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Der Wolf hastete durch das Gestöber und kam dennoch nur langsam voran. Schließlich sah Ner’zhul auf und sah vor sich das perfekte Dreieck des heiligen Berges. Eine große Last fiel ihm vom Herzen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte er das Gefühl, das Richtige zu tun.

Skychaser würde beim Klettern Schwierigkeiten haben, deshalb befahl er ihm stehen zu bleiben, sich in eine Wehe einzugraben und dort eng einzurollen. Ner’zhul glaubte nicht, dass er länger als ein paar Stunden weg sein würde, und er beeilte sich, den Berg zu erklimmen. Sein Rucksack wog durch die Wasserschläuche schwer, doch sein Herz war leicht vor Erwartung.

Er hätte es schon vor langer Zeit machen sollen. Er hätte direkt zur Quelle der Weisheit gehen sollen, wie es die Schamanen vor ihm getan hatten. Er wusste nicht, warum er nicht schon vorher daran gedacht hatte.

Schließlich gelangte er an den Eingang und machte vor dem perfekten Oval eine Pause. So begierig er auch war, die Ahnen zu kontaktieren, er wusste, dass das Ritual eingehalten werden musste. Er entzündete das Bündel getrockneten Grases, das er bei sich trug, und ließ sich von dem süßen Geruch beruhigen und seine Gedanken reinigen. Dann schritt er voran, murmelte einen Spruch, um die Fackeln zu entzünden, die den Weg säumten. Ner’zhul war den Weg öfter gegangen, als er sich erinnern konnte. Seine Füße bewegten sich gleichmäßig wie zu einem stillen Rhythmus. Sanft führte der Weg nach unten, und Ner’zhuls Herz raste vor Hoffnung, während er in die Dunkelheit ging.

Es erschien ihm, als dauerte es diesmal länger, bis er wahrnahm, wie das Licht heller wurde. Ner’zhul betrat die Höhle und meinte, dass das Licht aus dem Becken dennoch schwächer leuchtete als in der Vergangenheit. Der Gedanke beunruhigte ihn.

Er nahm einen tiefen Atemzug und schalt sich dafür, dass er seine eigenen Ängste zu diesem heiligen Ort brachte. Er ging zum Becken, holte die Wasserschläuche aus seinem Rucksack und goss ihren Inhalt hinein. Das sanfte Plätschern war das einzige Geräusch und hallte als Echo in der Höhle wieder.

Ner’zhul setzte sich ans Becken, wartete und schaute in die leuchtende Tiefe.

Nichts geschah.

Das beunruhigte ihn nicht. Manchmal nahmen sich die Ahnen Zeit für eine Antwort.

Aber als immer mehr Zeit verging, begann er sich zu sorgen. Bewegt sagte er laut: „Ahnen, geliebte Tote! Ich, Ner’zhul, Schamane des Schattenmond-Clans, Führer eurer Kinder, flehe um eure Weisheit. Ich... ich habe den Weg des Lichts verloren. Die Zeiten sind dunkel, obwohl wir jetzt als Volk vereint sind und immer mehr an Stärke gewinnen. Ich stelle den Pfad, auf dem ich wandle, in Frage und suche eure Führung. Bitte, wenn ihr uns jemals geliebt habt und euch um die kümmert, die euch folgten, kommt zu mir und erteilt mir einen Rat, damit ich sie gut führen kann.“

Seine Stimme zitterte. Er wusste, wie pathetisch er klang, und einen Moment lang schämte er sich aus falschem Stolz. Aber dann wurde dieses Gefühl von dem Wissen weggefegt, dass er sich um sein Volk sorgte. Er wollte tun, was gut für seine Leute war. Nur wusste er nicht, was das sein sollte.

Das Becken begann zu leuchten. Ner’zhul beugte sich vor und schaute auf die Oberfläche, und im Wasser erkannte er ein Gesicht, das ihn ansah.

„Rulkan“, hauchte er. Tränen der Dankbarkeit verwischten ihr Bild. Er blinzelte, und ein heftiger Schmerz durchfuhr sein Herz, als er den Blick in ihren geisterhaften Augen sah.

Sie waren voller Hass.

Ner’zhul zuckte zurück, als hätte man ihn geschlagen. Andere Gesichter erschienen im Wasser, Dutzende. Alle zeigten sie den gleichen Ausdruck. Ihm wurde übel, und er schrie: „Bitte helft mir! Gewährt mir eure Weisheit, damit ich in euren Augen wieder würdig bin!“

Rulkans ernste Miene wurde etwas sanfter, und eine Spur Mitleid klang in ihrer Stimme mit, als sie sagte: „Du kannst nichts tun, nicht jetzt, nicht in hundert Jahren, um in unseren Augen wieder würdig zu werden. Du bist nicht der Erretter der Orcs, sondern ein Verräter an unserem Volk.“

„Nein!“, kreischte er. „Nein, sagt mir, was ich tun muss, und ich werde es tun. Es ist noch nicht zu spät! Sicherlich ist es noch nicht zu spät...“

„Du bist nicht stark genug“, sagte eine andere grollende Stimme. „Wenn du es wärst, du wärst nie so weit auf diesem Pfad gegangen. Du hättest dich nicht so leicht verleiten lassen, den Willen dessen zu erfüllen, der unserem Volk keine Liebe entgegenbringt.“

„Aber... ich verstehe nicht“, murmelte Ner’zhul. „Rulkan, du bist zu mir gekommen. Ich habe dich gehört. Du, Grekshar, hast mich unterwiesen. Ihr wart es, die wollten, dass ich Kil’jaeden diene.“

Sie antworteten nicht, sie brauchten es nicht. Als die Worte über seine Lippen kamen, verstand er, wie grundlegend er in die Irre geführt worden war.

Die Ahnen waren ihm nie erschienen. Es war alles eine List von Kil’jaeden gewesen, wer immer oder was immer er auch war. Sie hatten recht, Ner’zhul zu misstrauen. Einem Schamanen, der sich so leicht hinters Licht führen ließ, konnte man kein Vertrauen schenken. Es war ein einziges Netz aus Lügen, Täuschung und Manipulation, in dem sich Ner’zhul wie ein Insekt verfangen hatte.

Fast hundert Draenei waren tot. Es gab kein Zurück mehr, und die Ahnen würden ihnen nicht mehr helfen. Er konnte den Visionen nicht mehr trauen, denn sehr wahrscheinlich war alles, was er in ihnen sah, Lüge. Das Schlimmste dabei war, dass er sein Volk demjenigen ausgeliefert hatte, der trotz seines schönen Äußeren und seiner süßen Worte nicht ihr Freund war.

Als er in die Geisteraugen seiner Geliebten starrte, wandte sie sich von ihm ab. Jedes Einzelne der unzähligen Gesichter, die sich im Wasser spiegelten, tat dies.

Ner’zhul schwindelte angesichts der Erkenntnis, was er angerichtet hatte. Es gab nichts, was er noch tun konnte. Nichts außer auf dem Weg weiterzugehen, den Kil’jaeden für ihn angelegt hatte. Und er konnte zu den Ahnen beten, auch wenn sie ihm nicht länger zuhörten, dass die Dinge irgendwie doch noch in Ordnung kamen. Er vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.

Im Dunkeln hinter einer Biegung des Tunnels hörte Gul’dan, wie sein Herr schluchzte, und er lächelte.

Kil’jaeden würde dankbar für diese Nachricht sein.

12

Wir sind alle schwach auf die eine oder andere Weise. Dabei spielt die Rasse keine Rolle. Manchmal ist die Schwäche eine versteckte Stärke. Manchmal ist sie unser Untergang. Manchmal ist sie beides. Der Weise kennt seine Schwächen und versucht, daraus zu lernen. Der Narr lässt sich davon leiten und zerstören. Und manchmal ist der Weise ein Narr.

Als er den Weg zurück auf Skychasers Rücken ritt, wünschte sich Ner’zhul, die Nacht würde ihn verschlingen. Wie konnte er zu seinem Volk zurückkehren, da er doch nun wusste, was er getan hatte? Wie konnte er andererseits weglaufen und, vor allem, wohin konnte er fliehen? Wo würde Kil’jaeden ihn nicht finden? Er hoffte inständig, den Mut aufbringen zu können, sich das Opfermesser, das er immer bei sich trug, tief ins Herz zu rammen. Aber er wusste, dass er das nicht konnte. Selbstmord war unehrenhaft. Es war die Antwort eines Feiglings. Man würde ihm nicht erlauben, als Geist zu den Ahnen zu gehen, wenn er diesen verführerischen Weg einschlug.

Er konnte Ahnungslosigkeit vortäuschen und vielleicht sogar Kil’jaeden hintergehen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass das vordergründig so schöne Wesen über die Fähigkeit verfügte, Gedanken zu lesen. Die Erkenntnis beruhigte Ner’zhul ein wenig. Ja, er konnte den Schaden, den dieser Eindringling angerichtet hatte, ein wenig begrenzen. So konnte er seinem Volk weiterhin dienen.

Ner’zhul stolperte schließlich in sein Zelt. Bald würde die Sonne aufgehen, doch er wollte einfach auf seine Felle sinken und schlafen, um das alles zumindest für kurze Zeit zu vergessen.