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„Ich hoffe, du hast recht“, sagte Durotan. Aber er konnte keinen anderen Grund erkennen, warum die kleine Gestalt dort vor ihnen stand. Wenn aber seine Befürchtungen zutrafen, würde er nicht einfach zuschauen können. Er wollte seinen Clan nicht noch mehr in Gefahr bringen, deshalb betete er, dass er falsch lag.

Die Hexenmeister sangen, und zu Durotans Erstaunen erschien Gul’dan direkt vor ihren Augen. In der Horde erhob sich ein Murmeln, während Gul’dan ihnen wohlwollend zulächelte.

„Heute ist ein glorreicher Tag für die Orcs!“, rief er. „Ihr alle wart Zeugen, wie das Portal gebaut wurde, das ein Monument für den Ruhm der Horde darstellt. Jetzt werde ich euch die Visionen zeigen, die ich habe.“

Er deutete auf das Tor. „Weit, weit weg liegt ein Land namens Azeroth. Ich habe dort einen Verbündeten. Er bietet uns sein Land an. Es ist grün und fruchtbar, mit sauberem Wasser und fetten Kreaturen. Und das Beste daran: Wir werden weiterhin Blut vergießen können. Ein Volk, genannt Menschen, der Feind unseres Verbündeten, wird versuchen, uns davon abzuhalten, dieses Land in Anspruch zu nehmen. Wir werden sie vernichten. Ihr dunkles Blut wird unsere Schwerter benetzen. So wie wir die Draenei ausgelöscht haben, so werden wir jetzt die Menschen auslöschen!“

Jubel brandete auf. Draka schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie können sie immer noch so fühlen? Begreifen sie denn nicht, dass dieses neue Land genauso leiden wird wie unser altes, wenn wir so weitermachen?“

Durotan nickte zustimmend. „Aber leider haben wir keine andere Wahl. Wir brauchen Nahrung und Wasser. Wir müssen durch das Portal gehen.“

Draka seufzte, als sie die Logik erkannte, die sie dennoch nicht mochte.

„Unser Verbündeter wird das Portal von seiner Seite aus öffnen, sobald wir dies auf unserer Seite machen. Und das werden wir jetzt tun.“ Gul’dan wies auf den kleinen gefangenen Draenei. „Unser Geschenk an die, die uns diese großen Kräfte geben, ist reines, unverdorbenes Blut. Und das Blut eines Kindes ist noch reiner und unverdorbener. Mit dem Lebenssaft dieses Feindes öffnen wir das Portal und treten in eine herrliche neue Welt, und eine neue Epoche in der Geschichte der Horde beginnt!“

Er trat zu dem gefesselten Kind, das ihn mit leeren Augen anschaute. Gul’dan zog einen juwelenbesetzten Dolch. Er glitzerte im Sonnenlicht.

„Nein!“

Durotan hatte es gerufen. Jeder drehte sich um und starrte ihn an. Er drängte vorwärts. Wenn diese Unternehmung durch das Blut eines unschuldigen Kindes ermöglicht wurde, konnte nichts Gutes daraus erwachsen.

Er schaffte keine drei Schritte, bevor er zu Fall gebracht wurde und hart auf die sonnengebackene Erde aufschlug. In dem Moment, da es passierte, hörte er Drakas Kriegsruf und den Klang von Metall auf Metall. Chaos brach aus. Er kämpfte sich auf die Füße und sah den Körper des Kindes. Blaues Blut sprudelte aus seiner aufgeschnittenen Kehle.

„Gul’dan! Was hast du uns angetan?“, kreischte Durotan, aber sein Protest ging im Gebrüll des aufgehetzten Mobs unter. Die Frostwölfe drängten heran, um ihren Häuptling zu schützen. Die Kriegsrufe waren fast schon ohrenbetäubend. Durotan wurde der Atem aus der Lunge gepresst, als der Angreifer – er konnte nicht sagen, von welchem Clan er war – ihn erneut attackierte. Zur Verteidigung hob Durotan die Axt und schwang sie dann. Der andere wich aus, bewegte sich schneller, als Durotan es erwartet hatte, griff wieder an und...

Der Klang der Schreie änderte sich abrupt, als der Boden unter ihren Füßen rumpelte und ein tiefer, durchdringender Laut sie alle bis ins Mark erschütterte. Die Kämpfe brachen ab, und alle Orcs schauten zum Portal. Noch vor einem Augenblick hatte man zwischen den beiden steinernen Säulen hindurchschauen können und nur die Landschaft der Höllenfeuerhalbinsel gesehen. Auf einmal aber herrschten dort Schwärze und wirbelnde Sterne. Selbst Durotan war von dem Anblick gebannt. Als er genauer hinsah, schimmerte die Schwärze, und ein Bild formte sich, das ihn ebenso erschreckte wie verwirrte.

Gul’dan hatte von einem schönen Land gesprochen, reich an fetten Beutetieren, fruchtbaren Feldern und blauem Himmel. Durotan sah einen Ort, den er noch nie gesehen hatte. Doch was für ein Unterschied zu dem idyllischen Reich, das Gul’dan beschrieben hatte! Es war so feucht, wie Draenor trocken war. Träger Dunst floss über brackiges Wasser und bewegte Sumpflandgräser. Ein schrilles Zirpen erfüllte die Luft, Immerhin, dachte Durotan, gab es Leben an diesem seltsamen Ort.

Ein Murmeln lief durch die Menge. Dahin wollte Gul’dan sie schicken? Es war auf den ersten Blick nicht viel besser als ihr eigenes Land. Aber dann dachte Durotan daran, dass Wasser Leben bedeutete. Auch wenn der Himmel orange statt blau war und das Land schlammig statt mit Blumen und Wiesen bedeckt, war es doch in der Lage, Leben zu erhalten.

Er sah Gul’dan an, als das Gemurre anschwoll. Gul’dan musste offenbar noch seinen Schock überwinden. Er gestikulierte um Ruhe.

„Azeroth ist eine große Welt, so wie diese hier!“, rief er. „Ihr wisst, wie unterschiedlich eine Welt von Land zu Land sein kann. Ich bin mir sicher, genauso ist es hier. Dieser Ort sieht nicht so einladend aus, aber...“ Seine Stimme wurde leiser, und er schüttelte sich. „Aber seht, es ist echtes Land, es ist real! Ihr...“

Gul’dan brach wieder ab und wies auf zwei Dutzend voll gerüstete Orcs, die neben dem Portal standen. Sie sprangen in Habachtstellung. „Ihr wurdet ausgewählt, die Ersten zu sein, die dieses neue Land erkunden. Geht im Namen der Horde!“

Die Orcs zögerten nur einen Moment, dann rannten sie entschlossen auf das Portal zu und hinein – und hindurch!

Das Bild verschwand.

Durotan sah Gul’dan an. Der Hexer bemühte sich, gelassen zu wirken, doch es war offenkundig, dass er verunsichert war.

„Sie sind unsere Kundschafter“, rief er. „Sie werden mit Neuigkeiten von dieser Welt zurückkehren.“

Und bevor sich die versammelten Orcs wirklich sorgen konnten, erschien das Bild des Sumpfes wieder. Die Krieger grinsten breit. Mehr als die Hälfte trugen die Kadaver von großen Tieren. Eins war ein Reptil, schuppig, langschwänzig, mit Stummelbeinen und langen Zähnen. Das andere war ein Vierbeiner, pelzig, mit Klauen an allen vier Füßen, einem langen Schwanz, kleinen runden Ohren und Tupfer auf seinem gelben dichten Fell. Beides waren offensichtlich gesunde Spezies.

„Wir haben beide Arten von Kreaturen getötet und gegessen“, sagte der Anführer der Kundschafter. „Ihr Fleisch ist gut. Das Wasser dort ist rein. Wir brauchen kein schönes Land. Wir brauchen eins, das uns ernährt und uns erhält. Dieses Azeroth wird diesen Ansprüchen genügen, Gul’dan.“

Erneut ging ein Murmeln durch die Menge. Entgegen seinem eigenen Willen richtete sich Durotans Blick auf die Tiere, die die Kundschafter mitgebracht hatten, und sein Magen knurrte. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.

Gul’dan entspannte sich sichtlich. Er sah zu Durotan hinüber, und seine Augen verengten sich. Durotan hatte eine dunkle Vorahnung, scharf und bitter stieg sie ihm in der Kehle auf.

Er und sein Clan wurden gebraucht, das wusste er. Er wusste aber auch, dass er dadurch, dass er das Kind hatte retten wollen, selbst bei einigen ehemaligen Unterstützern Sympathien eingebüßt hatte. Beinahe erwartete er schon, dass Gul’dan seine Exekutierung oder Verbannung anordnete, aber offenbar hatten Gul’dan und Schwarzfaust noch Verwendung für Durotan und die Frostwölfe.

So sollte es sein. Zunächst einmal würde er an der Seite seiner Brüder kämpfen. Morgen würde er sich dann um sich selbst Gedanken machen müssen. Was immer auch geschehen würde, eins stand für Durotan fest: Er würde sterben, ohne seine Ehre befleckt zu haben.

Gul’dan schaute wieder über die gebannte Menge von Orcs und atmete tief ein.