„Rulkan hat ihren Teil erfüllt, indem sie mich mit dir zusammenbrachte, Ner’zhul“, beruhigte ihn Kil’jaeden. „Du weißt, ihr geht es gut, und sie ist glücklich, du hast sie gesehen. Wir brauchen sie nicht mehr als Medium. Nicht jetzt, da ich von deinem Wert überzeugt bin.“
Und wie zuvor füllte sich Ner’zhuls Herz mit Freude. Und dennoch, trotz des Trostes und der freundlichen Worte Kil’jaedens, blieb diesmal etwas zurück, und er wünschte sich, mit seiner Frau sprechen zu können.
Ner’zhul war tief in Gedanken, als Gul’dan ihm das Schreiben brachte. Der Schüler verneigte sich und überreichte seinem Meister das Stück Pergament, das steif von einer blauen Flüssigkeit war.
„Was ist das?“, fragte Ner’zhul, als er das Pergament entgegennahm.
„Das wurde einem Draenei weggenommen, der vom Süden kam“, antwortete Gul’dan.
„Einer Gruppe?“
„Ein einzelner Kurier. Keine Waffen, nicht mal ein Reittier. Der Dummkopf lief.“ Gul’dans Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und er gluckste.
Ner’zhul schaute auf das Pergament und erkannte, dass die blauen Flecken das Blut des Kuriers waren. Warum nur hatte sich dieser Idiot allein und unbewaffnet ins Herz des Schattenmond-Clans gewagt?
Er faltete das Pergament vorsichtig auseinander, um es nicht zu zerreißen, und begann zu lesen. Als die Blicke seiner braunen Augen über die Worte flogen, war der Raum plötzlich von einem hellen Leuchten erfüllt, und beide Schamanen hoben schützend die Arme vor die Augen.
„Lies es laut, großer Ner’zhul!“, sagte Kil’jaeden schmeichelnd. „Teile dein Wissen mit mir und deinem treuen Schüler.“
„Ja, bitte, Meister“, sagte Gul’dan begierig.
Als Ner’zhul das Schreiben las, überkamen ihn das erste Mal, seit er mit seiner geliebten Rulkan gesprochen hatte, Zweifel.
An Ner’zhul, Schamane des Schattenmond-Clans, der Prophet Veten von den Draenei sendet dir Grüße. In jüngster Zeit wurden viele meines Volks von den Orcs angegriffen. Ich verstehe nicht, warum. Seit Generationen haben Dein und mein Volk friedlich und in Toleranz miteinander gelebt. Ein Zustand, der uns beiden genutzt hat. Wir haben niemals die Waffen gegen einen Orc gehoben. Stattdessen haben wir einst die Leben von zwei jungen Orcs gerettet, die sich unwissentlich in Gefahr begeben hatten...
„Ah“, unterbrach Gul’dan den Schamanen, „daran erinnere ich mich. Durotan, der jetzt der Häuptling des Frostwolf-Clans ist, und Orgrim Schicksalshammer.“
Ner’zhul nickte abwesend, seine Gedanken waren für einen Moment abgelenkt, dann las er weiter:
Wir können nur annehmen, dass es sich um ein schreckliches Missverständnis handelt, und wir wollen mit Euch reden, damit keine weiteren Leben von Orcs oder Draenei verloren gehen.
Ich glaube, dass der Berg, den ihr Oshu’gun nennt, Euch heilig ist, dass dort die weisen Geister eurer Ahnen zu Hause sind. Obwohl dieser Ort auch für uns Draenei schon lange eine tiefe Bedeutung hat, haben wir immer respektiert, dass ihr ihn als Eure heilige Stätte beansprucht. Jetzt ist die Zeit gekommen, um zu erkennen, dass wir mehr gemeinsam haben, als uns trennt. Ich werde von meinem Volk Prophet genannt, weil mir von Zeit zu Zeit Weisheit und Erkenntnis gewährt wird. Ich versuche mein Volk mit Güte in Frieden zuführen, wie ich es auch von den Führern Eures Volkes annehme.
Treffen wir uns in Frieden an dem Ort, der für unsere beiden Völker so bedeutsam ist. Am dritten Tag des fünften Monats werde ich mit einer kleinen Gruppe auf eine Pilgerfahrt in das Herz des Berges gehen. Keiner von uns wird bewaffnet sein. Ich lade Dich und jeden anderen ein, mich dort zu treffen an diesem Ort der Macht und Magie, an dem ein Wesen existiert, dessen Weisheit so viel größer ist als unsere und die wir gemeinsam nutzen können, um die Kluft zwischen unseren Völkern zu überwinden.
Licht und Segen, ich biete euch Frieden an.
Gul’dan war der Erste, der sprach. Oder – genauer – der lachte.
„So eine maßlose Arroganz! Mein Herr, großer Kil’jaeden, diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Ihr Führer kommt wie ein Spalthuf zum Schlachter, und das völlig unbewaffnet. Dumm, wie er ist, denkt er, dass wir nichts von seinen bösen Absichten ahnen. Er will den Oshu’gun besudeln! Er wird sterben, bevor er einen verdammten Huf auf unseren heiligen Berg setzen kann!“
„Deine Worte gefallen mir, Gul’dan“, sagte Kil’jaeden mit seiner sanften Stimme. „Ner’zhul, dein Schüler spricht weise.“
Ner’zhul wollte antworten, doch ihm blieben die Worte im Halse stecken. Er öffnete zweimal den Mund und setzte zu einer Erwiderung an, und schließlich, beim dritten Mal, kratzten die Worte aus seiner Kehle:
„Ich will nicht bestreiten, dass die Draenei gefährlich sind“, sagte er stockend. „Aber... wir sind keine Gronn, die Unbewaffnete töten...“
„Der Kurier wurde erschlagen“, entgegente Gul’dan. „Er war unbewaffnet.“
„Und ich bedauere das!“, schnappte Ner’zhul. „Er hätte in Gewahrsam genommen und sofort zu mir gebracht werden müssen, nicht getötet!“
Kil’jaeden sagte nichts dazu, doch sein roter Schein überzog Ner’zhul, als er nach einer Lösung suchte.
„Ihm wird nicht erlaubt, unsere heilige Stätte zu besudeln“, entschied der Schamane schließlich, „darum brauchst du dich nicht zu sorgen, Gul’dan. Aber ich will nicht, dass er getötet wird, ohne dass ich die Möglichkeit hatte, mit ihm zu sprechen. Vielleicht können wir etwas von ihm erfahren.“
„Ja“, sagte Kil’jaeden, und seine Stimme war weich und voll. „Wenn jemand leidet, verrät er jedes Geheimnis.“
Die Worte erschreckten Ner’zhul, aber er verbarg sein Entsetzen. Dieses großartige Wesen wollte, dass er Velen folterte? Etwas daran erregte ihn, aber etwas anderes fühlte sich abgestoßen. Er würde so etwas nicht machen.
„Wir werden ihn erwarten“, versicherte er sowohl Kil’jaeden wie auch seinem Schüler. „Er wird nicht entkommen.“
„Mein Herr“, sagte Gul’dan zögerlich, „darf ich einen Vorschlag unterbreiten?“
„Was denn?“
„Der Clan, der am nächsten am Berg lebt, ist der Frostwolf-Clan“, führte Gul’dan aus. „Lassen wir sie Velen und seine Begleiter gefangen nehmen und zu uns bringen. Ihr Häuptling erfuhr einst die Gastfreundschaft der Draenei. Und obwohl er sich uns nicht entgegengestellt hat, habe ich auch nicht gehört, dass er viele Angriffe auf die Draenei durchgeführt hätte. Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, indem wir den Anführer der Draenei gefangen nehmen und Durotan von den Frostwölfen dazu bringen, dass er uns gegenüber seine Loyalität beweist.“
Ner’zhul fühlte zwei Augenpaare auf sich gerichtet – die kleinen, dunklen seines Schülers und die glühenden Kugeln seines Meisters Kil’jaeden. Was Gul’dan vorgeschlagen hatte, klang weise. Warum dann aber widerstrebte es Ner’zhul so, dem zuzustimmen?
Mehrere Herzschläge lang herrschte Schweigen, und Schweiß bildete sich über Ner’zuhls Augenbraue. Schließlich ergriff er wieder das Wort und war erleichtert darüber, dass seine Stimme sicher und gefestigt klang: „Abgemacht, das ist ein guter Plan. Holt mir Feder und Pergament, ich werde Durotan über seine Aufgabe in Kenntnis setzen.“
10
Als Drek’Thar mir erzählte, wie sich mein Vater in dieser Situation verhalten hatte, war ich so stolz wie noch nie. Ich weiß sehr gut, wie schwer es ist, die richtigen Entscheidungen zu fallen. Als er seine Entscheidung traf, hatte er viel zu verlieren und nichts zu gewinnen.
Nein, das ist nicht richtig.
Er bewahrte seine Ehre. Nichts ist es wert, sie zu opfern.
Der Brief duldete keinen Aufschub. Durotan überflog ihn und reichte ihn mit einem tiefen Seufzen seiner Gefährtin. Draka las ihn schnell, ihre Blicke spießten die Worte förmlich auf. Ein leises Knurren kam tief aus ihrer Kehle.
„Ner’zhul ist ein Feigling, wenn er das auf dich abwälzen will“, sagte sie leise, damit es der Kurier, der draußen wartete, nicht hörte.