Nightstalker war fast so gut ausgebildet wie der Orc, der ihn ritt. Als er spürte, dass sein Reiter von seinen Rücken gezerrt worden war, wirbelte er zu Restalaan herum. Große Zähne bissen in den Arm des Draenei. Hätte Restalaan nicht die schützende Rüstung getragen, der Arm wäre ihm abgetrennt worden. Trotzdem reichte der gewaltige Druck, um den Arm arg in Mitleidenschaft zu ziehen.
Restalaan ließ das Schwert fallen. Mit einem Knurren schlug Durotan mit der Axt so fest zu, wie er konnte. Er traf Restalaan, das scharfe Blatt der Axt schnitt glatt durch die Rüstung und drang tief in sein Fleisch ein.
Restalaan fiel auf die Knie, sein nutzloser Arm immer noch zwischen Nightstalkers Zähnen. Der weiße Wolf biss härter zu. In wenigen Herzschlägen würde der Wolf den Arm abgerissen haben. Blut spritzte, doch Restalaan gab keinen Laut von sich, trotz der Qualen, die er erleiden musste.
Durotan kam auf die Beine und schlug wieder zu, und diesmal war der Schlag tödlich – ein Gnadenstoß. Restalaan sackte zusammen, und Nightstalker ließ sofort seinen Arm los. Der Hauptmann der Wache von Telmor war tot.
Durotan kämpfte die Trauer nieder, die in ihm aufsteigen wollte. Er kletterte auf Nightstalker und suchte sich ein neues Ziel. Daran gab es keinen Mangel. Die Stadt war sicherlich nicht so groß wie Shattrath, die Hauptstadt des Feindes, aber sie war auch nicht klein. Es gab genug Draenei zu töten. Die Luft war erfüllt von Schreien, ausgestoßen im Blutrausch, vor Qual und Angst, erfüllt vom Scheppern der Schwerter auf Schilde und dem Krachen der magischen Zauber. Ein ekelerregender Gestank stieg in Draenei Nüstern: Blut, Fäkalien, Urin und der einzigartige Geruch des Schreckens lagen darin.
Die Wut, die in ihm raste, fühlte sich gut an. Seine Sinne waren nie schärfer gewesen, und er schien sich ohne nachzudenken bewegen zu können. Dort drüben war noch eine der Wachen – und sie kämpfte gegen Orgrim. Durotan spannte sich, wollte seinem Freund zu Hilfe eilen, aber der Schicksalshammer schwang bereits durch die Luft und zertrümmerte den Schädel des Angreifers trotz des Helms. Durotan grinste grimmig, Orgrim brauchte keine Hilfe.
Er spürte die Gegenwart eines Wesens neben sich, bevor er es hörte oder auch nur roch. Er drehte sich und stieß den Kriegsschrei seines Clans aus und hob die blutbefleckte Axt, um zuzuschlagen.
Das Kind war kaum der Pubertät entwachsen, aber es schrie vor Wut, während es mit leeren Händen nach seinem gepanzerten Bein schlug. Tränen liefen über das bleiche blaue Gesicht, und es bleckte seine Zähne. Blaues Blut, zu viel, als das es von ihm allein stammen konnte, durchnässte sein Kleid so stark, dass es ihm am Körper klebte. Das Mädchen schlug erfolglos auf ihn ein, ihre tränengefüllten Augen brannten vor Qual und gerechtem Zorn.
Eine schreckliche Sekunde lang war sie für ihn dasselbe Mädchen, das Durotan und Orgrim Jahre zuvor in dieser Stadt gesehen hatten. Das konnte nicht sein, sicherlich war das Mädchen von damals inzwischen eine Frau. Oder war sie es doch? Aber es zählte nicht. Es war ein Mädchen, tapfer und dumm genug, gegen einen gerüsteten Orc mit nackten Händen kämpfen zu wollen.
Es war eine riesige Anstrengung, die Axt mitten im Schwung abzufangen. Er würde kein Kind verletzen, das war nicht der Kodex, nicht der Weg der Orcs.
Plötzlich erstarrte sie. Ihre Augen weiteten sich, sie öffnete den Mund, und Blut strömte daraus hervor. Durotans Blick richtete sich von ihrem Gesicht auf ihre Brust. Und er sah einen Speer, der aus dem blutgetränkten Stoff hervorstach. Bevor Durotan reagieren konnte, hatte der Orc vom Clan der Zerschmetterten Hand den Speer zur Seite geschoben und den Körper damit zu Boden gezwungen. Er stellte einen Fuß auf ihre Schulter, und grunzend zog er seinen Speer heraus und grinste Durotan an.
„Du schuldest mir was, Frostwolf“, sagte der Orc. Dann verschwand er im Getümmel von Tätern und Opfern.
Durotan warf den Kopf zurück und schrie vor Qual zu seinen Ahnen.
Die Orcs drängten weiter und hinterließen Berge von Leichen. Die große Mehrheit der Toten waren Draenei, aber hier und dort sah man auch den braunen Körper eines gefallenen Orcs. Einige der Orcs, die dort lagen, lebten noch, riefen nach Hilfe. Aber ihre Bitten stießen auf taube Ohren. Schamanen hätten sie mit Sprüchen heilen können, aber die Magie der Hexenmeister verfügte nicht über diese Eigenschaft. Deshalb lagen sie dort, wo sie gefallen waren. Einige hauchten direkt neben den Draenei, die sie selbst getötet hatten, ihr Leben aus. Währenddessen strömte die Flut unaufhaltsam weiter.
Sie folgten der Straße bis zum Fuß der Berge, betraten die Gebäude und töteten jeden, den sie fanden. Ohne Zweifel hatten sich einige Draenei versteckt, überlegte Durotan und betete, dass sie nicht gefunden wurden. Doch er glaubte nicht, dass seine Gebete erhört wurden. Nachdem die erste Runde des Gemetzels beendet war, begann das Plündern und die Suche nach denen, die dem ersten Angriff entkommen waren. Er wusste es. So war es geplant.
Sie hatten das größte Gebäude erreicht, das auf dem höchsten Berg stand. Durotan erkannte es augenblicklich. Es war der Sitz des Magistrats, wo er und Orgrim mit dem Propheten gegessen hatten. Ihm kam der bittere Gedanke, dass Velen nicht viel als Prophet taugte, wenn er diesen schwarzen Tag nicht vorhergesehen hatte. Nightstalker lief die Treppen hinauf. Durotan konnte nicht widerstehen; er musste sich umdrehen und schaute über die Schulter zurück auf die Stadt, so wie er es beim ersten Mal getan hatte, als er diese Stufen auf seinen eigenen Füßen erklommen hatte.
Damals hatte die Stadt der Draenei wie auf einer Wiese verstreute Juwelen gewirkt. Nun sah sie nach dem aus, was sie auch war – eine zerstörte, eroberte Stadt, gefüllt mit Blut und ihren toten Bürgern. Das Ende aller Hoffnung auf Frieden, Waffenruhe und Verhandlungen. Durotan schloss kurz die Augen vor Qual.
„Ich will nicht angeben, aber ich bin stolz auf mein Volk und unsere Stadt“, hatte Restalaan zu Durotan gesagt, Restalaan, der steif und tot auf der weißen Straße mit zahllosen anderen Draenei lag. „Wir haben hier hart gearbeitet. Wir lieben Draenor. Nun, ich habe nie geglaubt, dass ich diesen erhabenen Anblick einmal mit einem Orc teilen kann. Die Wege des Schicksals sind oft merkwürdig.“
Die Räume, in denen sich zwei junge Orcs ziemlich eingepfercht vorgekommen waren, wirkten nun, überfüllt mit erwachsenen Orcs, klaustrophobisch. In den meisten Zimmern waren keine Draenei mehr anzutreffen gewesen. Offenbar waren die meisten geflohen, außer denen, die geschworen hatten, für ihre Stadt zu sterben. Die schönen Möbel wurden als Waffen eingesetzt, als sie auf Draenei-Schädel geschmettert wurden. Als das Mobiliar in Trümmer ging, verstärkte dies noch die Erregung der Orcs. Sie schlugen Löcher zum reinen Vergnügen in die leicht gebogenen Wände, Betten wurden mit Schwertern zerhackt, Schüsseln mit Früchten und kunstvolle Figürchen wurden zu Boden geworfen und dort von Äxten und Hämmern zerschmettert.
Durotan hatte genug. „Aufhören!“, schrie er, aber niemand hörte ihn. Die Kreaturen, die von den Hexenmeistern befehligt wurden, schien dieses Verhalten zu befriedigen. Aber die Zerstörungswut der Orcs war völlig sinnlos, da alle Bewohner Telmors entweder tot oder geflohen waren.
„Aufhören!“, schrie Durotan wieder. Diesmal vernahm Orgrim den Ruf. Der Kriegshymnen-Krieger schüttelte den Kopf, als müsste er ihn von etwas befreien. Dann versuchte auch er, seine Krieger zu beruhigen. Doch Drek’Thar war es schließlich, der der Zerstörungswut Einhalt gebot.
„Hört mir zu!“, rief Durotan. Sie befanden sich in jenem Raum, in dem Velen sie an seinem Tisch bewirtet hatte. Stühle und Tische waren umgeworfen und die Wandbehänge heruntergerissen. „Wir haben die Stadt erobert! Der Kampf ist vorbei! Doch es gibt Wichtiges zu tun!“