Aber dann hörte Kur’kul doch rechtzeitig auf. Die jungen Orcs, nun keine Kinder mehr, lagen am Boden. Eine Weile lang wollten sie nicht erwachen, und als sie dann endlich wieder zu sich kamen, weinten sie leise und schnauften, als würde keine Kraft mehr in ihnen stecken.
Durotan wandte sich an den Hexenmeister. „Du hast getan, weswegen du gekommen bist. Und jetzt geh!“
„Häuptling Durotan“, wollte Kur’kul widersprechen, „du...“
Durotan fasste ihn vorn an seinem roten Gewand. Angst flackerte in den Augen Kur’kuls.
„Weg mit dir! Sofort!“
Durotan ließ ihn los, und Kur’kul stolperte rückwärts, fiel fast hin. Er schaute Durotan finster an.
„Schwarzfaust wird nicht erfreut sein, das zu hören“, knurrte er.
Durotan sagte nichts. Jedes weitere Wort hätte seinen Clan verdammen können, das wusste er. Stattdessen drehte er sich um, schüttelte sich vor Wut und ging zu den Kindern, die keine mehr waren.
Einige Zeit lang danach wurde nichts mehr vom Frostwolf-Clan verlangt, außer intensiver Ausbildung und regelmäßiger Berichte darüber. Durotan war darüber genauso erleichtert wie besorgt. Er wusste, dass Schwarzfaust und Gul’dan es auf ihn abgesehen hatten, und sie würden ihm dann das Leben schwer machen, in dem sie ihm einen entsprechenden Auftrag erteilten.
Er wurde nicht enttäuscht.
Durotan begutachtete gerade neue Rüstungen, die der Schmied hergestellt hatte, als der Wolfsreiter ins Lager der Frostwölfe kam. Ohne anzuhalten warf er Durotan ein Pergament zu, riss sein Reittier herum, und weg war er. Durotan entrollte das Schreiben, und während er las, weiteten sich seine Augen. Er sah den sich entfernenden Boten nach, der kein offizieller Kurier war.
Alter Freund,
ich bin mir sicher, es wird Dich nicht überraschen zu erfahren, dass man dich beobachtet. Sie werden Dir eine Aufgabe geben, eine, von der sie wissen, dass Du sie schaffen wirst. Und Du musst den Auftrag ausführen! Ich weiß nicht, was sie machen, wenn Du ablehnst, aber ich befürchte das Schlimmste!
Es gab keine Unterschrift, und die Botschaft brauchte auch keine. Durotan kannte Orgrims klobige Schrift. Er zerknüllte das Pergament, warf es ins Feuer und sah zu, wie es sich rollte und drehte wie ein lebendes Ding, während das Feuer es fraß.
Orgrim hatte die Warnung noch gerade rechtzeitig geschickt. Am selben Nachmittag erschien eine Reiterin, die den offiziellen Waffenrock der Kuriere trug, und übergab dem Häuptling der Frostwölfe ein weiteres Pergament. Durotan nickte, als er es entgegennahm, und legte es beiseite. Er wollte es nicht sofort lesen.
Doch die Kurierin schaute unbehaglich. Sie stieg nicht ab, aber sie riss ihren Wolf auch nicht herum und verließ das Frostwolf-Lager.
„Mir wurde aufgetragen, auf eine Antwort zu warten“, sagte sie nach einer Weile peinlichen Schweigens.
Durotan nickte erneut, dann entrollte er das Pergament. Die Schrift war exzellent, und er wusste, dass Schwarzfaust die Botschaft diktiert hatte. Der Kriegshäuptling, so intelligent und schlau er auch war, war alles andere als ein Literat.
Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Durotan versuchte sich nichts anmerken zu lassen, obwohl er aus dem Augenwinkel heraus sah, dass Draka ihn aufmerksam betrachtete.
An Durotan, Sohn des Garad, Häuptling des Frostwolf-Clans, Schwarzfaust, Kriegshäuptling der Horde, entsendet Dir seine Grüße. Du hattest Gelegenheit, Dich von den Fähigkeiten meiner neu ausgebildeten Hexenmeister zu überzeugen. Es ist an der Zeit, unsere Feinde anzugreifen. Telmor, die Stadt der Draenei, liegt nahe an Eurem Gebiet. Du wirst angewiesen, eine Kriegsgruppe zu bilden und die Stadt anzugreifen. Orgrim hat mir erzählt, dass Ihr beiden als Jungen in der Stadt wart. Und dass Du das Geheimnis kennst, wie die Draenei ihre Stadt unsichtbar machen. Orgrim sagte mir auch, dass Du ein exzellentes Gedächtnis hättest und dass Du dich daran erinnern würdest, wie man die Stadt unseren Kriegern für einen Angriff sichtbar macht.
Ich bin mir sicher, dass ich Dir nicht zu sagen brauche, was die Zerstörung dieser Stadt für die Horde bedeutet. Und auch für den Frostwolf-Clan. Antworte unverzüglich auf diesen Brief, und wir werden mit den Vorbereitungen für den Angriff beginnen.
Für die Horde!
Die Unterschrift war ein Abdruck von Schwarzfausts rechter Hand, die mit Tinte überzogen war.
Durotan war außer sich. Wie hatte Orgrim dem Kriegshäuptling das alles nur verraten können? Folgte er Schwarzfaust wirklich so bedingungslos, dass er ihm von der Sache erzählt hatte? Der Ärger ebbte ab, als er erkannte, dass die Informationen, auf die sich Schwarzfaust bezog, im Laufe der letzten Jahre leicht in ganz normalen Unterhaltungen gefallen sein konnten. Schwarzfaust war intelligent genug, er sammelte solches Wissen und benutzte es dann, wenn er es brauchte.
Durotan überlegte, ob er einfach lügen sollte und behaupten, dass er sich nicht an die Worte erinnern konnte, mit denen Restalaan die Illusion aufgelöst hatte, die die Stadt sicher und verborgen vor den Augen der Oger hielt und inzwischen auch vor denen der Orcs. Es war lange her, und er hatte sie nur einmal gehört. Jeder andere hätte sie längst vergessen.
Aber die Drohung in dem Brief war offensichtlich. Wenn Durotan den Angriff ermöglichte, würde er seine Loyalität der Horde gegenüber unter Beweis stellen. Wenn er ablehnte, selbst wenn er behauptete, sich nicht mehr an die Worte zu erinnern, so musste er, so wie Orgrim es ausgedrückt hatte, das Schlimmste fürchten.
Die Kurierin wartete.
Durotan traf die einzige mögliche Entscheidung.
Er schaute in das unbeteiligt wirkende Gesicht der Reiterin. „Ich werde tun, was der Kriegshäuptling verlangt. Für die Horde.“
Die Kurierin schaute sowohl erleichtert als auch überrascht. „Der Kriegshäuptling wird zufrieden sein, das zu hören. Ich wurde angewiesen, dir auch dies hier zu geben.“ Sie griff in ihren ledernen Rucksack und holte einen kleinen Beutel heraus, den sie Durotan reichte. „Deine Krieger und deine Hexenmeister werden damit üben müssen.“
Durotan nickte. Er wusste, was sich in dem Beutel befand: das Herz der Wut und der Leuchtende Stern, die er Velen abgenommen hatte. Diese Steine waren vielleicht das Einzige, das ihn gerettet hatte, als er Ner’zhuls Wut heraufbeschwor. Er würde sie gegen ebenjene Leute einsetzen, denen er sie weggenommen hatte.
„Der Kriegshäuptling wird dich bald kontaktieren“, sagte die Kurierin, hob die Hand und trieb dann ihren Wolf an. Durotan sah ihr nach, während sie aus dem Lager ritt. Draka trat neben ihn. Er gab ihr den Brief und ging ins Zelt.
Kurz darauf kam sie zu ihm, schlang die Arme um ihn, während er das Gesicht in die Hände legte. Die Entscheidung, die er hatte treffen müssen, war fürchterlich.
Ein paar Tage später sammelte sich die Kriegsgruppe im Lager der Frostwölfe. Die meisten Krieger und Hexenmeister waren vom Schwarzfels-Clan, aber es fand sich mehr als ein Kriegshymnen-Gesicht in der Menge und mehrere vom Clan der Zerschmetterten Hand. Selbst der Begriffsstutzigste der Frostwölfe konnte das Mistrauen und die Verachtung der anderen spüren. Durotan wusste, dass es kein Zufall war, dass die anderen Orcs von den kriegerischsten Clans stammten. Sie sollten sicherstellen, dass die Frostwölfe in ihrer Kriegswut nicht wankten. Durotan fragte sich, wer wohl den Befehl hatte, ihm die Kehle beim geringsten Zweifel an seiner Loyalität aufzuschlitzen. Er hoffte, dass es nicht Orgrim war. Die beiden alten Freunde tauschten nur ein paar Worte, und Durotan erkannte, dass Orgrim litt. Dafür war er dankbar.