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Er kam in die Küche in Begleitung jenes ekelhaften kleinen Polen mit der Geige, den die Trinkenden gewöhnlich zur Vervollständigung ihres Genusses mieteten, blieb stehen und musterte schweigend und aufmerksam alle Anwesenden. Alle verstummten. Als er endlich mich und meinen Genossen erblickte, sah er uns gehässig und spöttisch an, lächelte selbstgefällig, faßte irgendeinen Gedanken und ging stark schwankend auf unseren Tisch zu.

»Gestatten Sie die Frage,« begann er (er sprach russisch), »aus welchen Einkünften geruhen Sie hier den Tee zu trinken?«

Ich wechselte einen stummen Blick mit meinem Genossen, denn ich merkte, daß es das beste war, zu schweigen und ihm nicht zu antworten. Beim ersten Widerspruch wäre er in Raserei geraten.

»Sie haben also Geld?« fuhr er in seinem Verhör fort. »Sie haben also einen Haufen Geld, wie? Sind Sie denn ins Zuchthaus gekommen, um hier Tee zu trinken? Sind Sie gekommen, um Tee zu trinken? Antworten Sie doch, daß Sie der und jener!...«

Als er aber sah, daß wir uns entschlossen hatten, zu schweigen und ihm keine Beachtung zu schenken, wurde er blaurot im Gesicht und erzitterte vor Wut. Neben ihm stand in der Ecke ein großer Trog, in dem das ganze aufgeschnittene Brot verwahrt wurde, das die Arrestanten zum Mittag- oder Abendessen bekommen sollten. Der Trog war so groß, daß darin das Brot für das halbe Zuchthaus Platz fand; jetzt stand er leer. Gasin packte ihn mit beiden Händen und schwang ihn über uns. Noch ein Augenblick, und er hätte uns die Schädel zertrümmert. Obwohl ein Totschlag oder der Vorsatz dazu für das ganze Zuchthaus die größten Unannehmlichkeiten nach sich ziehen mußte: es hätten Untersuchungen, Durchsuchungen und verschärfte Maßregeln begonnen, aus welchem Grunde sich die Arrestanten die größte Mühe gaben, derartige Exzesse zu vermeiden, – ungeachtet dessen verhielten sich jetzt alle still und abwartend. Keine einzige Stimme zu unsern gunsten! Kein einziger Zuruf gegen Gasin! – So groß war wohl in ihnen der Haß gegen uns! Unsere gefährliche Situation war ihnen wohl angenehm... Die Sache lief aber glücklich ab: als er den Trog auf uns niedersausen lassen wollte, schrie jemand aus dem Flur:

»Gasin! Man hat dir deinen Branntwein gestohlen!«

Er schleuderte den Trog zu Boden und stürzte sich wie wahnsinnig aus der Küche.

»Nun, Gott hat ihn gerettet!« sprachen die Arrestanten unter sich.

Man sprach dann noch lange darüber.

Später konnte ich nicht feststellen, ob jene Nachricht vom Diebstahl des Branntweins auf Wahrheit beruhte oder nur zu unserer Rettung erfunden worden war.

Abends, schon in der Dunkelheit, kurz bevor die Kasernen zugesperrt wurden, ging ich längs der Palisaden umher, und eine schwere Trauer bedrückte mir das Herz; eine solche Trauer habe ich in meinem ganzen späteren Zuchthausleben nicht mehr empfunden. So schwer ist der erste Tag der Einkerkerung, wo es auch sei, ob im Zuchthause, in der Kasematte oder im Gefängnis... Aber ich besinne mich, daß mich am meisten ein Gedanke beschäftigte, der mich auch später während meines ganzen Zuchthauslebens ständig verfolgte, ein zum Teil unlösbarer Gedanke, den ich auch jetzt nicht zu lösen vermag: es ist der Gedanke von der Ungleichheit der Bestrafung der gleichen Verbrechen. Allerdings darf man auch die Verbrechen nicht miteinander vergleichen, nicht einmal annähernd. Ein Beispieclass="underline" der eine und der andere haben einen Mord begangen; man hat alle Umstände beider Verbrechen erwogen, und in beiden Fällen bekommt der Verbrecher die gleiche Strafe. Man bedenke aber, was für ein Unterschied zwischen den beiden Verbrechen besteht. Der eine hat z.B. einen Menschen um nichts und wieder nichts, wegen einer Zwiebel, umgebracht: er ging auf die Landstraße und ermordete einen zufällig vorbeifahrenden Bauern, der außer einer Zwiebel nichts bei sich hatte. »Was ist zu machen, Vater! Du hast mich nach Beute ausgesandt, da habe ich einen Bauern erschlagen und bei ihm nur eine Zwiebel gefunden.« – »Dummkopf! Die Zwiebel ist ja nur eine Kopeke wert! Hundert Seelen sind hundert Zwiebeln, das macht zusammen einen Rubel!« (Eine Zuchthauslegende.) Der andere beging aber den Mord zur Verteidigung der Ehre seiner Braut, seiner Schwester, seiner Tochter vor einem wollüstigen Tyrannen. – Ein anderer beging den Mord als Landstreicher, von einem ganzen Regiment von Spitzeln verfolgt, zur Verteidigung seiner Freiheit und seines Lebens, oft den Hungertod vor Augen; ein anderer schlachtete aber kleine Kinder aus Freude am Schlachten, um auf seinen Händen ihr warmes Blut zu fühlen und sich an ihrer Todesangst, wenn sie wie die Tauben unter dem Schlachtmesser zuckten, zu weiden. Und was sehen wir? Der eine und der andere kommen ins gleiche Zuchthaus. Es gibt allerdings Abstufungen in der Dauer der Zuchthausstrafe. Solche Abstufungen gibt es aber verhältnismäßig wenig; die Unterschiede bei der gleichen Art von Verbrechen sind aber zahllos. Jeder Charakter liefert einen neuen Unterschied. Nehmen wir aber an, daß es unmöglich sei, diese Unterschiede auszugleichen; es sei eine unlösbare Aufgabe wie die Quadratur des Zirkels; nehmen wir es an. Aber selbst wenn diese Ungleichheit nicht vorhanden wäre, beachte man den andern Unterschied, nämlich den in den Folgen der Bestrafung... Da ist ein Mensch, der im Zuchthause wie ein Licht dahinschwindet und hinsiecht; da ist ein anderer, der vor seinem Eintritt ins Zuchthaus gar nicht gewußt hat, daß es in der Welt ein so lustiges Leben, einen so angenehmen Klub voll fröhlicher Gesellschaft gibt. Es gibt im Zuchthause auch solche Menschen. Da ist z. B. ein gebildeter Mensch mit hoch entwickeltem Gewissen, Bewußtsein und Herzen. Schon die Qual seines eigenen Herzens wird ihn schneller als jede Strafe umbringen. Er selbst wird sich wegen seines Verbrechens unbarmherziger und grausamer als das allerstrengste Gesetz verurteilen. Und neben ihm ist ein anderer, der während seines ganzen Zuchthauslebens kein einziges Mal an den von ihm begangenen Mord zurückdenkt. Er glaubt sogar noch im Rechte zu sein. Es gibt aber auch manchen, der ein Verbrechen absichtlich begeht, nur um ins Zuchthaus zu kommen und so das viel schwerere Zuchthausleben in der Freiheit zu fliehen. Dort lebte er auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung, aß sich kein einziges Mal satt und arbeitete für seinen Unternehmer von früh bis spät; im Zuchthause ist aber die Arbeit leichter als daheim, er bekommt genügend Brot, und zwar von einer Güte, wie er es noch nie gesehen hat, und an Feiertagen Fleisch; außerdem bekommt er milde Gaben und hat die Möglichkeit, sich ein paar Kopeken zu verdienen. Und die Gesellschaft? Es sind durchtriebene, geschickte, erfahrene Leute, und er sieht seine Genossen mit respektvollem Erstaunen an; er hat ja noch nie solche Menschen gesehen; er hält sie für die beste Gesellschaft, die es überhaupt geben kann. Ist denn die Strafe für diese beiden Menschen wirklich gleich empfindlich? Aber wozu soll ich mich mit unlösbaren Fragen abgeben! Die Trommel schlägt, es ist Zeit, in die Kasernen zu gehen.

IV

Die ersten Eindrücke

Es begann die letzte Kontrolle. Nach dieser Kontrolle wurden die Kasernen geschlossen, eine jede mit einem eigenen Schlosse, und die Arrestanten blieben bis zum Tagesanbruch eingesperrt.

Die Kontrolle wurde von einem Unteroffizier mit zwei Soldaten vorgenommen. Zu diesem Zweck wurden die Arrestanten manchmal im Hofe aufgestellt, und es kam der Wachoffizier. Meistens wurde aber diese Zeremonie auf vereinfachte Art, in den Kasernen selbst besorgt. So war es auch diesmal. Die Kontrollierenden verrechneten sich oft und kamen dann wieder. Schließlich hatten die armen Wachsoldaten die gewünschte Zahl errechnet und sperrten die Kaserne zu. In derselben befanden sich an die sechzig Mann Arrestanten, die auf ihren Pritschen ziemlich eng zusammengedrängt waren. Zum Schlafen war es noch zu früh. Ein jeder mußte sich selbstverständlich noch mit irgend etwas beschäftigen.