Endlich erreichte ich die Ecke des Waldes, aber dort war keinerlei Weg: Niedere Büsche breiteten sich vor mir aus, und hinter ihnen war in weiter Ferne ein leeres Feld zu sehen. Ich blieb wieder stehen. – Was ist das für ein Wunder …? Wo bin ich denn? – Ich fing an, mich zu besinnen, wie und wohin ich an diesem Tag gegangen war … – Ach! Das ist ja das Parachinsche Gebüsch! rief ich endlich aus. – Es stimmt! Das da muß ja das Sindejewsche Gehölz sein … Wie bin ich nur hergeraten? So weit …! Seltsam! Jetzt muß ich wieder nach rechts abbiegen.
Ich ging nach rechts durch die Büsche. Die Nacht senkte sich indessen und wuchs wie eine drohende Gewitterwolke; die Dunkelheit schien sich zugleich mit den Abenddünsten von überall zu erheben und sogar von der Höhe zu fallen. Ich stieß auf einen verwachsenen Fußpfad; ich schlug ihn ein und blickte aufmerksam vorwärts. Alles um mich her wurde schnell dunkel und still, nur die Wachteln schrien noch dann und wann. Ein kleiner Nachtvogel, der unhörbar und leicht auf seinen weichen Flügeln dahinflog, stieß beinahe auf mich und verschwand scheu seitwärts. Ich erreichte das Ende des Gebüsches und ging einen Feldrain entlang. Mit Mühe konnte ich schon die entfernten Gegenstände unterscheiden; das
Feld um mich her leuchtete weiß; hinter ihm erhob sich, mit jedem Augenblick zunehmend, die düstere Finsternis. Meine Schritte hallten dumpf in der erstarrenden Luft wider. Der bleichgewordene Himmel fing wieder an, blau zu werden, aber es war schon die Bläue der Nacht. In dieser Bläue regten sich und flimmerten die Sterne.
Was ich für ein Gehölz gehalten hatte, erwies sich jetzt als ein dunkler, runder Hügel. – Wo bin ich denn? fragte ich wieder laut; ich blieb zum drittenmal stehen und blickte fragend auf die Dianka, meinen englischen, gelbgefleckten Hund, entschieden das klügste von allen vierfüßigen Geschöpfen. Aber das klügste von allen vierfüßigen Geschöpfen wedelte nur mit seinem Schweif, zwinkerte traurig mit seinen müden Augen und gab mir keinerlei vernünftigen Rat. Ich schämte mich vor dem Hund und ging verzweifelt vorwärts, als wäre ich plötzlich dahintergekommen, wohin ich zu gehen hätte. Ich umging den Hügel und geriet in eine nicht sehr tiefe, von allen Seiten umpflügte Schlucht. Ein sonderbares Gefühl bemächtigte sich meiner sofort. Diese Schlucht sah wie ein fast regelmäßiger Kessel mit abschüssigen Wänden aus; auf dem Grund ragten einige aufrechtstehende, große weiße Steine – es sah so aus, als wären sie zu einer geheimen Beratung in die Schlucht hinabgestiegen, und alles war da so stumm und so öde, und der Himmel hing so flach und so traurig über der Schlucht, daß mein Herz sich zusammenkrampfte. Irgendein kleines Tier piepste schwach und jämmerlich zwischen den Steinen. Ich beeilte mich, wieder den Hügel zu erreichen. Bis jetzt hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den Weg nach Hause zu finden; nun überzeugte ich mich aber endgültig, daß ich mich gänzlich verirrt hatte, und ging nun weiter geradeaus, den Sternen nach, aufs Geratewohl, ohne mir die geringste Mühe zu geben, die Umgebung, die schon ganz in der Dunkelheit versunken war, wiederzuerkennen … Etwa eine halbe Stunde ging ich so, die Füße mit Mühe bewegend. Es war mir, als sei ich noch niemals in einer so öden Gegend gewesen; nirgends flimmerte ein Feuer, nirgends ließ sich ein Ton vernehmen. Ein abschüssiger Hügel folgte dem anderen, die Felder zogen sich in die Unendlichkeit hin, die Büsche wuchsen plötzlich aus dem Boden dicht vor meiner Nase empor. Ich ging immer weiter und hatte schon die Absicht, mich bis zum Morgen irgendwo hinzulegen, als ich vor mir plötzlich einen schrecklichen Abgrund erblickte. Ich zog den schon erhobenen Fuß schnell zurück und sah durch die kaum noch durchsichtige Dunkelheit der Nacht eine riesengroße Ebene vor mir. Ein breiter Strom umbog sie in einem Halbkreis; die stählernen Reflexe des Wassers, die hier und da trübe aufleuchteten, bezeichneten seinen Lauf. Der Hügel, auf dem ich mich befand, fiel beinahe senkrecht hinab; seine großen Umrisse hoben sich schwarz von der bläulichen, leeren Luft ab, und gerade vor mir, in der Ecke zwischen dem Abhang und der Ebene, am Flusse, der an dieser Stelle als dunkler Spiegel unbeweglich zu liegen schien, dicht unter dem Abhang des Hügels, brannten und rauchten zwei rote Feuer nahe nebeneinander. Um sie herum bewegten sich Menschen, schwankten Schatten, und zuweilen fiel das Licht auf den Vorderteil eines kleinen Lockenkopfes …
Endlich wußte ich, wo ich hingeraten war. Diese Stelle war in unserer Gegend als die ›Bjeschinwiese‹ bekannt … Aber es war schon ganz unmöglich, besonders jetzt in der Nacht, nach Hause zurückzukehren; die Beine knickten vor Müdigkeit ein. Ich entschloß mich, auf das Feuer loszusteuern und in Gesellschaft dieser Menschen, die ich für Rinderhirten hielt, auf den Morgen zu warten. Ich stieg glücklich hinunter, hatte aber noch nicht Zeit gehabt, den letzten Ast, an dem ich mich festhielt, loszulassen, als plötzlich zwei große, weiße, zottige Hunde mit bösem Bellen auf mich losstürzten. Helle Kinderstimmen klangen in der Nähe der beiden Feuer; einige Jungen erhoben sich rasch von der Erde. Ich antwortete auf ihre fragenden Rufe. Sie liefen auf mich zu, riefen sogleich ihre Hunde zurück, auf die das Erscheinen meiner Dianka solchen Eindruck gemacht hatte, und ich kam näher.
Ich hatte mich geriert, als ich die Menschen, die um die Feuer saßen, für Rinderhirten gehalten hatte. Es waren einfache Bauernkinder aus dem nächsten Dorf, die eine Pferdeherde hüteten. In der heißen Sommerzeit pflegt man bei uns die Pferde nachts auf die Weide zu treiben: Bei Tage würden ihnen die Fliegen und die Bremsen keine Ruhe lassen. Die Pferde abends hinauszutreiben und beim Morgengrauen wieder zurückzubringen, ist für die Bauernjungen ein großes Fest. Ohne Mützen, in alten Halbpelzen auf den lebhaftesten Mähren sitzend, jagen sie mit lustigem Geschrei, die Arme und Beine schwenkend, hoch aufspringend, und lachen, daß es nur so hallt. Der leichte Staub erhebt sich als gelbliche Wolke über der Straße; weit hallt das Gestampfe vieler Hufe, die Pferde rennen mit gespitzten Ohren; allen voran jagt irgendein rothaariger Gaul mit Kletten in der zerzausten Mähne, den Schweif hoch erhoben, ununterbrochen den Takt wechselnd.
Ich sagte den Jungen, daß ich mich verirrt habe, und setzte mich zu ihnen. Sie fragten, mich, woher ich sei, schwiegen eine Weile und machten mir Platz. Wir unterhielten uns eine Weile miteinander. Ich streckte mich unter einem angenagten Busch aus und sah mich um. Das Bild war wunderschön: Neben den Feuern zitterte und erstarb, an die Dunkelheit stoßend, ein runder rötlicher Widerschein; die Flamme warf aufflackernd über die Grenze des Kreises schnelle Reflexe hinaus; schmale Lichtzungen beleckten ab und zu die nackten Äste des Weidengebüschs, und sofort verschwand wieder alles; spitze, lange Schatten drangen für einen Augenblick in den Lichtkreis ein und erreichten die Flammen: Die Dunkelheit kämpfte mit dem Licht. Zuweilen, wenn das Feuer schwächer brannte und der Lichtkreis enger wurde, erschienen aus der Finsternis, die näher herantrat, plötzlich ein brauner Pferdekopf mit zackiger Blesse oder ein ganz weißer Kopf; er sah uns aufmerksam und stumpf an, an dem langen Gras kauend, und verschwand gleich wieder. Man hörte ihn nur noch kauen und schnauben. Von der erleuchteten Stelle aus war es schwer zu erkennen, was im Finstern geschah, und darum schien alles in der Nähe von einem fast schwarzen Vorhang verdeckt. Aber weiter, am, Horizont zeichneten sich die Hügel und Wälder als verschwommene, lange Flecken ab. Der dunkle, reine Himmel hing feierlich und unermeßlich hoch über uns in seiner ganzen geheimnisvollen Pracht. Die Brust fühlte sich wonnig beengt beim Einatmen dieses eigentümlichen, ermattenden und frischen Duftes, des Duftes der russischen Sommernacht. Ringsum gab es fast kein Geräusch … Nur ab und zu plätscherte im nahen Fluß plötzlich ein großer Fisch, oder das Uferschilf fing, von einer Welle kaum berührt, leise zu rauschen an … Nur die Feuer allein knisterten leise.