Ein Kurier war vorausgeschickt worden, deshalb brannten ausreichend Lagerfeuer, und es gab Essen und Trinken für die hungrigen „Gäste“. Viele der Frostwölfe gaben ihr eigenes Lager für die Besucher her, damit die, die am nächsten Morgen in den Kampf zogen, gut schliefen. Durotan traf sich mit Orgrim und den anderen, die den Angriff leiten sollten, und sie zeichneten die Umrisse der Stadt auf, so gut sie sich daran erinnern konnten.
Bei Tagesanbruch war der Kriegstrupp, eine kleine Armee von Orcs, unterwegs. Er zog über die Wiesen, die den Wald von Terokkar umgaben, wo vor so langer Zeit Orgrim und Durotan als Jugendliche von den Ogern überrascht worden waren.
Keiner der schwerfälligen Riesen ließ sich blicken, während sich die Orcs zügig ihrem Ziel näherten. Durotan war ganz vorn und ritt neben Orgrim auf Nightstalker. Sie waren still, aber Durotan entging nicht, dass der Blick von Orgrims grauen Augen für eine Weile an der Stelle verweilte, wo zwei Jungen dereinst von Draenei Kriegern gerettet worden waren.
„Es sind viele Jahre vergangen, seit wir diesen Weg gegangen sind“, sagte Durotan.
Orgrim nickte. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir in die richtige Richtung reiten. Der Wald und die Felder haben sich verändert, und es gibt herzlich wenige Landschaftsmerkmale.“
Durotan sagte schwer: „Ich erinnere mich an den Weg.“ Er wünschte, es nicht zu tun. Ein Haufen Steine hier, ein merkwürdig gewachsenes Gewächs dort – es reichte ihm aus, um den Weg zu finden. Für die anderen sah es nach nichts aus. Schwarzfaust hatte seinen Truppen gesagt, dass die Draenei ihre Städte perfekt verbargen. Trotzdem hörten Durotans scharfe Ohren leicht besorgtes Murmeln. Er fröstelte.
„Wir nähern uns“, sagte er. „Wir müssen leise sein. Es ist gut möglich, dass wir bereits gesehen wurden.“
Die Orcs des Kriegstrupps verstummten. Orgrim schickte einige Leute als Kundschafter aus. Durotan dachte an jenen fernen Tag; da war er ebenfalls besorgt gewesen, wohin sie gingen und was die Draenei mit ihnen tun würden.
Er hielt seinen Wolf an und stieg ab. Nightstalker schüttelte den Kopf und strich sich über die Ohren. Es war hier oder ganz nah hier. Durotan spürte eine verzweifelte Hoffnung, dass sich auch die Draenei daran erinnerten, dass sie ihm ihr Geheimnis offenbart hatten, und dass sie deshalb den magischen Stein anderswo versteckt hatten.
Durotan konzentrierte sich, bewegte sich langsam, hörte das Klirren des Zaumzeugs und das sanfte Klappern der Rüstungen, während die anderen ihn beobachteten und warteten. Er schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, sah wieder Restalaan, der auf dem Boden kniete, Blätter beiseite schob und Tannennadeln...
Durotan öffnete die Augen, bewegte sich ein paar Schritte nach links. Er sandte ein schnelles Gebet an die Ahnen. Ob er dabei um Hilfe beim Finden bat oder um genau das Gegenteil, wusste er nicht. Gepanzerte Hände griffen nach unten, schoben Geröllschichten weg und berührten dann etwas Kühles und Hartes.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Durotan schloss die Finger um den Edelstein und nahm ihn auf.
Selbst in seinem geistesabwesenden Zustand konnte er die tröstende Energie spüren, die der Stein ausstrahlte. Er schmiegte sich in seine Hand, als gehörte er dorthin. Durotan strich mit seinem rechten Zeigefinger darüber, zögerte den Moment hinaus, bevor sich alles unwiderrufbar ändern würde.
„Du hast ihn gefunden“, hauchte Orgrim, der leise neben seinen Freund getreten war. Durotan war von seinen Gefühlen überwältigt und konnte einen Moment lang nicht sprechen. Er nickte nur, nahm dann seinen Blick von dem schönen pulsierenden Stein und sah in die ehrfürchtigen Gesichter derer, die ihn anstarrten, während er den Schatz hielt.
Orgrim nickte knapp. „Geht auf eure Position.“
Es war beruhigend, den Stein zu halten. Durotan wollte nichts anderes, als einfach stehen zu bleiben und in die Tiefen des Steins zu schauen. Aber er hatte seine Entscheidung längst gefällt. Er atmete tief ein und sprach die Worte, die Restalaan vor so langer Zeit an diesem Ort gesprochen hatte.
„Kehla men samir, solay lamaa kahl.“
Er hoffte, dass sein starker orcischer Akzent den Stein nicht aktivieren würde. Dass er dadurch seiner Verpflichtung seinem Volk gegenüber gerecht wurde, ohne dafür eine kleine Stadt voller Zivilisten stürmen zu müssen. Aber offensichtlich wurden die Worte von der Macht verstanden, die den grünen Edelstein kontrollierte. Die Illusion verschwand bereits, die Bäume und Felsen wurden feinstofflich, und vor den Orcs erstreckte sich auf einmal einladend eine breite befestigte Straße.
Die herrliche Stadt der Draenei lag vor ihnen, und mit dem Kriegsgebrüll aus über hundert Kehlen fielen die Orcs über sie her.
15
Drek’Thar erzählt mit gebrochener Stimme von herrlichen und schönen Dingen, die zerstört wurden, davon, wie man Kinder brutal tötete. Und obwohl seine Geschichte, wie er sie erzählt, eine unausgesprochene Entschuldigung ist, erschien alles zu jener Zeit richtig. Ja, ich kann mir vorstellen, wie richtig es erschien. Es war gerecht. Ich kann nur zu den Ahnen beten, dass ich niemals in die Situation meines Vaters komme, zerrissen zwischen dem, was mein Herz mir sagt und der Verpflichtung gegenüber meinem Volk. Deshalb will ich unbedingt den zerbrechlichen Frieden zwischen der Allianz und uns erhalten.
Weil kaum ein Angriff oder eine Beleidigung in dieser oder jeder anderen Welt ein legitimer Grund sein darf, Kinder zu töten.
Später würde sich Durotan fragen, warum die Stadt Telraor nicht vor den bewaffneten Orcs gewarnt worden war. Mit einem Draenei konnte er nicht mehr darüber zu sprechen. Er konnte nur annehmen, dass die Draenei sich der Illusionstarnung so sicher gewesen waren, dass sie sich einfach nicht hatten vorstellen können, dass jemand sie durchbrechen würde.
Die Luft war erfüllt von Kriegsgeschrei und Wolfsgeheul, als die Reiter die Straßen der Stadt stürmten. Mehrere unbewaffnete Draenei wurden sofort niedergestreckt, und der weiße Gehweg war schnell blau von vergossenem Blut. Aber es dauerte nicht lange, dann schlug die Stadtwache zurück.
Durotan hatte den Stein in seinen Rucksack gesteckt, nachdem er ihn benutzt hatte. Er würde ihn zu dem roten und gelben Stein tun, die er Velen weggenommen hatte. Er saß auf und ritt mit grimmiger Entschlossenheit. Obwohl er entschieden hatte, dass er keinen unbewaffneten Feind attackieren würde oder gar ein Kind, war er aufs Töten vorbereitet und darauf, getötet zu werden.
Die erste Welle wogte durch die Stadt. Eine wahre Flut von Orcs gabelte sich in Ströme, die in die großen runden Gebäude eindrangen. Die Hexenmeister gaben ihnen Rückendeckung. Die Kreaturen waren still und gehorsam, selbst die kleinen, die ansonsten permanent murmelten. Ihre Herren warteten auf den richtigen Moment, um den Feuerregen, die Schattenblitze und die verschiedenen Folterflüche einzusetzen. Die Krieger, die wieder aus den Gebäuden kamen, waren mit Blut besudelt. Ihre Stiefel hinterließen eine blaue Spur zum nächsten Gebäude und dann zum übernächsten.
Die Wachen der Draenei waren auf die Straßen gelaufen und benutzten ihre eigene Magie. Durotan drehte sich in seinem Sattel um und konnte gerade noch einen Schlag von einem Schwert abblocken, dass in blauer Energie blitzte. Das Schwert schlug gegen seine Axt und erschütterte seinen Arm bis in die Schulter. Aber das war nichts verglichen mit dem Schock, als er den Angreifer erkannte.
Zum zweiten Mal trafen er und Restalaan sich im Kampf. Durotan hatte Velen verschont, und zum Ausgleich hatte Restalaan ihm Gnade gewährt, als er hilflos vor den Draenei-Kriegern gestanden hatte. Durotan sah, dass auch der andere ihn erkannte. Seine blauen Augen blitzten vor Zorn, dann verengten sie sich zu Schlitzen.
Jede Schuld zwischen ihnen war beglichen. Es wurde keine Gnade mehr gewährt.
Restalaan schrie etwas in seiner musikalischen Sprache. Statt wieder anzugreifen, zog er Durotan aus dem Sattel. Durotan wurde davon überrascht. Bevor er kapierte, was geschah, lag er vor seinem Feind auf dem Boden. Er griff nach seiner Axt, als Restalaan mit dem Schwert ausholte. Selbst als seine Finger den Stiel fassten, glaubte er nicht, dass er schnell genug sein würde.