Er dachte an den Inhalt der Botschaft, geschrieben in der archaischen Sprache, die einige wenige der gut ausgebildeten Schamanen und Clanführer kannten:
Du wirst aufgefordert zu trinken. Lehne ab. Es ist das Blut verderbter Seelen, und es wird dich verderben und all die, die davon trinken. Es wird dich für immer versklaven. Bei der Liebe all dessen, was uns früher teuer war – lehne ab!
Die alte Sprache hatte ein einziges Wort für „verderbte Seelen“.
Das waren die Wesen, die durch den Willen der Hexenmeister kontrolliert wurden. Die Flüssigkeit, die jene getrunken hatten, die Durotan einst Freund und Feind nannte, war das Blut von so einer Kreatur gewesen. Nun beobachtete Durotan, wie die verderbten Seelen, zu denen auch die Orcs geworden waren, wie wahnsinnig im Schein des Feuers tanzten, bevor sie den Berg hinabstürmen würden, erfüllt von unnatürlicher Wut und Energie, um die am besten befestigte Stadt anzugreifen, die diese Welt je gesehen hatte.
Verderbte Seelen.
Dae’mons.
Dämonen.
20
Ich habe mit vielen gesprochen, die bei der Zerstörung der Stadt Shattrath dabei waren. Wenn ich sie danach frage, sind ihre Gedanken unklar, und ihre Erinnerung ist unpräzise. Selbst Drek’Thar, der sich an so vieles mit erstaunlicher Genauigkeit erinnert, stammelt und zögert, wenn ich ihn nach Details frage. Es ist, als ob die, die das Dämonenblut getrunken hatten, sich nur an ihre Wut erinnern können. Und selbst die wenigen, die wie Drek’Thar nichts davon tranken, bekommen alle Einzelheiten nicht mehr zusammen. Als ob diese schreckliche Gräueltat vergessen werden will.
Fest steht, dass einige Draenei den Angriff überlebten; ich habe die armen, mitleiderregenden Geschöpfe, die einst die herrlichen Draenei waren, mit eigenen Augen gesehen, wie sie einsam durch Azeroth zogen, als gebrochene Gestalten nach einer Heimat suchend. Diese „Verlorenen“ verdienen unser Mitleid.
Deshalb sind diese Aufzeichnungen ein wenig ungenau, was ich bedauere. Diese Momente, so dunkel sie auch sein mögen, sollten nicht in Vergessenheit geraten. Aber das ist die Aufgabe der Chronisten.
Die Orcs rannten den Pfad hinab, erfüllt von dem wilden Drang, zu töten und alles zu zerstören. Einige waren derart voll Zorn und Hass, dass sie auf Steine eindroschen, als sie daran vorbeiliefen. Einige brüllten vor Wut. Andere schauten grimmig und strahlten eine tödliche Stille aus; sie sparten sich ihre Energie auf, um sie im richtigen Moment einzusetzen.
Während des langen Laufs hatte Durotan mehr Angst vor seinen eigenen Leuten, Wesen, die er einst Freunde genannt hatte, als vor den keulenbewehrten Ogern oder den Draenei. Kalter Schweiß lief ihm übers Gesicht, er zitterte, jedoch nicht aus Angst um sich selbst –er fürchtete sich vor dem, was als Nächstes passieren würde. Dabei sorgte er sich nicht um die Draenei, deren Schicksal bereits feststand, sondern um die Orcs. Auf dem Weg nach Shattrath konnte er sich nicht dazu überwinden, sie „Die Horde“ zu nennen.
Plötzlich holte sie ein fürchterliches Rumpeln von den Füßen. Sie standen wieder auf, schauten sich um und sahen, was die Erschütterung verursacht hatte.
Es wirkte so, als wäre der Berg explodiert. Flüssiges Feuer wurde in die Nacht geschleudert, dann stürzte es wieder hinab und spritzte in die zerklüftete Bergspitze. Es leuchtete und glühte wie das Dämonenblut, das die Orcs gerade erst getrunken hatten, obwohl seine Farbe orangegelb war und nicht von bedrohlichem Grün. Mehr und mehr geschmolzenes Gestein wurde aus dem Berg geschleudert. Es war ein herrlicher und zugleich auch erschreckender Anblick.
Die Orcs sahen es als ein Zeichen, und Jubel brandete auf. Kurz feierten sie den Berg, den Thron von Kil’jaeden, der ihr Unternehmen segnete. Dann drehten sie sich um und stürmten weiter die Bergflanke hinab.
Eine Meile vor der Stadt wurden sie langsamer. Ein Bereich war vor nicht allzu langer Zeit gerodet worden, und zunächst schauten sich die ersten eintreffenden Orcs verwirrt um. An diesem Ort hatten sie sich sammeln sollen. An diesem Ort hätten eigentlich die Kriegsmaschinen für sie bereitstehen sollen.
Plötzlich materialisierte etwas vor ihren Augen. Die Orcs zuckten zurück und zischten. Dann begannen sie, das große Ding anzuknurren. Es ragte hoch über sie auf, war dreimal größer als selbst der größte Oger. Das Rot seines Körpers reichte von seinen behuften Füßen bis zur Spitze seines zuckenden Schweifs, von seinen vorstechenden Hörnern bis zu seinen scharfen schwarzen Nägeln. So etwas Großes hatten sie noch nie gesehen, aber seine Gestalt... Durotan starrte das Wesen an und dachte, dass es exakt so aussah wie ein riesiger rothäutiger Draenei. Die plötzliche Erkenntnis, dass die Orcs in einen persönlichen Konflikt gezogen worden waren, der sie niemals etwas angegangen war, überkam ihn wie eine Flutwelle.
„Ihr habt nichts zu befürchten und alles zu feiern, ihr, die ihr mir Gefolgschaft geschworen habt!“, rief die Kreatur mit einer Stimme, die bis ins Mark ging. „Ich bin Kil’jaeden, das schöne Wesen, derjenige, der schon seit Anbeginn bei euch war. Ich bin erschienen, als Anführer der ruhmreichsten Schlacht aller Zeiten. Einst haben sich die Draenei gegen euch verschworen, verbargen eine ganze Stadt vor euren Augen. Aber ihr habt die Stadt zerstört und ihren Tempel erobert. Alles, was bleibt, ist diese letzte Schlacht, und dann ist die Bedrohung ausgelöscht. Der grüne Stein, der einst die Stadt Telmor verbarg, verbirgt vor ihnen nun ihren eigenen Untergang. Kehla men samir, solay lamaakahl!“
Die Illusion verschwand, und auf einmal befanden sich vor ihnen Dutzende Katapulte, Rammböcke und andere Belagerungswaffen aller Art. Neben den Kriegsmaschinen standen ruhig die Oger, ihre dummen Gesichter von Hingabe erfüllt. Sie trugen Waffen, die extra für ihre Größe gemacht worden waren. Durotan schätzte, dass es mindestens drei Dutzend waren, jeder bereit zum Kampf. In ihren Fäusten sahen die riesigen Waffen wie Spielzeuge aus.
„Es gibt noch mehr“, sagte Kil’jaeden und winkte mit seinen Händen. Die Hexenmeister schrien alle und fassten sich an die Köpfe, dann blinzelten sie und lachten. „Neue Zauber sind in euren Geist eingedrungen. Nutzt sie gut. Vernichtet die Draenei -jetzt!“
Als hätte er ein Tor geöffnet, setzte sich die blutdurstige Schar in Bewegung. Einige Oger schoben die Belagerungsmaschinen, mit denen sie die Mauern der Stadt brechen würden, mit einer Kraft, die Durotan nie zuvor erlebt hatte. Die anderen stampften zu den Orcs und wirbelten dabei die immens schweren Waffen mit unglaublicher Leichtigkeit. Andere Orcs waren dem Blutrausch zu sehr verfallen und rannten einfach in Richtung Stadt. Was sie dort tun würden, wusste Durotan nicht, aber er und sein Clan folgten pflichtgemäß.
Die von den Ogern geschobenen Kriegsmaschinen und die Orcs bewegten sich vorwärts. Aber noch bevor sie in Position kamen, wurden die Stadtmauern attackiert. Riesige und grün leuchtende Steine fielen vom Himmel und schlugen in die Stadt ein. Türme und Zitadellen, die sich über den Mauerrand erhoben, zerbarsten und stürzten ein, und auch die Mauer selbst gab an einigen Stellen nach. Aber das Gefährliche war nicht, dass die Felsen vom Himmel fielen. Der eigentliche Schrecken zeigte sich erst, als sie am Boden aufschlugen.
Mit beängstigendem Tempo entstanden aus den Felsen Kreaturen, die scheinbar selbst aus grünem Stein bestanden. Sie hämmerten gegen die Mauern, unterstützt von normalen Steinbrocken, die von den Katapulten geschleudert wurden. Riesige Baumstümpfe donnerten gegen die Tore. Zwei Oger schlugen mit ihren Knüppeln gegen das Haupttor, und das Holz erzitterte. Von drinnen konnte Durotan gleichermaßen Wut- und Schreckensschreie hören, als die Draenei gegen die Kreaturen kämpften, die die Hexenmeister „Die Infernalischen“ nannten. Die meisten der Hexer nutzten diese neuen Diener, aber ein paar hatten auch noch immer kleinere Kreaturen unter ihrem Befehl, weil sie ihnen vertraut waren.