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»Es ist nicht wegen des Tees,« antwortete der Pole. »Sie ärgern sich über Sie, weil Sie ein Adliger sind und sich von ihnen unterscheiden. Viele von ihnen möchten wohl mit Ihnen anbinden. Sie haben große Lust, Sie zu beleidigen und zu erniedrigen. Sie werden hier noch viele Unannehmlichkeiten erleben. Wir alle haben es hier furchtbar schwer. Wir haben es in jeder Beziehung schwerer als alle anderen. Es bedarf einer großen Gleichgültigkeit, um sich daran zu gewöhnen. Sie werden hier noch viel Unannehmlichkeiten wegen des Tees und der eigenen Beköstigung erleben, obwohl hier viele sehr oft auf eigene Kosten essen und manche ständig Tee trinken. Die andern dürfen es, Sie aber nicht.«

Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Tisch. Schon nach einigen Minuten gingen seine Worte in Erfüllung.

III

Die ersten Eindrücke

Kaum war M–cki (der Pole, der mit mir gesprochen hatte) hinausgegangen, als Gasin vollständig betrunken in die Küche stürzte.

Ein betrunkener Arrestant am hellichten Tage, an einem Werktag, wo alle verpflichtet sind, zur Arbeit zu gehen, angesichts eines strengen Vorgesetzten, der jeden Augenblick ins Zuchthaus kommen konnte, eines Unteroffiziers, der die Arrestanten beaufsichtigte und sich ständig im Zuchthause aufhielt; angesichts der Wachen, der Invaliden, mit einem Worte der ganzen strengen Ordnung, – diese Erscheinung warf alle meine Vorstellungen vom Arrestantenleben, die ich mir zu bilden begann, über den Haufen. Ich mußte auch eine recht lange Zeit im Zuchthause zubringen, ehe ich mir alle diese Tatsachen erklären konnte, die mir in den ersten Tagen meines Zuchthauslebens so rätselhaft vorkamen.

Ich sagte schon, daß die Arrestanten immer ihre eigene Arbeit hatten und daß diese Arbeit ein natürliches Bedürfnis des Zuchthauslebens darstellte; daß der Arrestant, auch abgesehen von diesem Bedürfnis, das Geld über alles liebte, es fast der Freiheit gleichstellte und sich schon getröstet fühlte, wenn welches in seiner Tasche klimperte. Dagegen ist er traurig, verstimmt, unruhig und entmutigt, wenn er kein Geld hat; dann ist er zu jedem Diebstahl und überhaupt zu allem fähig, um sich Geld zu verschaffen. Aber obwohl das Geld im Zuchthause einen so hohen Wert hatte, blieb es doch niemals lange in der Tasche des glücklichen Besitzers. Erstens war es schwer, das Geld so zu verwahren, daß es nicht gestohlen oder konfisziert wurde. Wenn der Major es bei einer der plötzlichen Durchsuchungen fand, nahm er es gleich weg. Vielleicht verwendete er es zur Verbesserung der Arrestantenkost, jedenfalls wurde es immer ihm abgeliefert. Meistens wurde es aber gestohlen, denn man konnte sich auf niemand verlassen. Später fand man bei uns doch ein Mittel, Geld mit absoluter Sicherheit zu verwahren. Man gab es einem alten Altgläubigen in Verwahrung, der zu uns aus den Siedlungen bei Starodub gekommen war... Aber ich kann nicht umhin, einige Worte über ihn zu sagen, obwohl ich dabei weit von meinem Thema abschweife.

Er war ein kleiner, grauhaariger Mann von etwa sechzig Jahren. Er fiel mir gleich beim ersten Blick auf. So wenig glich er den anderen Arrestanten: es war etwas Ruhiges und Stilles in seinem Blick, so daß ich mit einem besonderen Vergnügen in seine heiteren, hellen, von seinen Runzeln umgebenen Augen schaute. Ich unterhielt mich oft mit ihm und muß sagen, daß ich in meinem Leben selten ein so gutmütiges und freundliches Wesen gesehen habe. Er war wegen eines äußerst schweren Verbrechens hergeraten. Unter den Sektierern von Starodub hatten sich seit einiger Zeit manche zur herrschenden Kirche bekehren lassen. Die Regierung begünstigte auf jede Weise die Proselyten und wandte alle Mühe an zur Belehrung weiterer Sektierer. Der Alte hatte sich mit anderen Fanatikern entschlossen, »für den wahren Glauben einzustehen«, wie er es nannte. Man hatte eben begonnen, eine gemeinsame Kirche für die Orthodoxen und die Altgläubigen zu bauen, und sie steckten diese Kirche in Brand. Der Alte kam als einer der Anstifter nach Sibirien zur Zwangsarbeit. Er war ein bemittelter, handeltreibender Kleinbürger gewesen; hatte daheim eine Frau und Kinder gelassen; war aber mit Überzeugung in die Verbannung gegangen, die er in seiner Verblendung für »ein Martyrium wegen des Glaubens« hielt. Wenn man mit ihm einige Zeit zusammen gewesen war, stellte man sich unwillkürlich die Frage, wieso dieser stille und wie ein Kind sanfte Mensch ein Aufrührer werden konnte. Ich sprach mit ihm einigemal »über den Glauben«. Er gab keine von seinen Überzeugungen preis, aber in seinen Entgegnungen war nicht die geringste Bosheit, nicht der geringste Haß. Und doch hatte er die Kirche angezündet, was er auch gar nicht leugnete. Man hätte doch meinen können, daß er infolge seiner Überzeugung seine Tat und die für dieselbe empfangenen »Leiden« für etwas Rühmliches halten müßte. Aber wie aufmerksam ich ihn auch betrachtete und studierte, konnte ich an ihm nicht die geringsten Anzeichen von Stolz und Überhebung wahrnehmen. Wir hatten in unserm Zuchthause auch andere Altgläubige, zum größten Teil Sibirier. Es waren geistig hochentwickelte, schlaue Bauern, außerordentlich bibelkundig, am Buchstaben zäh festhaltend und in ihrer Art tüchtige Dialektiker; hochmütige, eingebildete, listige und im höchsten Grade intolerante Menschen. Der Alte war ganz anders. Obwohl er in der Bibel vielleicht viel beschlagener war als sie, mied er alle Disputationen. Er hatte einen höchst mitteilsamen Charakter. Er war lustig und lachte oft, es war aber nicht das rohe, zynische Lachen der andern Zuchthäusler, sondern ein heiteres und stilles Lachen, in dem viel kindliche Einfalt lag und das besonders gut zu seinen grauen Haaren paßte. Vielleicht irre ich mich auch, aber es scheint mir, daß man den Menschen an seinem Lachen erkennen kann und daß wir, wenn uns das Lachen eines uns völlig fremden Menschen gleich bei der ersten Begegnung angenehm ist, getrost sagen dürfen, daß er ein guter Mensch ist. Der Alte genoß im ganzen Zuchthause allgemeine Achtung, auf die er sich durchaus nichts einbildete. Die Arrestanten nannten ihn Vater und taten ihm nichts zu Leide. Ich konnte mir zum Teil vorstellen, welchen Einfluß er auf seine Glaubensgenossen üben mußte. Aber trotz der scheinbaren Festigkeit, mit der er seine Zuchthausstrafe trug, lag in ihm dennoch eine tiefe, unheilbare Trauer, die er vor allen sorgfältig verheimlichte. Ich wohnte mit ihm in der gleichen Kaserne. Einmal erwachte ich gegen drei Uhr nachts und hörte sein stilles, verhaltenes Weinen. Der Alte saß auf dem Ofen (auf demselben Ofen, auf dem früher der vor lauter Bibellesen verrückt gewordene Arrestant, der den Major hatte erschlagen wollen, nachts zu beten pflegte) und betete aus einem handgeschriebenen Gebetbuch. Er weinte, und ich hörte ihn ab und zu sprechen: »Herr, verlaß mich nicht! Herr, festige mich! Meine lieben Kinderchen, meine kleinen Kinderchen, nie werden wir uns wiedersehen!« Ich kann gar nicht wiedergeben, wie traurig es mir da zu Mute wurde. Diesem Alten gaben nun alle Arrestanten nach und nach ihr Geld in Verwahrung. Im Zuchthause waren fast alle Diebe, aber aus irgendeinem Grunde gewann man die Überzeugung, daß der Alte unmöglich etwas stehlen könne. Man wußte wohl, daß er das ihm anvertraute Geld irgendwo zu verstecken pflegte, aber es war ein so verborgener Ort, daß keiner ihn finden konnte. Später enthüllte er mir und einigen von den Polen sein Geheimnis. In einem der Palisadenpfähle war ein Ast, der fest mit dem Holze verwachsen schien. Der Ast ließ sich aber herausnehmen, und im Holze befand sich eine größere Vertiefung. Hier pflegte der Großvater das Geld zu verwahren und dann den Ast wieder so hineinzustecken, daß niemand etwas merken konnte.

Ich bin aber von meiner Erzählung abgeschweift. Ich war dabei stehen geblieben, warum das Geld niemals lange in der Tasche des Arrestanten blieb. Aber auch abgesehen von der Schwierigkeit, es zu verwahren, gab es im Zuchthause zu viel Trübsinn; der Arrestant ist aber seiner Natur nach ein dermaßen nach Freiheit lechzendes Geschöpf und dann auch infolge seiner sozialen Lage so leichtsinnig und unordentlich, daß er das natürliche Bedürfnis fühlt, tüchtig über die Schnur zu hauen, sein ganzes Kapital mit Donner und Musik zu verprassen, um wenigstens für eine Minute seine Schwermut zu vergessen. Es war sogar sonderbar zu sehen, wie mancher von ihnen monatelang unaufhörlich über einer Arbeit hockte, um seinen ganzen Verdienst an einem einzigen Tage bis auf die letzte Kopeke zu verprassen und dann bis zum nächsten Bummel wieder monatelang zu arbeiten. Viele von ihnen schafften sich gerne neue Kleider an, und zwar unbedingt Zivilkleider: irgendwelche unförmige schwarze Beinkleider, Westen, Überröcke. Beliebt waren auch Kattunhemden und Gürtel mit Messingbeschlägen. Man pflegte diese Kleidungsstücke an Feiertagen anzuziehen, und der so Geputzte ging dann unbedingt durch alle Kasernen, um sich allen zu zeigen. Die Selbstzufriedenheit des Geputzten war ganz kindisch, wie die Arrestanten auch in vielen anderen Beziehungen die reinen Kinder waren. Alle diese guten Sachen pflegten allerdings sehr schnell und plötzlich zu verschwinden; oft wurden sie gleich am ersten Abend versetzt oder für einen Spottpreis verkauft. Ein solcher Bummel entwickelte sich übrigens ganz allmählich. Gewöhnlich fiel er auf den Geburtstag oder Namenstag des Betreffenden. Wenn ein Arrestant sein Namensfest feierte, entzündete er gleich am Morgen nach dem Aufstehen eine Kerze vor dem Heiligenbild und betete; dann putzte er sich fein und bestellte sich ein Mittagessen. Er kaufte sich Fleisch und Fisch und ließ sich sibirische »Pelmeni« – mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen kochen; er fraß sich wie ein Ochse voll, aber meistens allein und lud nur selten die Genossen zur Teilnahme an seiner Tafel ein. Dann kam der Branntwein; das Geburtstagskind betrank sich bis zur Bewußtlosigkeit und ging dann torkelnd und stolpernd durch die Kaserne, um allen zu zeigen, daß er betrunken sei, daß er bummele, um damit die allgemeine Achtung zu erwerben. Das russische Volk hat für den Betrunkenen immer eine gewisse Sympathie; im Zuchthause erwies man einem Betrunkenen Respekt. In so einem Zuchthausbummel lag sogar etwas Aristokratisches. Wenn der Arrestant in die richtige Stimmung kam, mietete er sich immer Musiker. Es gab im Zuchthause einen Polen, einen entlaufenen Soldaten, einen recht abstoßenden Kerl, der aber Geige spielte und ein eigenes Instrument besaß – dies war sein ganzes Vermögen. Er übte kein anderes Handwerk aus und lebte nur davon, daß er sich von den Bummelnden zum Aufspielen lustiger Tänze mieten ließ. Sein Amt bestand dann darin, daß er seinem betrunkenen Auftraggeber ständig von der einen Kaserne in die andere folgte und aus aller Kraft auf der Geige kratzte. Sein Gesicht nahm oft einen gelangweilten, trübsinnigen Ausdruck an. Aber der Zuruf: »Spiele, ich habe dich doch bezahlt!« zwang ihn, gleich wieder von neuem zu geigen. Wenn ein Arrestant zu bummeln anfing, hatte er immer die Gewißheit, daß, wenn er sich schon gar zu sehr betrinken sollte, man auf ihn aufpassen, ihn rechtzeitig zu Bett bringen und beim Erscheinen eines Vorgesetzten unbedingt verstecken würde, und zwar ohne jede Bezahlung. Andererseits durften auch der Unteroffizier und die Invaliden, die zur Beaufsichtigung ständig im Zuchthause wohnten, vollkommen ruhig sein: ein Betrunkener konnte gar keinen Unfug verüben. Die ganze Kaserne paßte auf ihn auf, und wenn er Lärm machen oder meutern sollte, würden ihn die andern sofort bändigen und sogar binden. Darum drückten die subalternen Vorgesetzten in solchen Fällen ein Auge zu und wollten solche Sachen einfach nicht bemerken. Sie wußten sehr gut, daß, wenn man den Branntwein wirklich verboten hätte, die Sache noch viel schlimmer wäre. Wo verschaffte man sich aber den Branntwein?