Er überflog die Worte, und sie machten ihn krank. Er fühlte sich so hilflos wie eine Fliege, die in den dicken Saft, der aus den Olembabäumen lief, eingeschlossen wurde. Allerdings waren die Bäume, die den süßen Nektar absonderten, entweder gefällt worden, weil ihr Holz für die Produktion von Waffen benutzt wurde, oder sie starben einfach. Ner’zhul schüttelte den Gedanken ab und rollte die Botschaften zusammen. Seine Augen fielen auf den Stapel unbenutzten Pergaments und auf das Tintenfass samt Federkiel.
Der Gedanke war so dreist, dass sein Herz für eine Sekunde aussetzte.
Schnell schaute er sich um. Er war völlig allein, und es gab auch keinen Grund für Gul’dan, noch einmal zurückzukommen. Gul’dan, Kil’jaeden, der Rat, sie alle dachten, er – Ner’zhul – wäre endgültig gebrochen, so harmlos wie ein zahnloser Wolf, der seine alten Knochen am Feuer wärmte, bis er in den Schlaf des Todes glitt. Und sie hatten größtenteils Recht.
Größtenteils.
Ner’zhul hatte sich damit abgefunden, dass man ihm seine Kräfte genommen hatte. Seine Kräfte, aber nicht seinen Willen. Wenn ihm auch der genommen worden wäre, er wäre unfähig gewesen, Kil’jaeden zu widerstehen.
Ner’zhul konnte nicht direkt handeln. Aber es war vielleicht möglich, jemanden zu kontaktieren, der das konnte.
Seine Finger zitterten, als er ein Stück Pergament nahm. Er war für einen langen Moment gezwungen, sich selbst zu beruhigen, bevor er irgendetwas Lesbares schreiben konnte. Schließlich kritzelte er eine kurze Nachricht, trocknete die Tinte und rollte das Pergament zusammen.
Der Wolf war zahnlos. Aber der Wolf hatte nicht vergessen, wie man kämpfte.
Mehr Marschbefehle. Durotan hatte sie reichlich satt. Es gab keine Pausen mehr. Nur noch Kampf, Rüstung reparieren, hartes und sehniges Fleisch essen, auf dem Boden schlafen und dann wieder in eine neue Schlacht ziehen. Vorbei waren die Zeiten des Trommelns, Lachens, Feierns und der Rituale. Das perfekte Dreieck des Geisterbergs am Horizont wurde von dem dunklen, bedrohlichen Bild einer Bergspitze ersetzt, die immer wieder schwarzen Rauch ausstieß. Einige erzählten sich, eine Kreatur schliefe tief im Berg und dass sie eines Tages erwachen würde. Durotan wusste nicht mehr, was er glauben sollte.
Als der Kurier eintraf, nahm Durotan die Nachricht entgegen und begann gelangweilt zu lesen. Seine Augen weiteten sich jedoch mit jeder Zeile. Und als er am Ende angelangt war, schwitzte und zitterte er. Er schaute auf und fragte sich besorgt, ob jemand vom Inhalt des Briefes erfahren haben konnte, indem er ihn beim Lesen beobachtet hatte. Orcs liefen an ihm vorbei, Staub auf ihrer rauen, fleckigen Haut und den zerdellten Rüstungen, doch niemand schien ihn zu beachten.
Erlief zu Draka, der einzigen Person auf der Welt, der er diese Neuigkeit anvertrauen durfte. Ihre Augen weiteten sich, als sie las.
„Wer weiß sonst noch davon?“, fragte sie, darum bemüht, möglichst neutral zu schauen.
„Nur du“, sagte er leise.
„Wirst du Orgrim davon erzählen?“
Durotan schüttelte den Kopf. Sein Herz schmerzte. „Das traue ich mich nicht. Er ist Schwarzfaust eidverpflichtet.“
„Glaubst du, Schwarzfaust weiß davon?“
Durotan zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, wer was weiß. Ich weiß nur, dass ich meine Leute schützen muss. Und das werde ich.“
Draka schaute ihn lange an. „Wenn wir uns dem als geschlossener Clan verweigern, wird es Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Vielleicht bedeutet es sogar Exil oder Tod.“
Durotan deutete auf den Brief. „Alles das ist besser als das, was passiert, wenn wir gehorchen. Ich habe geschworen, meinen Clan zu schützen. Ich werde meine Leute nicht übergeben an...“
Er erkannte zu spät, dass er lauter sprach und sich bereits einige Köpfe zu ihm umdrehten. „Ich werde sie nicht in die Sklaverei schicken.“
Drakas Augen füllten sich mit Tränen, und sie ergriff seinen Arm. Ihre Krallen gruben sich in sein Fleisch. „Das“, sagte sie heftig, „ist der Grund, warum ich deine Gefährtin bin. Weil ich so stolz bin auf dich.“ !
19
Ich bin stolz auf mein Erbe. Ich bin stolz, dass Durotan und Draka meine Eltern sind. Ich bin stolz, dass mich Orgrim Schicksalshammer Freund nennt und mir bei der Führung des Volkes, das er liebt, vertraut.
Ich bin stolz auf den Mut meiner Eltern, und gleichzeitig wünschte ich, sie hätten mehr tun können. Aber ich war nicht an ihrer Stelle. Es ist leicht, sich Jahrzehnte später aus einer sicheren Position heraus zurückzulehnen und Kritik zu üben: „Du hättest das anders machen müssen“ oder „Du hättest besser jenes gesagt.“
Ich verurteile niemanden. Mit Ausnahme der Handvoll Orcs, die genau wussten, was sie taten. Die wussten, dass sie das Leben und die Bestimmung unseres Volkes eintauschten gegen eine kurzfristige Erfüllung ihrer Wünsche. Und sie taten es auch noch mit Freude.
Über die anderen kann ich nur den Kopf schütteln und dankbar sein, dass ich nicht die Entscheidungen fällen musste, die sie zu treffen hatten.
Gul’dan war so aufgeregt, dass er sich kaum zurückhalten konnte. Er hatte auf diesen Augenblick gewartet, seit Kil’jaeden zum ersten Mal davon gesprochen hatte. Er wollte noch schneller vorankommen als selbst sein Meister, aber Kil’jaeden hatte gelacht und ihn zur Geduld gemahnt.
„Ich habe sie gesehen, sie sind noch nicht bereit. Der Zeitplan ist wichtig, Gul’dan. Ein Schlag, der zu früh kommt oder zu spät, tötet nicht, sondern verwundet nur.“
Gul’dan hielt es für eine merkwürdige Metapher, verstand aber, was Kil’jaeden ihm sagen wollte. Endlich jedoch glaubte auch Kil’jaeden, dass die Orcs für den abschließenden Schritt bereit waren.
Der Schwarze Tempel hatte einen Innenhof, der offen zum Nachthimmel war. Als der Tempel noch den Draenei gehört hatte, war der Bereich ein fruchtbarer Garten gewesen, mit einem rechteckigen Becken in der Mitte. Die Eroberer hatten das süße, reine Wasser während der letzten Wochen ausgetrunken und sich nicht darum gekümmert, es wieder aufzufüllen. So war das Becken nicht mehr als Stein und Fliesen. Die Bäume und die blühenden Pflanzen, die darum gestanden hatten, waren längst eingegangen. Auf Kil’jaedens Anweisung hin standen Ner’zhul und Gul’dan neben dem leeren Becken. Keiner wusste, was ihn erwartete.
Einige lange Stunden standen sie in völliger Stille da. Gul’dan fragte sich, ob er den Herrn vielleicht irgendwie verärgert hatte. Der Gedanke trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er sah nervös hinüber zu Ner’zhul. Er fragte sich, ob man den aufsässigen Schamanen für seine Befehlsverweigerung hinrichten würde, und er freute sich ein wenig bei diesem Gedanken.
Sein Geist wanderte, zog verschiedene Foltermethoden in Betracht, die man Ner’zhul antun konnte, als ein plötzliches lautes Donnern erklang. Gul’dan sah zum Himmel. Wo vorher noch Sterne gewesen waren, befand sich auf einmal nur völlige Schwärze. Er schluckte schwer, sein Blick war von der Leere gefesselt.
Plötzlich begann die Dunkelheit zu pulsieren. Es sah aus wie eine Gewitterwolke, schwarz und brodelnd. Dann begann sie sich in Wirbeln zu drehen, erst langsam, dann immer schneller. Wind fuhr durch Gul’dans Haar und wehte durch seine Robe, bis der Wind seine Haut scheuerte. Die Erde unter seinen Füßen bebte. Aus den Augenwinkel heraus sah er, wie sich Ner’zhuls Lippen bewegten, aber er konnte nicht hören, was er sagte. Der Wind war zu laut, das Beben des Bodens unter seinen stetig unsichereren Füßen zu heftig.
Der Himmel riss auf.
Etwas Grelles und Strahlendes donnerte direkt vor Gul’dan und Ner’zhul in die Erde. Es schlug so hart auf, dass Gul’dan stürzte. Eine lange schreckliche Minute lang konnte er nicht atmen, er lag nur auf dem Boden und schnappte wie ein Fisch auf dem Trocknen nach Luft, bis sich schließlich seine Lungen wieder daran erinnerten, wie sie funktionierten, und er sog laut die Luft ein.