Dann hatte das Fest begonnen. Dutzende Tiere waren vorher geschlachtet worden, bevor der Winter gekommen war. Man hatte sie getrocknet und in Vorbereitung auf das Fest geräuchert. Freudenfeuer wurden entfacht, deren warmes Licht sich mit dem entrückten weißen Glühen der Dame mischte. Dann hatte das Trommeln begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört.
Auch Durotan durfte aufbleiben, bis alle gegessen hatten, wie alle anderen Kinder auch. Auf seinem Fell liegend schnaubte er herablassend über diesen Begriff. Dann waren die Schamanen losgezogen. Sobald die Eröffnungsfeier vorbei war, begab sich der Schamane jedes Clans auf den Oshu’gun, der über das Fest wachte. Dort betrat er die Höhlen, geleitet von den Geistern und den Ahnen.
Der Oshu’gun war selbst aus der Entfernung beeindruckend. Anders als andere Berge, die unregelmäßig und rau in ihrer Gestalt waren, erhob sich der Oshu’gun glatt und wohlgeformt wie eine Speerspitze. Er sah aus wie ein riesiger Kristall, der in die Erde gerammt worden war, so klar waren seine Linien und so hell glitzerte er im Sonnen- und Mondlicht. Einige Legenden erzählten, dass er vor hunderten von Jahren vom Himmel gefallen wäre. So etwas war so ungewöhnlich, überlegte Durotan, dass die Geschichten vielleicht stimmen konnten.
Obwohl der Oshu’gun sicherlich interessant war, hatte Durotan es immer für ein wenig ungerecht gehalten, dass die Schamanen dort die ganze Zeit des Kosh’harg-Festes verbringen mussten. So verpassten sie doch den ganzen Spaß. Aber das, so dachte er wiederum, galt ebenfalls für die Kinder.
Am Tag fanden die Jagden und Spiele statt, und es wurden Geschichten von den Heldentaten der Ahnen erzählt. Jeder Clan hatte eigene Sagen, und so bekam Durotan neben den Geschichten, die er bereits kannte, neue und aufregende Abenteuer zu hören.
So unterhaltsam das auch war und so sehr Durotan es auch mochte, er brannte doch darauf zu wissen, was die Erwachsenen beredeten, wenn die Kinder in ihrem Zelt schlummerten. Wenn sie ihre Körper streckten, voll gutem Essen und nachdem sie eine Pfeife geraucht und mehrere Bier getrunken hatten.
Er konnte es nicht länger aushalten. Leise stand Durotan auf, seine Ohren achteten auf jeden Laut, der anzeigte, ob noch jemand wach war. Er hörte nichts, und nach einer langen Minute bewegte er sich vorsichtig in Richtung Ausgang.
Es war ein langer Weg, und er kam in dem dunklen Zelt nur langsam voran. Schlafende Kinder aller Altersgruppen und Größen waren im ganzen Zelt verteilt. Sein Herz raste. Durotan stieg achtsam zwischen die kaum sichtbaren Körper und bewegte seine großen Füße mit der Eleganz des langbeinigen Sumpfvogels.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Durotan schließlich den Ausgang erreichte. Er blieb stehen, versuchte seinen Atem zu beruhigen, streckte seine Arme aus und...
Er berührte einen großen, weichen Körper, der direkt neben ihm stand. Er riss seine Hand mit einem überraschten Zischen zurück.
„Was machst du hier?“, flüstere Durotan.
„Was machst du hier?“, fragte der andere Orc zurück.
Auf einmal musste Durotan grinsen, weil sie sich so dumm benahmen.
„Dasselbe wie du auch“, antwortete er, seine Stimme immer noch dämpfend. Die anderen waren offenbar noch nicht aufgewacht. „Wir können hier bleiben und weiter darüber reden oder es einfach tun.“
Durotan konnte anhand des Körpers, der vor ihm stand, erkennen, dass der Orc groß und männlich war, vielleicht in seinem Alter. Weder Geruch noch Stimme ließen sich einordnen, also war es niemand vom Frostwolf-Clan. Es war ein gewagter Gedanke. Nicht nur, dass er etwas so Verbotenes tat, wie das Schlafzelt ohne Erlaubnis zu verlassen, sondern das auch noch in Begleitung eines Orcs, der nicht von seinem Clan war.
Der andere Orc zögerte; ohne Zweifel gingen ihm dieselben Gedanken durch den Kopf. „Gut“, sagte er schließlich. „Machen wir’s.“
Durotan streckte die Hände wieder aus, und er schob den Zeltvorhang beiseite. Dann kletterten die beiden jungen Orcs hinaus in die frostige Nacht.
Durotan drehte sich um, um seinen Begleiter anzusehen. Der andere Orc war muskulöser und ein wenig größer als er. Durotan war der Größte seines Alters in seinem Clan und nicht gewohnt, dass ihn andere überragten. Es war ein wenig beunruhigend. Als sein Gegenüber auch ihn anschaute, fühlte sich Durotan gemustert. Der andere nickte, offensichtlich zufrieden mit dem, was er sah.
Sie wagten nicht zu sprechen. Durotan zeigte auf einen nahe stehenden großen Baum, und leise liefen beide hinüber. Einen Moment, der sich für die beiden viel länger hinzog, waren beide ohne Deckung. Jeder Erwachsene, der seinen Kopf gedreht hätte, hätte sie gesehen. Aber es geschah nichts. Durotan war dennoch überzeugt davon, dass er so deutlich zu sehen war, als wäre helllichter Tag, so hell war das Mondlicht, das auf die weiße Fläche schien. Und sicher war das Knarzen des Schnees unter ihren Füßen so laut wie das Gebrüll eines wütenden Ogers.
Trotzdem erreichten sie schließlich den Baum und sanken dahinter zu Boden. Durotan stieß eine kleine Wolke aus, als er schließlich ausatmete. Der andere Orc drehte sich zu ihm um und grinste.
„Ich bin Orgrim aus der Familie von Telkar Schicksalshammer, vom Schwarzfels-Clan“, flüsterte der Junge stolz.
Durotan war beeindruckt. Obwohl die Schicksalshammer-Familie nicht die des Häuptlings war, war sie bekannt und geachtet.
„Ich bin Durotan, aus der Familie von Garad vom Frostwolf-Clan“, antwortete Durotan. Daraufhin war es an Orgrim, darauf zu reagieren, dass er neben dem Erben eines anderen Clans saß. Und er tat es auch, indem er zufrieden nickte.
Einen Moment lang saßen sie einfach nur da und genossen den Ruhm ihrer Tat. Dann spürte Durotan, wie Kälte und Nässe durch seinen dicken Umhang drangen, und stand auf. Wieder zeigte er auf die Lichtung, und Orgrim nickte erneut. Sie linsten vorsichtig um den Baum und lauschten angespannt. Endlich würden sie von den Geheimnissen hören, die sie so interessierten. Über das Prasseln des Feuers und das tiefe, kontinuierliche Schlagen der Trommeln drangen Stimmen zu ihnen herüber.
„Die Schamanen haben diesen Winter schwer mit dem Fieber zu schaffen“, sagte Garad, Durotans Vater. Er griff nach unten und streichelte einen großen weißen Wolf, der am Feuer schlief. Das Tier, dessen weißer Pelz es als Frostwolf kennzeichnete, machte ein sanftes Geräusch des Wohlbehagens. „Sobald eins der Kinder gesund wird, wird das nächste krank.“
„Ich wünsche mir auch den Frühling herbei“, sagte ein anderer, stand auf und warf Holz aufs Feuer. „Mit den Tieren ist es auch nicht leicht. Als wir uns auf das Fest vorbereitet haben, hatten wir Schwierigkeiten, Spalthufe zu finden.“
„Klaga macht eine leckere Suppe aus den Knochen, aber sie weigert sich, uns zu verraten, welche Kräuter sie hineingibt“, sagte ein dritter und schaute eine Frau an, die ein Baby säugte.
Die Frau, offensichtlich Klaga, lachte. „Die Einzige, die dieses Rezept bekommt, ist die Kleine hier, wenn sie das richtige Alter hat.“
Durotans Mund stand offen. Er drehte den Kopf und schaute Orgrim an, der einen ähnlichen Ausdruck der Bestürzung zeigte.
Das war also so wichtig, so geheim, dass den Kindern verboten wurde, das Zelt zu verlassen, um zuzuhören? Gerede über Fieber und Suppen?
Im hellen Mondlicht konnte Durotan Orgrims Gesicht gut erkennen. Die Augenbrauen des anderen waren zu einem Runzeln zusammengezogen.
„Du und ich können etwas Interessanteres machen als das, Durotan“, sagte er mit ruhiger, rauer Stimme.