Velen antwortete ruhig: „Es ist die Wahrheit. Es ist allein deine Entscheidung, ob du sie glaubst oder nicht.“
Durotan fiel auf die Knie und schob sein Gesicht nah an Velens. „Warum wollt ihr uns vernichten? Was haben wir euch getan?“
„Ich könnte die gleiche Frage stellen“, sagte Velen. Sein weißes Gesicht wurde dunkler. „Wir haben nie einen Finger gerührt, um euch zu schaden. Und jetzt sind mehr als zwei Dutzend Draenei tot, wegen eurer Angriffe!“
Die Wahrheit darin machte Durotan nur noch wütender. „Die Ahnen belügen uns nicht!“, schnarrte er. „Wir wurden gewarnt, dass ihr nicht die seid, die ihr vorgebt zu sein. Dass ihr unsere Feinde seid. Warum sonst habt ihr diese Kristalle mitgebracht, wenn nicht, um uns anzugreifen?“
„Sie sollten uns helfen, besser mit dem Wesen im Berg zu kommunizieren.“ Velen sprach schnell, als wollte er die Antwort herausbekommen, bevor Durotan ihm das Wort abschnitt. „Es ist kein Feind der Orcs, genauso wenig wie wir. Durotan, du bist klug und weise, das habe ich in der Nacht vor so langer Zeit erkannt. Du folgst Befehlen nicht blind wie ein Tier. Ich weiß nicht, warum euch eure Anführer anlügen. Aber sie tun es. Wir wollten immer friedvoll mit euch leben. Du bist nicht wie die anderen, Sohn des Garad!“
Durotan verkniff die dunklen braunen Augen zu schmalen Schlitzen. „Da liegst du falsch, Draenei“, spie er. „Ich bin stolz darauf, ein Orc zu sein. Ich verleugne meine Herkunft nicht!“
Velen schien verwirrt. „Du missverstehst mich. Ich mache deine Leute nicht schlecht. Nur...“
„Nur was? Du erzählst uns nur, dass wir unsere geliebten Toten nur sehen können, weil euer... euer Gott in dem Berg gefangen ist?“
„Es ist kein Gott. Es ist ein Verbündeter und wäre es auch für dein Volk, wenn ihr es ihm erlauben würdet.“
Durotan fluchte und stand auf. Er ging im Zelt auf und ab und ballte dabei immer wieder die Hände. Dann seufzte er lang und tief, und der Ärger verrauchte.
„Velen, deine Worte sind nichts anderes als Holz im Feuer unserer Wut“, sagte er ruhig. „Euer Anspruch ist arrogant und anmaßend. Dadurch werden nur die bestätigt, die bereits jetzt schon euer Volk vernichten wollen, auf das Wort unserer Ahnen hin. Ich verstehe mich selbst nicht, aber du bittest mich, zwischen Leuten, denen ich vertraue, und Traditionen, mit denen ich aufgewachsen bin, und deinem Wort zu wählen.“
Er drehte sich und sah den Draenei an. „Ich wähle mein Volk, das musst du wissen. Wenn du und ich uns von Angesicht zu Angesicht auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, werde ich mich nicht zurückhalten.“
Velen blinzelte neugierig. „Du... wirst mich nicht zu Ner’zhul bringen?“
Durotan schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn er dich haben will, hätte er selbst kommen müssen. Er hat mich beauftragt, mich deiner anzunehmen, und ich habe meine Pflicht, wie ich es sehe, erfüllt.“
„Du wurdest beauftragt, einen Gefangenen zu ihm zu bringen“, sagte Velen.
„Ich sollte mich mit dir treffen und dir zuhören“, erwiderte Durotan. „Hätte ich dich im Kampf gefangen genommen, dir die Waffe aus der Hand geschlagen und dich zu Boden gekämpft, dann wärst du mein Gefangener. Aber es liegt keine Ehre darin, einen Feind zu fesseln, der seine Hände willig dem Strick entgegenstreckt. Wir kommen so nicht weiter, du und ich. Du bestehst darauf, dass du den Orcs nichts Böses willst. Meine Anführer und die Geister meiner Ahnen erzählen mir etwas anderes.“
Wieder kniete sich Durotan vor den Draenei. „Sie nennen dich Prophet, kennst du denn die Zukunft? Wenn ja, dann sag mir, was wir tun können, um das Schlimmste zu verhindern. Ich möchte kein unschuldiges Leben opfern, Velen. Gib mir etwas, irgendwas, das ich zu Ner’zhul bringen kann und das beweist, dass du die Wahrheit sprichst!“
Er erkannte, dass er bettelte, aber das störte ihn nicht. Er liebte seine Gefährtin, seinen Clan, sein Volk. Er hasste, was er sah: eine ganze Generation, die sich kopfüber ins Erwachsensein stürzte, mit blindem Hass in ihren Herzen. Wenn es etwas daran ändern konnte, vor einem merkwürdigen Wesen zu betteln, dann bettelte er eben.
Die blauen Augen schauten unbeschreiblich mitfühlend. Velen streckte die bleiche Hand aus und legte sie auf Durotans Schulter. „Die Zukunft ist nicht wie ein Buch, das man lesen kann“, sagte er ruhig. „Sie verändert sich ständig. Wie das Wasser oder der Wirbel im Sand. Mir werden verschiedene Einsichten gewährt, aber nicht mehr. Ich fühlte sehr stark, dass ich unbewaffnet kommen musste, und sieh, ich werde nicht vom größten Schamanen der Orcs empfangen, sondern von einem, der einst sicher unter meinem Dach schlief. Ich glaube nicht, dass dies ein Zufall ist, Durotan. Und wenn irgendetwas getan werden kann, um weiteres Töten zu verhindern, dann liegt das bei den Orcs, nicht bei den Draenei. Alles, was ich machen kann, ist dir zu sagen, was ich bereits gesagt habe. Der Lauf des Flusses kann verändert werden. Aber ihr seid diejenigen, die das tun müssen. Das ist alles, was ich weiß, und ich bete, dass es genug ist, um mein Volk zu retten.“
Der Blick aus seinem alten, merkwürdig zerknitterten Gesicht und der Ton seiner Stimme sagten Durotan, was seine Worte nicht taten: dass Velen nicht glaubte, dass es genug sein würde, um sein Volk zu retten.
Durotan schloss die Augen für einen Moment, dann stand er auf und trat zurück. „Wir werden die Steine behalten“, sagte er. „Welche Kräfte in ihnen schlummern werden unsere Schamanen herausfinden.“
Velen nickte traurig. „Das habe ich erwartet. Aber ich musste sie mitbringen, ich musste darauf vertrauen, dass wir einen Weg hier herausfinden würden.“
Wie konnte es sein, fragte sich Durotan, dass er sich im Moment einem vermeintlichen Feind näher fühlte als den geistigen Führern seines eigenen Volkes? Draka mochte es wissen. Sie wusste immer alles. Sie hatte nichts gesagt, weil sie wusste, dass er diese Wahrheit selbst herausfinden musste. Aber er würde in dieser Nacht mit ihr sprechen, allein in ihrem Zelt.
„Steh auf“, sagte er, und dabei verbarg er kaum seine Gefühle. „Du und deine Begleiter könnt in Sicherheit ziehen.“ Er grinste plötzlich. „So sicher es in der Dunkelheit ohne Waffen sein mag. Wenn ihr außerhalb unseres Territoriums zu Tode kommt, ist es nicht unsere Schuld.“
„Das wäre sehr angenehm für dich“, entgegnete Velen und kam auf die Füße. „Aber irgendwie glaube ich nicht, dass es das ist, was du willst.“
Durotan antwortete nicht. Er verließ das Zelt und sagte zu den wartenden Wachen: „Velen und seine vier Begleiter werden sicher bis zu den Grenzen unseres Landes eskortiert. Dann werden sie frei gelassen, um in ihre Stadt zurückzukehren. Es darf ihnen nichts geschehen, ist das klar?“
Einer der Wachposten wollte protestieren. Aber ein anderer, weiserer Krieger brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Völlig klar, mein Häuptling.“
Als sie gingen, um die anderen Draenei zu holen, trat Drek’Thar auf Durotan zu. „Durotan! Was machst du denn da? Ner’zhul erwartet die Gefangenen!“
„Ner’zhul kann seine Gefangenen selber machen“, schnarrte Durotan. „Ich habe das Kommando, und das ist meine Entscheidung. Stellst du sie in Frage?“
Drek’Thar sah sich um und entfernte sich mit Durotan, bis sie außer Hörweite waren. „Ja, das tue ich“, zischte er. „Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Er behauptet, dass die Ahnen wie... wie Motten sind, die von ihrem Gott angezogen werden. Diese Arroganz!
Ner’zhul hat recht, sie müssen vernichtet werden. Man hat es uns so gesagt.“
„Wenn es so ist, dann wird es so sein“, sagte Durotan. „Aber nicht heute Nacht, Drek’Thar. Nicht heute Nacht.“
Als er und seine Gefährten langsam über das taufeuchte Gras der Wiese in Richtung der nächsten Stadt gingen, hinter ihnen die aufragende Silhouette der Wälder von Terokkar, war Velens Herz schwer.
Zwei der Ata’mal-Kristalle befanden sich in den Händen der Orcs. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Durotan recht behielt und ihre Schamanen schnell ihre Geheimnisse entdecken würden. Aber einer war ihnen entgangen.