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Von den Vorgesetzten blieb in der Kaserne nur der Invalide zurück, den ich früher erwähnt habe. Außerdem gab es in jeder Kaserne einen Ältesten, den der Platzmajor aus der Zahl der Arrestanten wegen besonders guter Aufführung wählte. Es kam sehr oft vor, daß diese Ältesten sich etwas Schlimmes zu Schulden kommen ließen; dann wurden sie mit Ruten gezüchtigt, ihres Amtes enthoben und durch andere ersetzt. In unserer Kaserne war der Älteste Akim Akimytsch, der die Arrestanten zu meinem Erstaunen recht oft anschrie. Die Arrestanten antworteten ihm gewöhnlich mit Spöttereien. Der Invalide war klüger als er und mischte sich in nichts ein, und wenn es doch vorkam, daß er den Mund auftun mußte, so tat er es mehr anstandshalber, zur Beruhigung seines Gewissens. Sonst saß er schweigend auf seinem Bett und nähte an einem Stiefel. Die Arrestanten schenkten ihm fast keine Beachtung.

Gleich am ersten Tage meines Zuchthauslebens machte ich eine Wahrnehmung, von deren Richtigkeit ich mich später überzeugte. Alle Nichtarrestanten nämlich, wer sie auch sein mochten, von den unmittelbaren Vorgesetzten, den Wachtposten und Begleitmannschaften aufwärts, sowie alle, die nur irgend etwas mit dem Zuchthause zu tun hatten, sahen die Arrestanten mit übertriebener Ängstlichkeit an, als erwarteten sie jeden Augenblick voller Unruhe, daß der Arrestant sich mit einem Messer auf einen von ihnen stürzen würde. Noch auffallender war dabei, daß die Arrestanten sich selbst dieser Angst, die sie einflößten, bewußt waren, und dies verlieh ihnen offenbar Courage. Aber trotz dieser Courage ist es den Arrestanten selbst viel angenehmer, wenn man ihnen Vertrauen entgegenbringt. Damit kann man sie sogar gewinnen. Während meines Zuchthauslebens kam es, wenn auch sehr selten vor, daß einer der Vorgesetzten das Zuchthaus ohne Begleitmannschaften betrat. Man muß gesehen haben, welch einen Eindruck, und zwar welch einen guten Eindruck es auf die Arrestanten machte. So ein furchtloser Besucher erweckte immer Respekt, und wenn überhaupt etwas Schlimmes passieren konnte, so passierte es niemals in seiner Anwesenheit. Die Arrestanten verbreiten überhaupt ständig Angst um sich, und ich weiß wirklich nicht, woher es kommt. Zum Teil ist sie natürlich schon in der äußeren Erscheinung des Arrestanten, den man als einen Schwerverbrecher kennt, begründet. Außerdem hat jeder, der mit dem Zuchthaus in Berührung kommt, das Gefühl, daß dieser ganze Menschenhaufen sich hier nicht aus freiem Willen versammelt hat und daß man einen lebendigen Menschen durch keinerlei Maßregeln zu einer Leiche machen kann; der Mensch behält seine Gefühle, seinen Durst nach Rache und nach freiem Leben, seine Leidenschaften und das Bedürfnis, diese zu befriedigen. Trotzdem bin ich entschieden davon überzeugt, daß man keinen Grund hat, die Arrestanten zu fürchten. Ein Mensch stürzt sich nicht so leicht und so schnell mit einem Messer auf seinen Mitmenschen. Mit einem Worte, wenn eine Gefahr überhaupt möglich und vorhanden ist, so ist sie angesichts der Seltenheit solcher unglücklicher Vorkommnisse außerordentlich gering. Natürlich spreche ich jetzt nur von den endgültig verurteilten Arrestanten, von denen viele sich sogar freuen, daß sie ins Zuchthaus geraten sind (so schön kommt ihnen zuweilen dieses neue Leben vor!), und folglich den Vorsatz haben, ruhig und friedlich zu leben; außerdem werden sie es nicht dulden, daß ihre unruhigen Kameraden sich etwas Außerordentliches erlauben. Jeder Zuchthäusler, wie kühn und frech er auch sei, fürchtet sich im Zuchthause vor allem. Mit den unter Anklage stehenden Arrestanten verhält es sich dagegen anders. So einer ist tatsächlich imstande, sich ohne jeden besonderen Grund auf einen beliebigen Menschen zu stürzen, einzig aus dem Grunde, weil er z. B. morgen seine Körperstrafe abbüßen muß; wenn er sich aber etwas Neues zu Schulden kommen läßt, so wird diese Strafe hinausgeschoben. So ein Überfall hat also einen Grund und einen Zweck, nämlich »sein Los zu verändern«, und zwar um jeden Preis und so schnell wie möglich. Ich kenne sogar einen psychologisch seltsamen Fall in dieser Art.

In unserem Zuchthause befand sich in der Militärabteilung ein Arrestant, ein ehemaliger Soldat, dem seine Standesrechte nicht aberkannt worden waren und der nach einem Gerichtsurteil für zwei Jahre ins Zuchthaus gekommen war, ein schrecklicher Prahlhans und ein auffallender Feigling. Prahlsucht und Feigheit kommen bei russischen Soldaten im allgemeinen sehr selten vor. Unser Soldat scheint immer so beschäftigt, daß er, selbst wenn er es wollte, einfach keine Zeit zum Prahlen hätte. Wenn er aber schon ein Prahlhans ist, so ist er fast immer auch ein Taugenichts und ein Feigling. Dutow (so hieß dieser Arrestant) büßte schließlich seine kurze Strafzeit ab und kam wieder in sein Linienbataillon. Da aber alle Leute seines Schlages, die ins Zuchthaus zur Besserung geschickt werden, dort endgültig verdorben werden, so kommen sie gewöhnlich, nachdem sie höchstens zwei oder drei Wochen die Freiheit genossen haben, wieder vors Gericht und kehren ins Zuchthaus zurück, aber nicht mehr für zwei oder drei Jahre, sondern für »lebenslänglich«, für fünfzehn oder zwanzig Jahre. So geschah es auch mit ihm. Drei Wochen nach dem Verlassen des Zuchthauses beging Dutow einen Einbruchsdiebstahl; außerdem machte er Skandal und fuhr einen der Vorgesetzten grob an. Er kam vors Gericht und wurde zu einer strengen Strafe verurteilt. Da er die ihm drohende Strafe wie ein elender Feigling ganz außerordentlich fürchtete, stürzte er sich am Vorabend des Tages, an dem er seine Spießrutenstrafe zu absolvieren hatte, mit einem Messer auf den in das Arrestantenzimmer tretenden Wachoffizier. Natürlich wußte er sehr gut, daß er durch diese Tat die Spießrutenstrafe und auch die Dauer der Zwangsarbeit erheblich hinaufsetzen würde. Seine Berechnung bestand aber gerade darin, daß der entsetzliche Augenblick der Strafe wenigstens um einige Tage oder sogar einige Stunden hinausgeschoben werde! Er war dermaßen feig, daß er, als er sich mit dem Messer auf den Offizier stürzte, ihn nicht einmal verwundete, sondern alles nur pro forma tat, nur um ein neues Verbrechen zu begehen, für das er wieder vors Gericht käme.

Der Augenblick vor der Exekution ist für den Verurteilten natürlich schrecklich; im Laufe der mehreren Jahre sah ich ziemlich viele Verurteilte am Vorabend des für sie verhängnisvollen Tages. Gewöhnlich traf ich sie in der Arrestantenabteilung des Hospitals, wenn ich krank lag, was ziemlich häufig vorkam. Es ist allen Arrestanten in ganz Rußland bekannt, daß die mitleidigsten Menschen für sie die Ärzte sind. Diese machen niemals einen Unterschied zwischen den Arrestanten und den anderen Menschen, den sonst unwillkürlich fast alle machen, höchstens mit Ausnahme des gemeinen Volkes. So ein Arzt wirft dem Arrestanten niemals sein Verbrechen vor, wie entsetzlich dieses auch sei, und verzeiht ihm alles, um der Strafe willen, die er trägt, und überhaupt wegen seiner unglücklichen Lage. Nicht umsonst nennt das ganze Volk in ganz Rußland das Verbrechen ein »Unglück« und die Verbrecher – »Unglückliche«. Diese Bezeichnung ist höchst bedeutungsvoll. Sie ist um so wichtiger, als sie unbewußt und instinktiv angewandt wird. Die Ärzte sind aber in vielen Fällen eine wahre Zuflucht für die Arrestanten, besonders für die vor Gericht Stehenden, die strenger gehalten werden als die bereits Verurteilten... Darum geht der Angeklagte, wenn er den für ihn so schrecklichen Tag mit einiger Wahrscheinlichkeit vorausberechnet hat, recht oft ins Hospital, um den schweren Augenblick auch nur ein wenig hinauszuschieben. Wenn er das Hospital mit der absoluten Gewißheit, daß der verhängnisvolle Tag morgen sei, verläßt, befindet er sich fast immer in äußerster Erregung. Manche versuchen ihre Gefühle aus Stolz zu verheimlichen, aber die ungeschickte, geheuchelte Courage vermag ihre Kameraden nicht zu täuschen. Alle verstehen den wahren Sachverhalt und schweigen aus Menschenliebe. Ich kannte einen jungen Arrestanten, einen Mörder aus dem Soldatenstande, der zu der vollen Zahl Spießruten verurteilt worden war. Er hatte solche Angst, daß er sich am Vorabend der Bestrafung entschloß, eine Tasse Schnaps auszutrinken, den er mit Schnupftabak angesetzt hatte. Übrigens verschafft sich ein zu einer Strafe verurteilter Arrestant vor der Exekution immer Branntwein. Dieser wird schon lange vor dem festgesetzten Tage ins Zuchthaus geschmuggelt und für schweres Geld gekauft; der Angeklagte wird sich ein halbes Jahr das Allernotwendigste versagen, nur um die für die Anschaffung eines Viertels Branntwein notwendige Summe zu sparen und dieses eine Viertelstunde vor der Exekution auszutrinken. Bei den Arrestanten herrscht überhaupt die Überzeugung, daß ein Betrunkener die Knuten- oder die Spießrutenstrafe nicht so schmerzhaft fühlt. Aber ich bin von meiner Erzählung abgeschweift. Nachdem der arme Kerl seine Tasse Schnaps ausgetrunken hatte, wurde er tatsächlich sofort krank; er bekam Erbrechen mit Blut und wurde fast bewußtlos ins Hospital geschafft. Dieses Erbrechen griff seine Brust dermaßen an, daß sich schon nach einigen Tagen die Symptome richtiger Schwindsucht zeigten, der er nach einem halben Jahr auch erlag. Die Ärzte, die ihn gegen die Schwindsucht behandelten, wußten nicht, wie sie entstanden war.