Sie hörten ihm zu. Ihre Atemzüge erfüllten rasselnd den Raum.
„Zuerst behandeln wir die Verwundeten“, befahl Durotan. „Wir lassen unsere Brüder nicht einfach auf den Straßen liegen und sterben.“
Einige schauten schuldbewusst zu Boden, als sie diese Worte vernahmen. Sie hatten völlig vergessen, dass einige von ihnen draußen lagen, sich unter Schmerzen windend, während sie selbst sich an dieser Zerstörungsorgie ergötzten.
Durotan schob seine Gefühle beiseite und nickte Drek’Thar zu. Die Hexenmeister mochten vielleicht nicht mehr über Heilzauber verfügen, aber sie waren einst Schamanen gewesen und wussten, wie man Wunden auch auf normale Art behandelte. Drek’Thar bedeutete einigen Hexenmeistern, sich um die Verwundeten zu kümmern.
„Diese Stadt hat riesige Vorratskammern. Es gibt jede Menge Nahrung, Waffen, Rüstungen und andere Dinge, auch solche, die wir nicht kennen. Dinge, die der Horde bei ihrer Aufgabe...“
Er konnte die Worte, die er hatte sagen wollen, nicht aussprechen... bei ihrer Aufgabe, die Draenei auszulöschen, nützlich sind. Stattdessen vollendete er den Satz leiser: „... bei ihrer Aufgabe nützlich sind. Wir sind eine Armee. Eine Armee marschiert mit ihrem Bauch. Ein Krieger muss gut essen, ausreichend mit Wasser versorgt sein und ausgeruht für den Kampf. Orgrim, du nimmst dir eine Gruppe, und ihr fangt an diesem Ende der Stadt an. Guthor, du nimmst dir eine andere Gruppe und gehst zurück zum Tor. Jeder, der Heilkenntnisse hat, meldet sich bei Drek’Thar und macht genau das, was er euch sagt.“
„Was ist mit den Draenei, wenn wir welche finden?“, fragte jemand.
Ja, was war mit ihnen? Sie hatten nicht die Möglichkeiten, sich um Gefangene zu kümmern. Und eigentlich dienten Gefangene bei den Orcs auch lediglich als Tauschobjekte, als Geiseln. Aber der einzige Grund, weshalb die Horde existierte, war die totale Vernichtung der Draenei, und so gab es keinen Grund, Gefangene zu machen.
„Tötet sie“, sagte Durotan. Er hoffte, dass die anderen seine heisere Stimme auf kriegerischen Zorn zurückführten und nicht auf jene Qual, unter der er litt. „Tötet sie alle.“
Während die Orcs unter seinem Kommando schließlich seine Befehle ausführten, wünschte sich Durotan, Nightstalker wäre nicht so schnell gewesen, als er seinen Herrn beschützt hatte. Es wäre ihm leichter gefallen, durch Restalaans Hand zu sterben, als die Worte zu sprechen, die er gerade gesagt hatte.
Mit etwas Glück würde der Tod Durotan eher früher als später ereilen auf diesem Feldzug gegen eine Rasse, die nie die Hand gegen sie erhoben hatte.
16
Der Schattenrat.
Selbst jetzt, so viele Jahre später, wissen wir wenig darüber, wer dazu gehörte und was sie getan haben. Gul’dan nahm sehr viele Geheimnisse mit ins Grab. Möge er dort unter Qualen verrotten. Es fällt mir schwer genug zu verstehen, warum einer oder zwei von uns sich derart korrumpieren ließen, dass sie ihre eigenen Nachfahren im Tausch gegen Macht zu Lebzeiten in die Verdammnis schickten. Aber dass es dermaßen viele waren, die exakten Zahlen sind nicht mal bekannt, begreife ich überhaupt nicht.
Selbst das wäre nicht so schlimm gewesen, hätten die Dämonen sie nicht fest im Griff gehabt. Sie werden nun dafür Qualen leiden, und das freut mich. Denn für das, was sie anderen angetan haben, die ihnen folgten, weil sie ihnen vertrauten, verdamme ich sie mit jeder Faser meines Seins.
„Das war ein exzellenter Test.“ Kil’jaeden lächelte, während sich Gul’dan vor ihm verneigte. Seine Augen leuchteten angesichts des Lobs seines Meisters. Ner’zhul kauerte sich hin, den Blick auf den Boden gerichtet. Aber er hörte trotzdem zu.
„Ich gebe zu, ich war überrascht, dass Durotan meinen Befehl tatsächlich ausgeführt hat“, sagte Gul’dan. „Ich habe mit Widerstand gerechnet, zumindest ein wenig. Aber die Stadt wurde erobert und zerstört, mein Herr. Alle Draenei, die dort einst lebten, sind fort, die meisten tot.“
„Die meisten ist nicht genug, Gul’dan, das weißt du.“ Gul’dan zuckte bei der Kritik zusammen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, worin die Verbindung zwischen Kil’jaeden und den Draenei bestand und warum das schöne Wesen sie derart hasste. „Es war das erste Mal, dass wir eine ihrer Städte angriffen statt nur vereinzelte Jagdgruppen“, antwortete der Hexenmeister, ein wenig überrascht von seinem eigenen Wagemut.
Kil’jaeden neigte den gehörnten roten Kopf, dachte nach und nickte dann. „Richtig. Und es ist noch Zeit.“
Mehrere Tage waren seit dem Fall von Telmor vergangen. Beeindruckt von Durotans Werk hatte Kil’jaeden dem Frostwolf die Stadt als ein Geschenk überlassen wollen. Aber Durotan hatte abgelehnt. Die Frostwölfe, so sagte er, würden im Land ihrer Vorfahren weiterleben.
Die Schwarzfelsen hingegen waren nicht so dumm gewesen. Schwarzfaust und seine Familie lagen nun in den Betten, in denen einst der Magistrat der Stadt geschlafen hatte. Zuerst hatten die Orcs nicht gewusst, was sie mit den unbekannten Gegenständen der Draenei anfangen sollten. Aber inzwischen begannen sie sich an die Lebensart ihrer Opfer zu gewöhnen. Sie saßen auf Stühlen, aßen an Tischen, übten mit Draeneiwaffen, passten deren Rüstungen ihren massigeren Orc-Körpern an. Einige der Frauen und nicht wenige der Männer des Schwarzfels-Clans begannen die Kleidung der Draenei zu tragen; sie kombinierten sie mit traditionellen orcischen Tuniken und Schnallen.
Gul’dan wusste, dass viele sich fragten, warum er oder Ner’zhul die Stadt nicht für sich selbst beansprucht hatten. Es war ein verführerischer Gedanke gewesen, aber Gul’dan war von seinem Herrn wohl instruiert worden. Weltlicher Komfort war angenehm, aber Macht war süßer, und je weniger Gul’dan für sich selber öffentlich beanspruchte, desto größer wuchs seine Macht. Kil’jaeden würde ihn nicht im Stich lassen, solange Gul’dan die von seinem Herrn aufgetragenen Aufgaben zu desen Zufriedenheit erledigte. Ein paar Dinge waren zu jenem Ort gebracht worden, den er seit neuestem sein Heim nannte: ein riesiger runder Tisch mit Einlegearbeiten aus weich leuchtenden Schalen und Steinen und ein paar schöne Stühle.
Gul’dan trat vor den Tisch und ließ seine Hände über die polierte Platte gleiten. Er lächelte. Er musste nur noch die zusammenrufen, von denen er annahm, dass sie vertrauenswürdig waren. Einige Namen standen sofort fest. Andere kamen erst nach längerem Nachdenken dazu. Dann war die Liste vollständig, und sie war lang genug, um alle wichtigen Orcs zu berücksichtigen, und kurz genug, um dennoch übersichtlich zu sein...
Schneller, als er selbst bisher gehofft hatte, würde sich der Schattenrat bilden. Während nach außen hin Schwarzfaust die Orcs als Volk regierte und die „Feinde“, die Draenei, eliminierte, würde eine Handvoll Orcs, so korrupt und machthungrig wie Gul’dan selbst, die Fäden im Hintergrund ziehen.
Es ging nicht um die Orcs als Rasse.
Es war nie um die Orcs als Rasse gegangen.
Es ging um Macht, sie zu bekommen, sie auszuüben und sie zu behalten. Ner’zhul hatte das nie verstanden. Er mochte die Macht, aber er war nicht willens gewesen, ihr das Fleisch zu geben, nach dem sie verlangte. Das Ende, nach dem Kil’jaeden verlangte.
Täuschung, Lüge, Manipulation, selbst Schwarzfaust, der dachte, er wäre in Gul’dans ultimative Pläne eingeweiht, begriff dessen wahre Ambitionen nicht. Sie waren so groß wie Kil’jaedens Streben, die Draenei auszulöschen – so groß wie der Himmel, so tief wie die Ozeane und so beißend wie der Hunger.
Gul’dan schaute Ner’zhul geringschätzig an, während der ältere Orc, der einst sein Lehrer gewesen war, in der Ecke kauerte. Dann richtete er den Blick auf die blitzenden Augen Kil’jaedens, und das große Wesen nickte.
„Ruf sie!“, sagte Kil’jaeden. Seine Lippen teilten sich zu einem Lächeln und zeigten seine scharfen weißen Zähne. „Sie werden kommen, wenn du rufst. Und sie werden nach deiner Pfeife tanzen. Dafür werde ich sorgen.“