„Die Ausrottung der Draenei wird zur Ausrottung der Orcs führen, wenn nicht etwas unternommen wird“, sagte Durotan. „Wir wenden uns gegeneinander, erniedrigen uns, indem wir den Kindern Nahrung stehlen, weil uns das Land nicht mehr ernähren kann. Die Dämonen, die an den Schößen der Hexer hängen, können zerstören und foltern, aber sie können nicht heilen oder die Verhungernden füttern.“
Orgrim fragte mit gedämpfter Stimme: „Hat jemand... versucht, die Elementen zu beschwören?“ Solche Aktivitäten waren immer noch verboten, aber Orgrim wusste, dass die Verzweiflung einige die alten Wege überdenken ließ.
Durotan nickte. „Es war ein Fehlschlag. Da war nur eisige Stille. Dämonen bewachen den Oshu’gun. Er ist keine Hoffnung mehr für uns.“
„Dann... sind wir am Ende“, sagte Orgrim leise. Er schaute auf seinen Hammer, dessen Schaft an seinem Bein lehnte, und fragte sich, ob sich die Prophezeiung bezüglich des Schicksalshammers noch immer erfüllen konnte, wenn er der Letzte in seiner Familie war. Hatte diese Waffe bereits Erlösung gebracht und dann Verdammung, indem er sie benutzt hatte, um die Draenei auszulöschen? Doch wie konnte er ihn einsetzen, um Gerechtigkeit zu bringen?
Wenn alles starb, wie sollte sich dann alles verändern können?
Der Wille zu Überleben war stark, dachte Gul’dan, als er sich für die Nacht bereitmachte. Er war dazu übergegangen, im Schwarzen Tempel zu übernachten, in einem Raum, den er speziell für sich eingerichtet hatte. Darin hatte er auf rituelle Art all die Schmuckstücke und Werkzeuge angeordnet, die er brauchte, um die Dämonen, die er rief, sicher zu kontrollieren: Splitter von Draeneiseelen, bestimmte Steine für die größeren Kreaturen, Tränke, die ihm halfen, seine Energie zu regenerieren, wenn er sich verausgabte... Es gab Schädel, Knochen und andere Symbole der Dominanz. In Schalen verbrannten bestimmte Kräuter, deren scharfes oder süßes Aroma Visionen verursachte.
Solch einer Schale wandte er sich gerade zu. Er hatte in einem Kessel ein kleines Feuer entzündet und das Holz bis zur Glut herunterbrennen lassen. Leise singend warf Gul’dan getrocknete Blätter in die Glut und unterdrückte den Husten, als Rauch die Luft erfüllte. Er ging zu seinem Bett, ihm gefiel der Gedanke, dass dies auch das Bett des verfluchten Velen gewesen war, wenn er sich im Tempel aufgehalten hatte und schlief schnell ein.
Gul’dan träumte, wie er seit Kil’jaedens Verschwinden nicht mehr geträumt hatte. Er befand sich im Traum an einem merkwürdigen dunklen Ort, doch er wusste, dass die Vision echt war.
Er sah ein leicht Orc-ähnliches Wesen, das in eine lange Robe gekleidet war, deren Kapuze sein Gesicht bedeckte. Es war schlank, schlanker noch als eine Orc-Frau, aber irgendwie wusste er sofort, dass das Wesen männlich war. Obwohl er Gul’dan zart gebaut erschien, spürte er die Macht, die von dem Fremden ausging. Ein Schauder durchrieselte ihn. Als der Fremde in seinem Geist sprach, klang seine Stimme nicht nur männlich, sondern auch angenehm und zwingend.
„Du fühlst dich ziellos und allein“, sagte der Fremde.
Gul’dan nickte, zugleich vorsichtig und drängend.
„Kil’jaeden versprach dir Macht, Stärke, Göttlichkeit. Dinge, die deine Welt niemals gesehen hat“, fuhr die sanfte Stimme fort. Der Mund blieb im Schatten der Kapuze verborgen.
Die Worte schmeichelten Gul’dan, lullten ihn ein und riefen zugleich Furcht in ihm hervor. Aber er fühlte sich eher verärgert als ängstlich.
„Er hat mich verlassen“, entgegnete er. „Er brachte uns dazu, unsere Welt zu zerstören, und dann verließ er uns, damit wir mit ihr sterben. Wenn du von ihm kommst, dann...“
„Nein, nein“, beruhigte ihn der Fremde mit der merkwürdig zwingenden Stimme. „Ich komme von einem Größeren.“ Seine Augen glitzerten tief in den Schatten der Kapuze. „Ich komme von seinem Meister.“
Gul’dans Haut prickelte. „Seinem... Meister?“
Der Strom der Bilder, der in seinen Geist eindrang, überwältigte ihn fast. Bilder von Kil’jaeden und Velen und Archimonde, wie sie vor langer Zeit gewesen waren. Er sah die Verwandlung der ehemaligen Eredar in Monster und Halbgötter. Und er spürte eine große Präsenz dahinter, die er jedoch nicht zu sehen bekam.
„Sargeras!“
Er konnte immer noch nicht das Gesicht des Fremden sehen, aber Gul’dan wusste, dass er lächelte.
„Ja. Der eine, der über alles herrscht. Der eine, dem wir dienen. Du wirst es bald verstehen, Gul’dan, dass Zerstörung und Vergessen schön und rein sind. Dahin müssen sich alle Dinge entwickeln. Du kannst ihm widerstehen und wirst dann vernichtet. Oder du hilfst ihm und wirst belohnt.“
Vorsichtig und immer noch verwirrt von der vermummten Gestalt mit seiner honigsüßen Stimme fragte Gul’dan: „Was wird von mir verlangt?“
„Dein Volk stirbt“, sagte die Gestalt geradeheraus. „Es gibt nichts mehr auf dieser Welt, dass sie zerstören können. Es gibt nichts mehr auf dieser Welt, dass ihnen das Überleben ermöglichen könnte. Sie müssen woandershin gehen. Dorthin, wo es ausreichend Nahrung gibt und Gegner, die zu töten es sich lohnt. Die Orcs hungern genauso danach wie nach Nahrung. Gib ihnen das Blut, nach dem sie dürsten.“
Gul’dan verkniff die Augen zu Schlitzen. „Das klingt nach einer Belohnung, nicht nach einer Aufgabe, die ich zu erfüllen hätte.“
„Es ist beides und es ist nicht die einzige Belohnung, die euch mein Meister anbietet. Du regierst den Schattenrat, du hast seine Macht gekostet. Du bist der größte Hexenmeister, den dein Volk hat, und du weißt, wie sehr dich das erfüllt. Stell dir vor, du wärst ein Gott!“
Gul’dan zitterte. Das war ihm schon zuvor versprochen worden, aber irgendwie wusste er, dass dieser Sargeras viel eher in der Lage war, solche außergewöhnlichen Wünsche zu erfüllen. Wenn er die Hand ausstreckte, sollte die Erde erbeben. Die Blicke Tausender sollten auf ihn gerichtet sein und ihre rauen Stimmen seinen Namen rufen.
„Wir haben gemeinsame Feinde“, fuhr der Fremde fort. „Ich will, dass ihr sie tötet. Es würde den Hunger deines Volkes stillen.“ Der Schatten unter der Kapuze lichtete sich ein wenig, und Gul’dan sah weiße Haut und einen dünnlippigen lächelnden Mund, der von einem schwarzen Bart eingerahmt war. „Es ist eine Partnerschaft, die uns beiden nützt.“
„In der Tat“, hauchte Gul’dan. Er bemerkte, dass er sich auf den Fremden zu bewegte, als würde er zu ihm gezogen. Er hielt an und fügte hinzu: „Aber ich kann nicht glauben, dass das alles ist, was du von mir willst.“
Der Fremde seufzte. „Sargeras wird dir all das geben und mehr. Nur... er ist derzeit gefangen. Er braucht Hilfe, um zu entkommen. Sein Körper steckt in einer alten Gruft, vergessen unter einem trüben Ozean der Dunkelheit. Er will frei sein, giert nach der Macht, die er einst hatte, so wie ihr Orcs nach Tod und Blut giert. Bring deine Orcs in diese unverderbte grüne Welt. Gib ihnen weiches Fleisch, in das sie ihre Äxte schlagen können. Erschlagt die Bewohner dieser Welt, stärke deine Leute, und mit der großen grünen Flut deiner Krieger schließe dich mir an, um unseren Meister zu befreien. Seine Dankbarkeit...“
Wieder sah Gul’dan das verschlagene Lächeln, das Blitzen der weißen Zähne. Und wieder spürte er die machtvolle Ausstrahlung, die nur durch den Willen des Fremden gebändigt wurde.
„... nun, sie ist vielleicht jenseits deiner Vorstellungskraft, Gul’dan.“
Gul’dan dachte nach. Das Bild des Fremden verblasste allmählich. Gul’dan schnappte nach Luft, als er plötzlich auf einer schönen Wiese stand und der Wind in sein geflochtenes Haar fuhr. Er sah Tiere, wie er sie noch nie erblickt hatte. Am Horizont standen gesunde Bäume. Seltsame Wesen, den Orcs ähnlich, mit rosafarbener Haut und so dünn wie der Fremde, kümmerten sich um Felder und Tiere.
Perfekt.
Das Bild veränderte sich wieder. Plötzlich war er unter Wasser und tauchte hinab in die Tiefe. Seine Lungen gierten dennoch nicht nach Luft. Seetang trieb im Wasser. Trotzdem erkannte er ein paar umgefallene Säulen und eine verwitterte Tafel mit einer merkwürdigen Inschrift. Ein Schauder durchfuhr ihn, als er erkannte, dass dies der Ort war, an dem Sargeras gefangen gehalten wurde. Befreie ihn aus diesem Gefängnis und dann... dann...