Es hatte seit einiger Zeit nicht mehr geregnet, und der Sommer schien heißer als sonst. Es war schon der zweite Sommer in Folge, in dem der Regen knapp gewesen war, und aus einer Laune heraus kniete sich Durotan nieder und grub seine Finger in den Boden. Einst war es fruchtbarer Lehm gewesen, dunkelbraun und von einem vollen erdigen Geruch. Nun aber gruben sich seine Finger mit Leichtigkeit durch den Staub, der weder Gras noch Getreide noch irgendetwas anderes nährte. Er rieselte wie Wasser durch Durotans Finger.
Er spürte, dass Draka kam, drehte sich aber nicht zu ihr herum. Ihre Arme griffen von hinten um seine Taille, und sie presste sich an ihn. Für einen langen Moment blieben sie einfach so stehen, dann, mit einem letzten Seufzen, ließ sie ihn los und ging um ihn herum. Durotan klatschte sich den Staub von den Händen.
„Wir haben uns ohnehin nie wirklich auf den Ackerbau verlassen“, sagte er leise.
Draka sah ihn mit ihren wissenden dunklen Augen an. Ihm schmerzte das Herz, wenn er sie ansah. Sie war so viel besser als er. Aber sie war die Gefährtin des Häuptlings, nicht der Häuptling selbst, und sie musste nicht die Entscheidungen treffen, die er zu fällen hatte.
„Wir haben uns stattdessen auf die Jagd verlassen“, antwortete sie. „Aber die Tiere, die wir jagen, leben von dem, was die Erde gibt. Alles ist miteinander verbunden. Die Schamanen wussten das.“
Sie verstummte, als einer der jüngeren Hexenmeister vorbeischritt, ein kleines hüpfendes Wesen an seiner Seite. Als sie an ihnen vorbeikamen, drehte sich das kleine Ding um, sah Draka an, lächelte und zeigte dabei einen Mund voll spitzer Zähne. Draka konnte einen Schauder nicht unterdrücken.
Durotan seufzte und gab ihr eine Schriftrolle. „Ich habe gerade dies hier erhalten. Wir müssen uns auf einen langen Marsch vorbereiten. Wir müssen unser Land verlassen.“
„Was?“
„Befehl von Schwarzfaust. Er lebt jetzt in dieser neuen Zitadelle, die extra für ihn gebaut wurde, und er will seine Armee dort haben. Es reicht nicht mehr, dass wir uns immer nur für einen Angriff zusammenschließen. Wir müssen zusammenleben und allzeit bereit sein, Schwarzfaust sofort zu folgen.“
Draka schaute ihn ungläubig an, dann richtete sie den Blick auf die Rolle, die er ihr hinhielt. Sie überflog die Botschaft, rollte das Pergament dann zusammen und gab es ihm zurück.
„Wir bereiten uns besser vor“, sagte sie leise, drehte sich um und ging zurück zu ihrem Zelt. Er sah ihr nach und fragte sich, was genau bei diesem Anblick sein Herz brechen ließ.
Die Zitadelle war noch nicht fertig. Aber als sie in Durotans Blickfeld geriet, blieb er beeindruckt stehen. Neben ihm erklang Gemurmel.
„So mächtig!“
„So groß!“
„Eines Kriegshäuptlings würdig!“
Durotan sagte nichts, aber er dachte: Blasphemisch! Eine Verschandelung der Landschaft. Ohne jede Harmonie!
Der reisende Frostwolf-Clan war immer noch mehrere Meilen weit entfernt, aber die Zitadelle am Horizont erschien ihnen wie ein lauernder Bussard. Nichts wies auf orcische Bauart hin. Diese Struktur, dieser architektonische Albtraum, diese Beleidigung von Auge und Geist wich noch mehr von jeder orcischen Baukunst ab als jedes Draenei-Gebäude. Durotan wusste natürlich, warum das so war. Die Zitadelle musste derart gigantisch sein, wenn dort auf Dauer eine Elitetruppe orcischer Krieger untergebracht werden sollte. Trotzdem hatte er etwas anderes erwartet.
Statt der sanften, glatten Linien, die die Gebäude der Draenei auszeichneten, wirkten die Mauern der Festung scharf und gezackt. Anstatt sich in die Landschaft einzufügen, dominierte die Zitadelle sie. Aus schwarzem Stein, kantigem Holz und Metall gefertigt, erhob sie sich trotzig zum Himmel. Durotan wusste, dass er von seiner Position nur den Hauptturm sehen konnte. Aber das reichte; er stand da wie angewurzelt, nicht gewillt, sich dieser Monstrosität auch nur noch einen Schritt zu nähern.
Er wechselte einen Blick mit Draka. Waren sie die Einzigen, die das bemerkten?
Der Rest des Frostwolf-Clans ging weiter, überholte seinen Häuptling. Widerwillig trieb Durotan sein Reittier an und folgte ihnen.
Dass sie sich der Festung näherten, machte sie nicht attraktiver, aber Durotan konnte andere Gebäude erkennen: Unterkünfte, Vorratsspeicher. Überall standen große Kriegsmaschinen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Sie wirkten ebenfalls düster, gefährlich und tödlich.
Mitglieder des Schwarzfels-Clans und andere grüßten eifrig. Durotan grüßte oberflächlich zurück und schickte die Frostwölfe zu einem flachen Platz im Westen, wo sie ihre Zelte errichteten. Es ging auf den Abend zu, als Durotan den Befehl erhielt, sich im Hauptgebäude der Zitadelle mit einigen anderen seines Clans einzufinden. Die zwanzigköpfige Gruppe gehorchte der Anweisung und wartete.
Durotan hörte die Trommeln zuerst aus der Ferne. Er straffte sich. Man hatte ihnen befohlen, keinerlei Waffen mitzubringen, sie sollten nur einfach kommen und warten; ihnen war nicht mal gesagt worden, worauf. Draka sah ihn besorgt an, aber Durotan wusste auch nichts Genaueres. Er tappte genauso im Dunkeln wie sie alle.
Der Trommelschlag näherte sich, und die Erde begann unter Durotans Füßen zu vibrieren. Das war nichts Ungewöhnliches. Er kannte es, wenn die Trommeln an ihrer heiligen Stätte geschlagen worden waren. Aber aus dieser Entfernung? Er hörte andere besorgt flüstern und wusste, dass er nicht der Einzige war, den eine düstere Vorahnung plagte. Der Boden zitterte weiter, die Schwingungen wurden stärker.
Zwei Schwarzfelsreiter erschienen und wirkten erfreut. „Fürchtet euch nicht, stolze Mitglieder der Horde!“, rief einer. „Unsere neuen Verbündeten, die der mächtige Schwarzfaust mitgebracht hat, kommen. Heißt sie willkommen.“
Etwas war vertraut an der Art, wie der Boden bebte. Das einzige andere Mal, da Durotan jemals so etwas erlebt hatte, war gewesen, als er...
„Oger!“, schrie jemand. Und tatsächlich, auch Durotan konnte sie sehen. Dutzende, riesig und grimmig, stapften heran, auf die Gruppe der wartenden Orcs zu. Mehr Wolfsreiter des Schwarzfels-Clans kamen hinzu, riefen und bliesen ihre Hörner.
Das waren die neuen Verbündeten? Durotan konnte es nicht fassen. Während er unbewegt dastand, unfähig, Worte zu finden, erschien der größte Oger, den er je gesehen hatte. Schwarzfaust persönlich schritt neben ihm her, die Bewegungen so geschmeidig und stolz, als würde er neben dem Koloss nicht wie ein Spielzeug wirken.
„Wir werden die Draenei vernichten!“, rief Schwarzfaust, und als ob sie darauf gewartet hatten, fielen die Oger ein: „Vernichten! Vernichten! Vernichten!“
Einen kranken, verwirrenden Moment lang floh Durotan, wieder ein Kind, vor solch einem Monster. Er blinzelte, und vor seinem inneren Auge sah er den Körper seines erschlagenen Vaters. Garads Schädel war wie eine Nussschale zerbrochen durch den einzigen Treffer eines Oger-Knüppels.
Orcs sollten Seite an Seite kämpfen mit dummen, hirnlosen Kreaturen, um ein intelligentes und friedfertiges Volk auszulöschen!
Die Welt war verrückt geworden.
Velen erschauderte. Sein Assistent berührte seinen Ellbogen, bot ihm ein warmes, beruhigend wirkendes Getränk an. Aber der Prophet lehnte ab. Kein Trost konnte von einem Getränk kommen. Es würde überhaupt keinen Trost mehr geben.
Er hatte sich gegrämt, als ihn die Nachricht erreichte, dass Telmor gefallen war. Und mit der Stadt sein lieber Freund Restalaan. Noch qualvoller war es gewesen, als er erfuhr, wie der Angriff stattgefunden hatte. Velen hatte in dem jungen Durotan etwas Besonderes gesehen, und was dieser für ihn getan hatte, als sich Velen in der Gewalt der Orcs befand, hatte das Vertrauen in den Häuptling der Frostwölfe noch bestärkt. Und nun dies! Durotan und Orgrim waren die einzigen Orcs, die jemals erfahren hatten, dass der grüne Stein die Stadt schützte. Einer von ihnen musste sich den Spruch gemerkt haben, der die Tarnfunktion des Steins aufhob. Einer Handvoll war die Flucht in den Tempel von Karabor gelungen. Ihre Wunden waren behandelt worden, doch es gab nichts, dass Velen oder irgendjemand sonst tun konnten, um ihre geschundenen Seelen zu heilen.