Durotan drehte sich und schlug Drek’Thar übers Gesicht. Der Schamane wirbelte herum und knurrte.
„Ihr werdet meine Befehle achten!“, brüllte Durotan. „Wir brauchen sie lebend, verdammt noch mal!“
Drek’Thars Augen blitzten einen Herzschlag lang vor Wut. Er hob die Hände und schloss die Augen. Plötzlich entstand ein großer Flammenkreis um die fünf Draenei. Wind kam auf, der die Flammen anfachte und die Orcs umwarf. Die Krieger traten zurück, und zu Durotans Entsetzen begannen einige Bogenschützen ihre Pfeile aufzulegen.
„Halt!“, brüllte Durotan. Der Wind nahm seine Befehle entgegen und trug ihn ans Ohr der Krieger. „Ich töte jeden, der schießt!“
Dank seines Befehls und Drek’Thars mächtigen, wenngleich zögerlichen Eingreifens wurden die Draenei nicht verletzt. Dann sagte Durotan zu Drek’Thar: „Lösch das Feuer!“
Sofort verschwanden die Flammen, die beinahe Durotans Augenbrauen verbrannt hätten. Dann stand er Velen direkt gegenüber. Eine Woge von Gefühlen, die er nicht genau benennen konnte, überkam ihn, als er erkannte, dass der Draenei immer noch so ruhig war wie zuvor.
„Velen, du und deine Leute seid nun Gefangene des Frostwolf-Clans“, sagte Durotan mit gefährlichem Unterton.
Velen lächelte traurig. „Ich habe nichts anderes erwartet.“
Er und die anderen vier Draenei bewahrten irgendwie die Fassung, als Durotan befahl, sie zu entkleiden und sie zu durchsuchen. Ihre herrlichen Gewänder wurden ihnen weggenommen und an Durotans beste Krieger gegeben. Die Draenei mussten verschwitzte, dreckige Tuniken anziehen. Durotans Magen rebellierte angesichts des Spottes und des Hohns, der Schmähungen und des Spuckens, mit denen die Draenei erniedrigt wurden, aber er unterband es nicht. Solange keine körperliche Gewalt ausgeübt wurde, würde er seinen Kriegern ihren Spott lassen. Allerdings achtete er genau darauf, dass es zu keinen Übergriffen kam.
Draka beobachtete wütend das Verhalten ihrer Frostwölfe und flüsterte: „Mein Gefährte, kannst du sie nicht mäßigen?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich will sehen, wie die Draenei darauf reagieren.“
Draka sah ihn an, dann nickte sie und ging. Er wusste, dass sie anderer Meinung war. Auch er mochte nicht, was er sah. Aber er bewegte sich auf einem schmalen Grat, und er wusste das.
„Mein Häuptling!“, rief Rokkar, Durotans Stellvertreter. „Komm und schau, was sie uns mitgebracht haben!“
Durotan ging zu Rokkar und öffnete den Beutel, den dieser ihm reichte. Seine Augen weiteten sich. Darin lagen, eingewickelt in weichen Stoff, zwei wunderschöne Steine. Einer war rot, der andere gelb. Durotan brannte darauf, sie zu berühren, aber er tat es nicht. Er hob den Blick und schaute Velen in die Augen.
„Vor langer Zeit zeigte uns Restalaan einen ganz ähnlichen Kristall“, sagte er. „Der, der die Stadt beschützte. Was können diese hier?“
„Jeder hat seine eigenen Stärken. Sie sind Teil unseres Vermächtnisses. Sie wurden uns von dem Wesen geschenkt, das in dem Berg lebt, um...“
Durotan unterbrach ihn. „Es wäre gut, wenn du das nicht noch einmal erwähnst.“ An Rokkar gewand sagte er: „Gib ihnen zu essen, binde ihre Hände und setze sie auf die Wölfe, mit einem Schamanen, der sie bewacht. Gib die Steine Drek’Thar. Wir werden die Draenei mit zurücknehmen und sie Ner’zhul ausliefern. Er hätte an meiner statt heute hier sein sollen.“
Er drehte sich um. Dabei vermied er es, in Velens merkwürdig strahlende blaue Augen zu schauen. Und genauso wenig wollte er die Missbilligung in Drakas Augen sehen, deshalb ging er davon.
Während des langen Rittes zurück kämpfte Durotan mit seinen Gefühlen. Auf der einen Seite teilte er Drek’Thars Ansicht. Der Oshu’gun war den Orcs heilig. Die Behauptung, dass etwas anderes als ihre Vorfahren dort wohnen konnte, so wie Velen es sagte, etwas, das so machtvoll war, dass es die Ahnen anzog, hatte auch ihn bis ins Mark erschüttert – da konnte er sich kaum vorstellen, wie sich der Schamane fühlen musste. Alles schien darauf hinzudeuten, dass Ner’zhul recht gehabt hatte: dass die Draenei eine Seuche waren, die ausgerottet werden musste.
Was an ihm nagte, war das Warum. Er würde in dieser Nacht eine Antwort darauf bekommen.
Da allesamt der fünf Gefangenen ritten, brauchten sie nicht lange bis zum Lager. Die Sonne ging gerade erst unter, als sie es erreichten. Durotan hatte Boten mit den guten Neuigkeiten vorausgeschickt. Und der Clan wartete begierig auf ihre Ankunft. Zu seiner Rechten befanden sich Drek’Thar und Rokkar, die die Gefühle der Frostwölfe teilten. Zu seiner Linken war Draka, die für ihre Verhältnisse ungewöhnlich still war. Durotan wusste, dass er nicht hören wollte, was sie zu sagen hatte. Er wurde momentan schon in zu viele Richtungen gezerrt und gezogen.
Die Gefangenen wurden auf zwei Zelte verteilt, und Wachen wurde aufgestellt: vier erfahrene Krieger und Drek’Thars bester Schamane. Durotan hatte angeordnet, dass Velen allein blieb. Er wollte mit dem Propheten in Ruhe sprechen.
Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, nahm Durotan einen tiefen Atemzug. Er freute sich nicht auf dieses Gespräch, aber es ließ sich nicht vermeiden. Er nickte den Wachen zu, und er erwartete den Draenei mit gebundenen Händen vorzufinden. Stattdessen sah er, dass derjenige, der den Befehl, Velen zu fesseln, ausgeführt hatte, dies mit besonderem Eifer getan hatte.
Das Zelt war um einen kräftigen Baum herum errichtet. Velen hatte man an dessen Stamm gebunden. Seine Arme waren in einem bösen Winkel zurückgebogen, die Fesseln um sein weißes Fleisch waren an den Handgelenken so fest, dass Durotan sogar bei dem wenigen Licht erkennen konnte, dass die Haut darunter dunkler wurde. Ein Seil, dankenswerterweise nicht allzu fest um seinen Hals geschlungen, zwang ihn, den Kopf permanent aufzurichten oder zu ersticken. Man hatte ihm ein schmutziges Stück Stoff in den Mund geschoben. Er kniete, und seine Hufe waren ebenfalls gefesselt.
Durotan fluchte und zog seinen Dolch. Velen sah ihn ohne Zeichen von Furcht in den tiefen blauen Augen an, aber Durotan fiel auf, dass der Draenei überrascht wirkte, als der Orc die Waffe benutzte, um die Fesseln durchzuschneiden anstatt seine Kehle.
Velen gab keinen Laut von sich, aber ein Augenblick der Qual flackerte über sein geisterhaft weißes Gesicht, als das Blut in die Adern zurückströmte.
„Ich befahl ihnen, dich zu fesseln, aber nicht, dich wie einen Talbuk zu verschnüren“, murmelte Durotan.
„Deine Leute sind sehr eifrig, wie es scheint.“
Durotan gab dem Draenei einen Wasserschlauch und beobachtete ihn genau, während er trank. In dreckiger Kleidung und lauwarmes Wasser trinkend, das weiße Fleisch rau von den Fesseln, wirkte Velen nicht sehr gefährlich. Wie hätte sich Durotan gefühlt, wenn man ihm erzählt hätte, dass die Draenei Mutter Kashur so behandelt hätten? Alles in dieser Angelegenheit erschien völlig falsch. Trotzdem hatte Mutter Kashur höchstpersönlich Drek’Thar erklärt, dass die Draenei eine Gefahr waren.
Eine Schüssel mit Blutbrei stand auf dem Boden. Mit seinem rechten Fuß schob Durotan sie dem Gefangenen zu. Velen sah sie, aß aber nicht.
„Nicht ganz das Festmahl, das du Orgrim und mir geboten hast, als wir in Telmor gegessen haben“, sagte Durotan. „Aber es macht satt.“
Velen lächelte schwach. „Das war ein bemerkenswerter Abend.“
„Hast du von uns an diesem Abend bekommen, was du wolltest?“, verlangte Durotan zu wissen. Er war wütend, aber nicht auf Velen. Er war wütend, dass es so weit gekommen war, dass jemand, der ihm nichts als Zuneigung gezeigt hatte, nun sein Gefangener war. Und so ließ er es an dem Propheten aus.
„Ich verstehe nicht. Wir wollten nur gute Gastgeber sein für zwei abenteuerlustige Jungen.“
Durotan stand auf und trat gegen die Schüssel. Der Brei schwappte auf den Boden. „Erwartest du, dass ich das glaube?“