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Talgath hatte ihm gut gedient. Er hatte die so genannten „Städte“ des einst mächtigen Velen und seiner kleinen Schar beobachtet. Er hatte gesehen, wie sie lebten, jagten, wie sie diese Kreaturen, die sich selbst „Orcs“ nannten, mit Wohlwollen behandelten. Es war einfach lachhaft. Talgath hatte einige Reste alten Ruhmes in ihren Gebäuden und in ihrer simplen Technologie wiedergefunden. Aber Talgath war sicher, dass Kil’jaeden erfreut sein würde, wie tief sein ehemaliger Freund gefallen war.

„Draenei“ nannten sie sich nun, die Verbannten. Und ihre Welt hatten sie Draenor genannt.

Talgath wunderte sich darüber, warum sich Kil’jaeden nicht auf Velen konzentrierte, sondern stattdessen mehr über die Orcs wissen wollte. Wie waren sie organisiert? Was für Sitten und Gebräuche hatten sie? Wer waren ihre Anführer und wie wurden die ausgewählt? Was war ihnen als Gemeinschaft wichtig, was als Einzelwesen?

Aber Talgaths Aufgabe bestand darin zu berichten, nicht zu bewerten. Und er berichtete seinem Meister, so gut er konnte. Als Kil’jaeden schließlich über alles informiert war, was Talgath herausgefunden hatte, bis hin zu den Namen der beiden Kreaturen, die sich nach ihrem gemeinsamen Töten gepaart hatten, war er zufrieden. Zumindest für den Moment.

Auf lange Sicht würde er seine Rache bekommen. Velen und seine Emporkömmlinge würden bestraft werden. Aber nicht schnell, nicht mit einer Armee von überlegenen Eredar, die sie in Stücke reißen würde. Das wäre zu gnadenvoll. Kil’jaeden wollte sie brechen. Demütigen. Sie zerstören. Und zwar so absolut und vollständig, wie ein Insekt unter einem Stiefel zerquetscht wurde.

Und er wusste genau, was er dazu tun musste.

6

Die Lektionen aus dieser Zeit waren bitter und wurden allesamt mit Mut und Tränen erkauft. Aber ironischerweise sollte uns das, was uns beinahe zerstörte, später erlösen: das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Jeder Clan war nur sich selbst verpflichtet, kümmerte sich allein um seine Mitglieder, nicht um die aus anderen Gruppen. Warum wir uns später vereinigen sollten und wogegen, war völlig falsch. Dafür büßen wir heute noch. Selbst Generationen nach mir werden für diese Fehler zahlen. Aber die Einigkeit selbst war herrlich. Und diese Lektion will ich aus der Asche gewinnen. Diese Lektion brachte mich auf die Idee, mich mit den Anführern so scheinbar unterschiedlicher Völker zu treffen, mich mit ihnen zusammenzutun, um so Ziele zu verfolgen, auf deren Erreichen wir letztendlich stolz sein können. Einheit. Harmonie. Das ist die gute Lektion aus der Vergangenheit. Ich habe sie gelernt.

Ner’zhul schaute zufrieden in den dämmrigen Himmel. Der Sonnenuntergang dieses Tages war wundervoll. Die Ahnen müssen zufrieden sein, dachte er und war ein kleines bisschen stolz darauf.

Ein weiteres Kosh’harg-Fest war gekommen und gegangen. Jedes Mal, wenn das Fest stattfand, passierte etwas Erfreuliches und etwas, das betrauert werden musste.

Seine alte Freundin Kashur, die, wie er wusste, von ihrem Clan liebevoll „Mutter“ genannt worden war, war zu den Ahnen gegangen. Wie er gehört hatte, war sie tapfer gestorben. Sie hatte darauf bestanden, an einer Jagd teilzunehmen, was sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Die Frostwölfe hatten Spalthufe gejagt, und die alte Mutter war bei der Vorhut der angreifenden Krieger gewesen. Sie war zu Tode getrampelt worden, bevor irgendjemand sie hatte retten können. Obwohl ihr Clan um sie trauerte, feierten sie ihr Leben und ihre Wahl, sich davon zu verabschieden. Er fragte sich, ob er sie in seinen Träumen sehen würde, und schalt sich dann für diesen Gedanken. Er würde sie erst dann sehen, wenn sie es für richtig hielt. Für die Schamanen war der Tod keine Wüste des Leids wie für normale Orcs. Sie genossen das Privileg, in der Gegenwart der geliebten Toten weiterzuleben, von ihrer Weisheit zu lernen und ihre Wärme zu spüren.

Die Frostwölfe hatten eine weitere Tragödie zu betrauern. Denn ihr Anführer Garad war ebenfalls gestorben. Seine Jagdgruppe hatte das große Pech gehabt, an einem schönen sonnigen Tag auf gleich drei Oger und einen ihrer monströsen Meister zu stoßen. Diese scheußlichen Kreaturen waren zwar dumm, aber wild, und zumindest war der Gronn ein gerissener Gegner. Die Orcs hatten sie schließlich besiegt, aber es hatte Tote gegeben. Garad und einige andere erlagen ihren Wunden an diesem schwarzen Tag. Die Heiler konnten ihnen nicht mehr helfen.

Aber in der Trauer einen Anführer zu verlieren, einen, den Ner’zhul gekannt und respektiert hatte, lag gleichzeitig die Freude, frisches Blut kommen zu sehen. Kashur wusste nur Gutes über den jungen Durotan zu berichten. So wie Ner’zhul es sah, würde er einen guten Anführer abgeben. Bei Durotans Ernennung zum Häuptling war ihm eine attraktive und sehr tapfer wirkende junge Frau aufgefallen, die der Feier mit Interesse zugeschaut hatte. Ner’zhul war sich sicher, dass die liebliche Draka bereits beim nächsten Kosh’harg-Fest die Frau des neuen Häuptlings des Frostwolf-Clans sein würde.

Er seufzte, ordnete die Bilder in seinem Kopf, während sich seine Augen an dem herrlichen Sonnenuntergang erfreuten. Die Jahre kamen und gingen, spendeten Segen und nahmen Opfer.

Er ging zu seiner kleinen Hütte, die er einst mit seiner Frau geteilt hatte. Rulkan war bereits vor einigen Jahren gestorben. Von Zeit zu Zeit besuchte sie ihn, verkündete zwar keine Weisheiten der Ahnen, aber erfüllte sein Herz mit Zärtlichkeit. Und jedes Mal, wenn ihr Geist den seinen berührte, wurden ihm die Bedürfnisse seines Volkes wieder bewusst. Er vermisste ihr raues Lachen und ihre Wärme, aber er war trotzdem zufrieden. Vielleicht, überlegte er, würde Rulkan ihm in der kommenden Nacht im Traum erscheinen.

Er bereitete einen Trank vor, sang leise, dann trank er ihn langsam. Das Gebräu würde keine Vision hervorrufen. Nichts vermochte das, solange die Ahnen es nicht wollten. Manchmal hatte er Visionen, wenn er sie am wenigsten erwartete. Aber über lange Jahre hatte der Schamane gelernt, dass einige Kräuter den Geist öffneten, während er schlief. Und sie halfen dabei, sich am nächsten Tag umso klarer daran zu erinnern.

Ner’zhul schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder, obwohl er wusste, dass er eingeschlafen war.

Sie standen auf einer Bergspitze, er und seine geliebte Rulkan. Zuerst dachte er, dass sie gemeinsam den Sonnenuntergang beobachten würden. Dann erkannte er, dass die Sonne auf-, nicht unterging. Der Himmel war herrlich, aber in einer Art, die ihn aufwühlte, statt zu beruhigen oder Trost zu spenden. Alles war rot, lila und orange, fast schon violett, und Ner’zhuls Herz pochte.

Rulkan schaute ihn an, lächelte. Und zum ersten Mal, seit sie den letzten Atem ausgehaucht hatte, sprach sie zu ihm.

„Ner’zhul, mein Mann, dies ist ein neuer Anfang.“

Er schnappte nach Luft, überwältigt von der Liebe zu ihr. Die Farben des Sonnenaufgangs wühlten ihn auf. Ein neuer Anfang?

„Du hast unser Volk gut geführt“, sagte sie. „Aber es ist die Zeit gekommen, um die alten Wege zu verändern und unser Volk weiterzubringen. Und das zum Besten aller.“

Ein Gedanken blitzte in ihm auf. Rulkan war weder Schamanin noch Häuptling gewesen. Sie war immer sie selbst. Ner’zhul hatte das stets gereicht, aber sie hatte keine wichtige Position innegehabt, die sie zu einer solchen Aussage legitimiert hätte. Verärgert über sein fehlendes Vertrauen in die Mächte des Schicksals schob Ner’zhul diesen Gedanken beiseite. Er war kein Geist. Er bestand nur aus Fleisch und Blut, obwohl er die Wege der Ahnen besser verstand als die meisten. Aber er wusste auch, dass es vieles gab, das er niemals verstehen würde. Warum sollte Rulkan nicht für die Ahnen sprechen?

„Ich höre“, sagte er.

Sie lächelte. „Den Orcs stehen dunkle und gefährliche Zeiten bevor. Bislang sind wir immer nur zu den Kosh’harg-Festen zusammengekommen. Diese Isolation muss aufhören, wenn wir als Volk überleben wollen.“

Rulkan schaute in den Sonnenaufgang, und sie wirkte dabei gedankenverloren. Ner’zhul brannte darauf, sie zu halten, ihre Sorgen als seine anzunehmen, so, wie er es früher immer getan hatte. Aber er wusste, dass er sie weder berühren, noch sie zum Sprechen zwingen konnte. Deshalb blieb er still, trank ihre Schönheit, während er ihr lauschte.