luft und formte einen dicken Wulst, der wie eine Narbe aussah. Kil’jaedens Körper war mit vielen solcher Beulen übersäht, auf die er stolz war.
Archimonde war machtvoll, elegant, glatt, intelligent. Aber ihm fehlte die brennende Begierde zu vernichten, die Kil’jaeden antrieb. Kil’jaeden hatte es ihm häufig genug erklärt, doch nun seufzte er einfach nur und entschied sich, das Thema nicht weiter zu erörtern. Seit Jahrhunderten stritten sie sich schon darüber; wahrscheinlich würden sie es auch weitere Jahrhunderte lang tun. Oder bis Kil’jaeden es schaffte, das Wesen zu vernichten, das einst sein bester Freund gewesen war.
Vielleicht lag es daran, dachte Kil’jaeden in einer plötzlichen Eingebung. Archimonde hatte niemals etwas an Velen gelegen. Kil’jaeden hingegen hatte ihn geliebt wie einen Bruder, sogar noch mehr, fast wie einen Teil seiner selbst.
Und dann...
Wieder verkrampften sich die großen Hände, und wieder strömte Feuer daraus hervor.
Nein.
Es war nicht genug, wenn er sich vorstellte, wie Velen auf einer Hinterwäldlerwelt hockte, in einer Höhle, seinen verletzten Stolz pflegend und davon lebend, was das Land ihm bot. Kil’jaeden sagte oft, dass es ihm nach seinem Blut gelüstete. Aber Blut, so machtvoll das seiner eigenen Art auch war, würde ihn nicht mehr befriedigen. Er wollte den ehemaligen Bruder vollständig demütigen und brechen, bevor er ihn auslöschte. Das wäre süßer als der kupferne Geschmack des Lebens, wenn es aus Velen und seinen dummen Gefolgsleuten strömte.
Archimonde schüttelte seine Hand, eine Geste, die Kil’jaeden kannte: Einer seiner eigenen Diener sprach zu ihm. Archimonde hatte seine eigenen Möglichkeiten, die so wie die Kil’jaedens einzig und allein dazu dienten, ihren dunklen Herrn bei seinem ultimativen Feldzug zu unterstützen. Ohne ein Wort zu sagen richtete sich Archimonde auf und ging. Trotz seiner Größe waren seine Bewegungen weich und geschmeidig.
Im selben Moment fühlte Kil’jaeden ein leichtes Kratzen in seinem Kopf. Er erkannte es sofort. Es war Talgath, immer noch seine rechte Hand, der um Kontakt ersuchte. Und das Gefühl, das von seinen Gedanken aufstieg, war das der vorsichtigen Hoffnung.
Was gibt es, mein Freund? Sprich!, forderte Kil’jaeden in seinem Geist.
Mein großer Herr, ich möchte Euch keine falschen Versprechungen milchen, aber... ich habe sie vielleicht gefunden.
Milde Freude stieg in Kil’jaeden auf. Talgath war der Vorsichtigste seiner Untergebenen. Nur ein wenig niedriger im Rang als Kil’jaeden selbst hatte er seine Loyalität über die Jahrhunderte bewiesen. Er würde so etwas nicht ohne guten Grund behaupten.
Wo? Und wie hast du sie aufgestöbert?
Es ist eine kleine Welt, primitiv und unwichtig. Und ich habe die spezielle Aura ihrer Magie gespürt, die ihre Umgebung durchzieht. Es ist möglich, dass sie da waren und schon wieder weg sind. Das ist vorher schon passiert.
Kil’jaeden nickte, obwohl Talgath die Geste nicht sehen konnte. Ein paar Eigenheiten aus der Vergangenheit hatte er behalten, dachte er, und lächelte ein wenig über die alte Geste, die Zustimmung bei so ziemlich jeder Spezies, der er begegnet war, ausdrückte.
Du sprichst wahr, stimmte er zu. Viele Male zuvor waren Kil’jaedens Streitkräfte auf eine Welt gestoßen, angezogen durch die süße Essenz der Magie, nur um festzustellen, dass Velen und seine erbärmlichen Gefolgsleute ihre Annäherung gespürt hatten und auf und davon waren. Aber ich bleibe hoffnungsvoll. Ich werde sie finden und sie für meine Zwecke benutzen, und ich habe eine Ewigkeit Zeit dafür.
Ein Gedanke kam ihm. So oft schon war Kil’jaeden auf eine Welt gekommen, auf der Velen hatte sein sollen, nur um festzustellen, dass er bereits geflohen war. Kil’jaeden hatte seinen verletzten Stolz dadurch kompensiert, dass er diese Welten zerstörte. Aber das Abschlachten der primitiven Rassen, obwohl angenehm, stillte nicht seinen dämonischen Durst nach der vollständigen und kompletten Rache.
Diesmal würde er etwas anderes machen. Er würde nicht Talgath an der Spitze der Brennenden Legion dorthin schicken. Velen war der Stärkste von ihnen gewesen, der Weiseste und in Magie und Wissenschaften am versiertesten. Kil’jaeden konnte nicht glauben, dass sein alter Freund in seiner Wachsamkeit nachgelassen hatte. Nicht nach einer solch kurzen Zeit. Velen würde permanent in einer Art Alarmzustand sein, bereit zur Flucht, sobald eine Gefahr zu erkennen war.
Aber... was, wenn sich diese Gefahr nicht so leicht erkennen ließ?
Talgath... Ich möchte, dass du diese Welt für mich erforschst.
Mein Herr? Talgaths mentale Stimme war weich und klang ausgeglichen, aber zugleich auch verwirrt.
Wir haben schon so viele Welten heimgesucht – ohne Erfolg. Dieses Mal werde ich nur einen schicken. Aber einen, dem man vertrauen kann.
Kil’jaeden spürte, wie Unbehagen und Stolz in Talgaths Gedanken gegeneinander rangen.
Es gibt andere Möglichkeiten, einen Feind zu bezwingen, als ihn mit einer Armee anzugreifen. Manchmal sind diese Wege besser.
Ihr... ihr wünscht, dass ich einen besseren Weg finde?
Genau. Suche diesen Ort allein auf. Bringe alles über ihn in Erfahrung. Sag mir, ob die Exilanten dort sind, und wenn es so ist, wie sie sich eingerichtet haben, wie sie leben, ob sie inzwischen fett und gesetzt wie gezähmte Rinder sind oder schlank und agil wie Beutetiere. Erzähl mir, wie ihre Welt ist, welche anderen Völker dort leben, welche Tiere, welche Jahreszeiten es gibt. Erforsche, Talgath. Tu nichts ohne ausdrückliche Anweisung von mir.
Jawohl, mein Herr, ich werde sofort entsprechende Vorbereitungen treffen. Er war immer noch verwirrt, aber loyal und klug hatte Talgath dem Man’ari-Meister in der Vergangenheit gut gedient, und das würde er auch diesmal tun.
Kil’jaedens Gesicht, von dem wenig übrig geblieben war, seit er seinen Handel mit dem großen Lord Sargeras eingegangen war, war immer noch in der Lage, so etwas wie ein Lächeln zu imitieren.
Wie alle Orcs begann Durotan im Alter von sechs Jahren mit dem Waffentraining. Sein Körper war bereits groß, und der Gebrauch von Waffen fiel seinem Volk leicht. Mit zwölf ging er mit auf die Jagd. Und nachdem er den Erwachsenenritus bestanden hatte, nahm er auch an der Jagd nach Ogern und ihren ekelerregenden verrückten Meistern, den Gronn, teil.
In diesem Jahr, als das Herbst-Kosh’harg kam, begleitete er die Erwachsenen in den Kreis, nachdem die Kinder zum Schlafen geschickt worden waren. Und wie er und Orgrim schon Jahre zuvor erfahren hatten, war das Erwachsenensein und die Teilnahme am Lagerfeuerkreis nicht sehr interessant.
Obwohl er es schon recht spannend fand, mit denjenigen zu reden, deren Namen er zwar seit Jahren kannte, die aber wegen seiner Jugend nie mit ihm gesprochen hatten. Mutter Kashur war von seinem eigenen Clan. Er wusste, dass sie ein hohes Ansehen unter den Schamanen der anderen Clans genoss, und er war stolz auf sie. Am ersten Abend sah er sie zusammengekauert am Feuer und in ein gewobenes Tuch gewickelt. Sie war wenig mehr als Haut und Knochen. Er wusste, ohne zu ahnen woher, dass dieses ihre letzte Kosh’harg-Feier sein würde. Und dieser Gedanke machte ihn trauriger, als er gedacht hätte.
Neben ihr, jünger als sie, aber noch älter als Durotans Eltern, saß Kashurs Lehrling Drek’Thar. Durotan hatte bisher nicht viel mit Drek’Thar gesprochen, aber des älteren Orcs scharfe Zunge und sein scharfer Blick verdienten Respekt. Durotans braune Augen suchten weiter die Versammlung ab. Morgen würden die Schamanen weg sein, zu ihrem Treffen mit den Ahnen in der Höhle im heiligen Berg. Durotan fröstelte, als er an seinen Besuch dort dachte und an den kalten Luftzug, den er verspürt hatte und der weitaus mehr gewesen war.