Gegenüber saß Grom Hellschrei, der junge und leicht verrückte Häuptling des Kriegshymnen-Clans. Nur ein paar Jahre älter als Durotan und Orgrim, war er neu in seiner Position. Es gab Gerede über die merkwürdigen Umstände, unter denen der vorherige Häuptling gestorben war. Aber der Kriegshymnen-Clan bestritt Groms Führungsanspruch nicht. Durotan wunderte es nicht. Obwohl noch jung, war Grom bereits ein einschüchternder Bursche. Der tanzende, flackernde Feuerschein ließ ihn nur noch verrückter erscheinen. Dickes schwarzes Haar floss über seinen Rücken. Nach seinem Aufstieg zum Häuptling war Groms Gebiss schwarz tätowiert worden. Um seinen Hals hing eine Kette aus Knochen. Durotan wusste, was das bedeutete: Unter den Mitgliedern des Kriegshymnen-Clans war es Tradition, dass ein junger Krieger die Knochen seines ersten selbst erlegten Wilds trug, verziert mit seinen eigenen Runen.
Neben Grom saß gewaltig und imposant Schwarzfaust vom Schwarzfels-Clan. Neben Schwarzfaust, still kauend, hockte der Häuptling vom Clan der Zerschmetterten Hand, Kargath Messerfaust. An Stelle der Hand hatte er ein Sensenblatt im Handgelenk, und selbst als Erwachsenem war es Durotan unangenehm zu sehen, wie die Klinge im Feuerschein glänzte. Daneben hockte Kilrogg Totauge, Häuptling des Clans des Blutenden Auges. Ein Auge glitt über die versammelte Gesellschaft, das andere saß verschrumpelt und tot in seiner Höhle. Während Grom recht jung war für einen Häuptling, war Kilrogg fast zu alt. Aber – das war Durotan klar – trotz seines Alters und seines zottigen Aussehens hatte Kilrogg sein Ende seiner Stammesherrschaft noch lange nicht erreicht, und das traf sowohl für sein Leben als auch für die Führerschaft seines Clans zu.
Unbehaglich richtete Durotan seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes.
Zu Drek’Thars Linken lehnte der berühmte Ner’zhul vom Schattenmond-Clan. Solange Durotan sich erinnern konnte, hatte Ner’zhul die Schamanen angeführt. Einmal, als Durotan an einer Jagd hatte teilnehmen dürfen, war Ner’zhul dabei gewesen, und Durotan hatte dabei die Meisterschaft des Schamanen in seiner Kunst erlebt. Während andere sich grunzend abmühten, die Elemente zu beschwören und sie kraftvoll, aber ohne Eleganz leiteten, war Ner’zhul ganz ruhig geblieben, doch die Erde bebte, wenn er es ihr gebot, Blitze stießen aus dem Himmel, um dort einzuschlagen, wo er es befahl. Feuer, Luft, Wasser, Erde und der Geist der Wildnis nannten ihn alle Begleiter und Freunde. Durotan hatte nicht erlebt, wie Ner’zhul mit den Ahnen sprach, natürlich sah das nie jemand anderes als nur ein Schamane selbst, aber es war Durotan klar, dass, wenn die Ahnen ihn nicht begünstigt hätten, er niemals mit derartiger Leichtigkeit seine Macht hätte ausüben können.
Ner’zhuls Schüler dagegen mochte Durotan nicht.
Orgrim saß neben seinem Freund, und als er sah, wohin Durotans Blick führte, beugte er sich herüber und flüsterte: „Ich glaube, Gul’dan würde seinem Volk besser dienen, würde man ihn als Köder aussetzen.“
Durotan schaute weg, damit niemand sein Grinsen sah. Er wusste nicht, wie erfahren Gul’dan bereits als Schamane war, doch sicherlich musste er einige Fähigkeiten haben, sonst hätte Ner’zhul ihn sicher nicht als Schüler akzeptiert. Aber er war kein sonderlich einnehmender Orc. Kleiner als viele, weicher als die meisten, mit einem kurzen buschigen Bart, stellte er nicht gerade das Sinnbild für einen Orc-Krieger dar. Aber Durotan vermutete, dass man nicht unbedingt ein Held sein musste, um seinen Teil beizutragen.
„Sieh dir die an, das ist die geborene Kriegerin!“
Durotan schaute in die Richtung, in die Orgrim wies, und seine Augen weiteten sich. Orgrim hatte die Wahrheit gesagt. Groß und hoch aufgerichtet saß sie da, und ihre Muskeln wogten unter der weichen braunen Haut im Feuerschein, als sie nach vorn griff und ein Stück Fleisch aus dem gebratenen Talbuk riss. Das Mädchen erschien Durotan wie die Idealisierung aller orcischen Werte. Sie bewegte sich mit der wilden Anmut eines schwarzen Wolfs, und ihre Hauer waren klein, aber ungemein scharf. Ihr Haar hatte sie zurückgekämmt und zu einem praktischen, aber attraktiven Zopf geflochten.
„Wer... wer ist sie?“, murmelte Durotan. Sicherlich war diese tolle Frau das Mitglied eines anderen Clans. Er hätte sie wiedererkannt, hätte solch eine Schönheit, stark, geschmeidig, anmutsvoll, zu seinem eigenen Clan gehört.
Orgrim lachte laut und schlug Durotan auf die Schulter. Das Geräusch und die Geste brachten viele dazu, sich zu ihnen umzudrehen, einschließlich – wie Durotan bemerkte – des lieblichen Mädchens. Orgrim beugte sich vor, um Durotan zuzuflüstern: „Du unachtsamer Hund. Sie ist eine Frostwölfin. Ich hätte sie für mich selbst beansprucht, wäre sie von meinem Clan.“
Eine Frostwölfin? Wie, in aller Welt, hatte Durotan solch einen Schatz in seinem eigenen Clan übersehen können? Er wandte seinen Blick von Orgrims grinsendem Gesicht und schaute sie wieder an. Und sie schaute zurück. Ihre Blicke trafen sich.
„Draka!“
Das Mädchen stand auf und ging davon. Durotan blinzelte, als müsste er zu sich selbst finden.
„Draka“, sagte er ruhig. Kein Wunder, dass er sie nicht erkannt hatte. „Nein, Orgrim. Sie wurde nicht als Kriegerin geboren. Sie wurde zur Kriegerin gemacht.“
Draka war krank, als sie geboren wurde. Ihre Haut war von blassem Beige statt von dem gesunden Borkenbraun, das die meisten Orcs kennzeichnete. Die meiste Zeit ihrer Kindheit, daran erinnerte sich Durotan, sprachen die Erwachsenen von ihr in leisem Flüsterton, als wenn jemand bereits auf dem Weg zu den Ahnen war. Ihre Eltern fragten sich, was die Familie nur getan hatte, dass die Geister sie mit diesem gebrechlichen Kind straften.
Kurz danach war Drakas Familie in die Außenbereiche des Lagers gezogen. Er hatte sie nicht mehr oft gesehen, beschäftigt wie er mit seinen eigenen Aufgaben gewesen war.
Draka hatte mehrere Stücke Fleisch aufgespießt und brachte sie zu ihrer Familie. Durotan bemerkte zwei Kinder, die mit jenen Orcs zusammen saßen, die vermutlich ihre Eltern waren. Beide sahen kräftig und gesund aus. Seinen Blick auf sich spürend, drehte Draka den Kopf und schaute ihn direkt an. Ihre Nüstern bebten, und sie setzte sich gerader hin, damit Durotan sie nicht mit Mitleid und Mitgefühl ansah, sondern mit Bewunderung und Respekt.
Nein, sie brauchte kein Mitleid. Durch die Gnade der Geister, die Heilkraft der Schamanen und die Macht des Willens, den er in ihren braunen Augen brennen sah, hatte sie die Zerbrechlichkeit ihrer Kindheit abgelegt, um sich in diese... Vision weiblicher orcischer Perfektion zu verwandeln.
Sein Atem entfuhr ihm schnaubend, als Orgrim ihm seinen Ellenbogen in die Seite stieß. Durotan sah seinen Freund an.
„Mach den Mund zu, oder ich stopf dir was rein“, grummelte Orgrim.
Durotan begriff, dass er tatsächlich mit offenem Mund gestarrt hatte. Er konzentrierte sich wieder auf das Fest. Und schaute für den Rest der Nacht nicht mehr zu Draka.
Aber er träumte von ihr. Und als er erwachte, wusste er, dass sie es sein sollte. Er war der Erbe des Häuptlings von einem der stolzesten Clans.
Welche Frau konnte ihm da widerstehen?
„Nein“, sagte Draka.
Durotan stand da wie erstarrt. Er war am nächsten Morgen zu ihr gegangen und hatte sie zur Jagd für den nächsten Tag eingeladen. Allein. Beide wussten, was das bedeutete: Mann und Frau, die als Paar jagten – das war ein Werberitual. Und sie hatte ihn zurückgewiesen.
Es kam so unerwartet, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte. Sie sah ihn fast geringschätzig an, und die Lippen um ihre perfekten Hauer verzogen sich zu einem selbstgefälligen Grinsen.
„Warum nicht?“, fragte Durotan.
„Ich bin noch nicht im richtigen Alter“, antwortete sie. So wie sie das sagte, klang es eher nach einer Ausrede als einem echten Grund.