Er war ihnen entgangen, weil er nicht gefunden werden wollte. Als sie durchsucht wurden, hatte sich der violette Kristall derart verändert, dass er vor den suchenden Blicken der Orcs verborgen blieb. Velen hielt ihn nah an seinem Herzen und fühlte die Wärme in sein altes Fleisch sickern.
Er hatte gespielt und verloren. Nicht vollständig, dass er und die seinen noch am Leben waren, war der Beweis dafür. Doch er hatte gehofft, die Orcs würden zuhören. Dass sie ihn zumindest in das Herz ihres heiligen Berges begleiten würden. Dann hätten sie etwas zu sehen bekommen, etwas, das ihrem Glauben nicht entgegensprach, sondern ihn eigentlich erst geschaffen hatte.
Die Aussichten waren düster. Als er in das Lager gebracht worden war, hatte er gesehen, was dort vor sich ging. Bereits Kinder trainierten so hart, bis sie vor Erschöpfung umfielen. Die Schmieden arbeiteten sogar nachts. Obwohl er sich in Freiheit befand, wusste Velen, dass nichts, was er an diesem Tag getan hatte, die Ereignisse aufhalten würde. Die Orcs, selbst die Gemäßigteren, bereiteten sich nicht nur auf die Möglichkeit eines Krieges vor – sie waren davon überzeugt, dass er kommen würde. Wenn die Sonne dieser Welt ihr gelbes Haupt wieder zeigte, würde sie auf das Unausweichliche hinabsehen.
Der Kristall, den er so nah an sein Herz hielt, pulsierte. Er spürte seine Gedanken. Velen wandte sich seinen Begleitern zu und sah sie sorgenvoll an.
„Die Orcs werden sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen“, sagte er. „Wenn wir selbst überleben wollen, müssen auch wir den Weg des Krieges gehen.“
Weit in der Ferne, tief unter den Wassern des heiligen Beckens, stieß ein gebrochenes, sterbendes Wesen namens K’ure einen tiefen gequälten Schrei aus.
Velen erkannte die Stimme und neigte das Haupt.
Die Frostwolf-Orcs schnappten bei dem Geräusch nach Luft und schauten zum Oshu’gun mit seiner perfekten dreieckigen Form.
„Die Ahnen zürnen uns!“, rief ein junger Schamane. „Sie sind wütend, weil wir Velen gehen ließen!“
Durotan schüttelte den Kopf. Er hätte den Neuling zurechtweisen müssen. Und er würde es auch tun, wenn der noch einmal so etwas verlauten ließ. Aber jetzt war sein Herz voller Trauer. Es war kein Schrei der Wut, der vom heiligen Berg gekommen war. Er war das berstende Geräusch des absoluten Kummers. Er schüttelte sich innerlich und fragte sich, warum seine Ahnen so sehr und so tief trauerten.
11
Ner’zhul... Gul’dan. Zwei der finstersten Namen, die jemals die Geschichte meines Volkes beschmutzten. Allerdings erzählte mir Drek’Thar, dass Ner’zhul einst hoch geschätzt war und geliebt wurde. Nach seinen Worten war er jemand, der sich wirklich um die Belange seines Volkes kümmerte, dessen geistiger Führer er war. Mir fällt es schwer, dies mit dem in Einklang zu bringen, was aus Ner’zhul wurde. Aber ich versuche es, versuche es immer wieder, weil ich es verstehen will.
Und doch, so sehr ich es auch versuche, es gelingt mir nicht.
„Was?“
Gul’dan zuckte unter Ner’zhuls Wutschrei zusammen, während Durotan nicht einmal blinzelte.
„Ich habe den Propheten Velen freigelassen“, wiederholte der Häuptling des Frostwolf-Clans ruhig.
„Deine Befehle lauteten, ihn und die anderen gefangen zu nehmen!“ Ner’zhul wurde mit jedem Wort lauter. Was hatte sich Durotan nur dabei gedacht! Wie viele Informationen hätten sie Velen entreißen können! Was für Vorteile den Draenei gegenüber hätten sie erlangen können!
Doch viel wichtiger war, wie Kil’jaeden reagieren würde, wenn er erfuhr, dass Velen nicht gefangen genommen worden war. Er war offensichtlich von der Aussicht, den Draenei in seine Gewalt zu bekommen, sehr angetan gewesen. Und Ner’zhul hatte auch felsenfest mit dem Erfolg gerechnet und dem hohen Wesen Velen als Geschenk angeboten. Der Schamane erkannte, dass er weniger Wut empfand als vielmehr Angst davor, Kil’jaeden die schlechte Nachricht zu überbringen.
„Du hast mir befohlen, ihn gefangen zu nehmen, und das habe ich getan“, antwortete Durotan. „Aber es ist keine Ehre, wenn sich derjenige freiwillig ergibt. Du willst, dass wir ein Volk sind statt einzelner Clans. Doch das erreichen wir nicht ohne einen Ehrenkodex, der unverletzlich ist...“
Durotan sprach mit seiner rauen, tiefen Stimme weiter, aber Ner’zhul hörte ihm nicht mehr zu. In diesem Moment, in diesem gefrorenen Raum in der Zeit, erkannte Ner’zhul plötzlich, dass Kil’jaeden vielleicht nicht der wohlwollende Geist war, als der er sich ihm präsentiert hatte.
Währenddessen legte Durotan die Gründe für seine Entscheidung dar; dass der Schamane sich geistig irgendwo anders befand, bemerkte er gar nicht. Aber Ner’zhul spürte Gul’dans Blick, und eine neue Furcht stieg in ihm auf. Was, wenn Gul’dan die Zweifel seines Meisters erkannt hatte?
Was ist das Richtige? Wie kann ich am besten dienen?
Warum kommt Rulkan nicht mehr zu mir?
Er blinzelte und erwachte aus seinen Gedanken. Durotan redete nicht mehr; der große Häuptling beobachtete ihn eindringlich und wartete darauf, dass der Schamane das Wort ergriff.
Was sollte er nur tun? Durotan genoss hohes Ansehen unter den Clans. Wenn Ner’zhul ihn für seine Entscheidung bestrafte, würde der Frostwolf-Clan ihm – Ner’zhul – die Gefolgschaft verweigern, und viele der anderen Clans würden sich den Frostwölfen anschließen. Es würde einen tiefen Riss unter den Orcs geben. Wenn er aber Durotan die Befehlsverweigerung durchgehen ließ, war das ein schwerer Schlag gegen seine Autorität.
Er konnte sich nicht entscheiden. Er schaute Durotan an, der seine Stirn runzelte.
„Mein Herr ist derart erzürnt, dass ihm die Worte fehlen“, erklang Gul’dans glatte Stimme. Durotan und Ner’zhul richteten ihre Blicke auf den jungen Schamanen. „Du hast einen direkten Befehl unseres geistigen Oberhaupts missachtet, Durotan. Geh zurück in dein Lager, Durotan, Sohn des Garad. Mein Herr wird dir in Kürze einen Mitteilung zukommen lassen und dir seine Entscheidung verkünden.“
Durotan schaute wieder Ner’zhul an; seine Abscheu Gul’dan gegenüber stand deutlich in seinem Gesicht zu lesen. Ner’zhul riss sich zusammen, straffte sich, und als er dieses Mal das Wort ergriff, klang seine Stimme fest und entschieden. „Geh, Durotan. Du hast mich verärgert. Schlimmer noch, du hast das Wesen enttäuscht, dass uns seine Gunst erweist. Du wirst früh genug von mir hören.“
Durotan verneigte sich, ging aber nicht sofort. „Ich habe hier etwas für dich“, sagte er. Er überreichte Ner’zhul ein kleines Bündel.
Der Schamane nahm es mit zitternden Händen entgegen und hoffte verzweifelt, dass sowohl Durotan als auch Gul’dan das Zittern als Wut und nicht als Furcht auslegten.
„Die haben wir den Gefangenen abgenommen“, erklärte Durotan. „Unser Schamane glaubt, dass sie Kräfte enthalten, die nützlich im Kampf gegen die Draenei sein könnten.“
Er zögerte einen Moment, als wartete er darauf, dass Ner’zhul etwas darauf erwiderte. Als dieser nichts sagte und das Schweigen allmählich peinlich wurde, verneigte er sich erneut und ging. Für einen langen Moment sprachen weder Meister noch Schüler.
„Mein Herr, bitte vergib mir, dass ich das Wort für dich ergriff. Ich sah, dass du überwältigt warst und nicht sprechen konntest, und ich fürchtete, dass der Frostwolf-Junge deine Wut als Zögern missverstehen könnte.“
Ner’zhul schaute ihn misstrauisch an, aber seine Worte klangen aufrichtig, und Gul’dans Gesicht wirkte ehrlich. Und dennoch...
Es gab eine Zeit, da hätte Ner’zhul seinem Schüler seine Zweifel anvertraut. Seit Jahren bildete er ihn aus. Aber in diesem Moment, von Unsicherheiten zerrissen, wollte Ner’zhul nicht, dass Gul’dan irgendeine Schwäche an ihm bemerkte.
„Ich war tatsächlich von Wut überwältigt“, log er deshalb. „Ehre ist nichts wert, wenn sie sich gegen unser Volk stellt.“ Er bemerkte, dass er das Bündel tätschelte, das Durotan ihm gegeben hatte.