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Ich hatte ihm noch nicht geantwortet; mein Hund hatte noch nicht Zeit gehabt, mir mit edler Würde den getöteten Vogel zu apportieren, als ich rasche Schritte vernahm und ein Mann von hohem Wuchs mit einem Schnurrbart aus dem Dickicht trat und mit unzufriedener Miene vor mir stehenblieb. Ich entschuldigte mich so gut ich konnte, nannte meinen Namen und bot ihm den Vogel an, den ich in seinem Besitz geschossen hatte.

»Gut«, sagte er mir mit einem Lächeln, »ich will Ihren Vogel annehmen, aber nur unter der Bedingung, daß Sie bei uns zum Essen bleiben.«

Aufrichtig gesagt, war ich über seine Aufforderung nicht sehr erfreut, aber es war unmöglich, sie auszuschlagen.

»Ich bin der Besitzer dieses Gutes und Ihr Nachbar, Radilow; vielleicht haben Sie von mir schon gehört«, fuhr mein neuer Bekannter fort. »Heute ist Sonntag, und das Mittagessen wird wahrscheinlich gut sein, sonst würde ich Sie nicht eingeladen haben.«

Ich antwortete ihm, was man in solchen Fällen zu antworten pflegt, und folgte ihm. Ein frischgesäuberter Weg führte uns bald aus dem Lindenwäldchen, und wir kamen in den Gemüsegarten. Zwischen den alten Apfelbäumen und verwilderten Stachelbeerstauden leuchteten runde, hellgrüne Kohlköpfe; der Hopfen wand sich schraubenartig um die hohen Stangen; braune Stäbe, von vertrockneten Erbsenranken umwunden, standen in den Beeten eng beieinander; große flache Kürbisse lagen wie hingeworfen auf der Erde; die Gurken leuchteten gelb unter den verstaubten, eckigen Blättern; links, längs des Zaunes aus Flechtwerk, wogten hohe Nesselstauden; an zwei oder drei Stellen wuchsen gruppenweise tatarisches Geißblatt, Holunder und Hagebutten, die Überbleibsel der einstigen Anlagen. Neben dem kleinen, mit rötlichem und schleimigem Wasser angefüllten Fischkasten sah man einen von Pfützen umgebenen Brunnen. Enten plätscherten und watschelten geschäftig in diesen Pfützen; ein Hund lag auf der Wiese und nagte, am ganzen Körper zitternd und mit den Augen blinzelnd, an einem Knochen; eine gescheckte Kuh rupfte in der Nähe Gras und warf zuweilen den Schwanz auf ihren mageren Rücken. Der Weg bog seitwärts ab; zwischen dicken Weiden und Birken blickte uns ein altes graues Häuschen mit Schindeldach und einer schiefen Treppe entgegen. Radilow blieb stehen.

»Übrigens«, sagte er, indem er mir gutmütig und offen ins Gesicht blickte, »ich habe mir's überlegt; vielleicht haben Sie keine Lust, bei mir einzukehren, in diesem Falle …«

Ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen und versicherte ihm, im Gegenteil, es werde mir ein Vergnügen sein, bei ihm zu essen.

»Nun, wie Sie wollen.«

Wir traten ins Haus. Ein junger Bursche in einem langen Kaftan aus grobem blauem Tuch kam uns auf der Treppe entgegen. Radilow befahl ihm sogleich, Jermolai ein Glas Schnaps zu reichen; mein Jäger verbeugte sich respektvoll hinter dem Brücken des großmütigen Spenders. Aus dem mit allerlei bunten Bildern austapezierten und mit Vogelbauern behängten Vorzimmer kamen wir in ein kleines Zimmer, das Kabinett Radilows. Ich legte meine Jagdausrüstung ab, stellte mein Gewehr in die Ecke, und der Bursche im langen Kaftan bürstete mich sorgfältig ab.

»Nun wollen wir ins Gastzimmer«, versetzte Radilow freundlich, »ich will Sie mit meiner Mutter bekannt machen.«

Ich folgte ihm. Im Gastzimmer saß auf dem mittleren Sofa eine kleine Alte in braunem Kleid und weißer Haube, mit einem gutmütigen, schmächtigen Gesicht und einem scheuen und traurigen Blick.

»Hier, Mamachen, stelle ich Ihnen unseren Nachbarn vor.« Die Alte erhob sich und verbeugte sich vor mir, ohne den dicken, gehäkelten, sackähnlichen Strickbeutel aus den Händen zu lassen.

»Sind Sie schon lange in unserer Gegend?« fragte sie mit einer schwachen und leisen Stimme, mit den Augen zwinkernd.

»Nein, erst seit kurzem.«

»Haben Sie die Absicht, hier lange zu bleiben?«

»Ich denke bis zum Winter.«

Die Alte verstummte.

»Dieser da«, fiel ihr Radilow ein, auf einen langen und hageren Mann weisend, den ich beim Betreten des Gastzimmers gar nicht bemerkt hatte, »dieser da ist Fjodor Michejitsch … Nun, Fedja, zeig mal dem Gast deine Kunst. Warum hast du dich in den Winkel verkrochen?«

Fjodor Michejitsch erhob sich sofort von seinem Stuhl, nahm vom Fensterbrett eine elende Geige, faßte den Bogen, aber nicht am Ende, wie es sich gehört, sondern in der Mitte, stemmte die Geige gegen die Brust, schloß die Augen und fing an zu tanzen, wobei er ein Liedchen sang und auf den Saiten kratzte. Dem Aussehen nach mochte er siebzig Jahre alt sein; sein langer Nankingrock schlotterte traurig um seine trockenen, knochigen Glieder. Er tanzte; bald schüttelte er übermütig seinen kleinen, kahlen Kopf, bald bewegte er ihn wie ersterbend, bald reckte er den langen, sehnigen Hals, trampelte mit den Füßen auf einer Stelle und beugte ab und zu mit sichtbarer Anstrengung seine Knie. Aus seinem zahnlosen Mund kam eine altersschwache Stimme. Radilow hatte wohl an meinem Gesichtsausdruck erraten, daß die ›Kunst‹ Fedjas mir kein besonderes Vergnügen bereitete.

»Nun, schon gut, Alter, genug«, sagte er, »du darfst dir jetzt deine Belohnung holen.«

Fjodor Michejitsch legte sofort die Geige aufs Fensterbrett, verbeugte sich zuerst vor mir, als dem Gast, dann vor der Alten und zuletzt vor Radilow und ging hinaus.

»Der war auch einmal Gutsbesitzer«, fuhr mein neuer Bekannter, fort, »sogar ein reicher, aber er hat sich ruiniert und lebt jetzt bei mir … Zu seiner Zeit galt er aber als ein Hauptkerl im ganzen Gouvernement; zwei Frauen hat er ihren Männern entführt, hat sich einen Sängerchor gehalten und auch selbst meisterhaft gesungen und getanzt … Aber ist Ihnen vielleicht ein Schnäpschen gefällig? Das Essen steht ja schon auf dem Tisch.«

Ein junges Mädchen, dasselbe, das ich flüchtig im Garten gesehen hatte, trat ins Zimmer.

»Ah, da ist ja die Olja!« bemerkte Radilow, den Kopf leicht zur Seite wendend. »Ich empfehle sie Ihrem Wohlwollen … Nun wollen wir zu Tisch.«

Wir begaben uns ins Eßzimmer und nahmen Platz. Während wir aus dem Gastzimmer gingen und Platz nahmen, sang Fjodor Michejitsch, dem nach der Belohnung die Äuglein glänzten und die Nase leicht gerötet war: »Siegesdonner soll erschallen!« Man hatte für ihn in einem Winkel auf einem kleinen Tischchen ohne Serviette eigens gedeckt. Der arme Alte zeichnete sich durch keine besondere Reinlichkeit aus, und darum hielt man ihn immer in einiger Entfernung von der Gesellschaft. Er bekreuzigte sich, seufzte auf und fing an zu essen wie ein Haifisch. Das Mittagessen war in der Tat nicht schlecht und lief, da es Sonntag war, nicht ohne zitterndes Gelee und spanischen Wind (ein Backwerk) ab. Während des Essens erging sich Radilow, der an die zehn Jahre in einem Infanterieregiment gedient und den türkischen Feldzug mitgemacht hatte, in Erzählungen; ich hörte ihm aufmerksam zu und beobachtete verstohlen Olga. Sie war nicht sehr hübsch; aber ihr energischer und ruhiger Gesichtsausdruck, ihre breite weiße Stirne, das dichte Haar, besonders ihre braunen, kleinen, aber klugen, leuchtenden und lebhaften Augen würden wohl auch auf jeden anderen an meiner Stelle Eindruck gemacht haben. Es schien mir, als verfolgte sie jedes Wort Radilows, wobei ihr Gesicht nicht Teilnahme, sondern eine leidenschaftliche, gespannte Aufmerksamkeit ausdrückte; Radilow konnte dem Alter nach ihr Vater sein; er sagte zu ihr ›du‹, aber ich begriff sofort, daß sie nicht seine Tochter sei. Im Laufe des Gesprächs erwähnte er seine verstorbene Frau. »Ihre Schwester …«, fügte er hinzu, auf Olga weisend. Sie errötete rasch und schlug die Augen nieder. Radilow schwieg eine Weile und brachte das Gespräch auf andere Dinge. Die Alte sprach während der ganzen Mahlzeit kein einziges Wort; sie aß selbst nichts und bot auch mir nichts an. Ihre Gesichtszüge atmeten eine gewisse furchtsame und hoffnungslose Erwartung, jene Alterstrauer, die das Herz des Beobachters so schmerzvoll zusammenpreßt. Gegen Ende der Mahlzeit begann Fjodor Michejitsch ein Loblied auf die Gastgeber und auf den Gast zu singen, aber Radilow sah mich an und bat ihn zu schweigen; der Alte fuhr sich mit der Hand über die Lippen, zwinkerte mit den Augen, verbeugte sich und setzte sich wieder, jetzt aber auf den äußersten Rand des Stuhles. Nach dem Essen begab ich mich mit Radilow in sein Kabinett.