Kostja fuhr zusammen … »Was ist das?«
»Ein Reiher schreit«, antwortete Pawel ruhig.
»Ein Reiher«, wiederholte Kostja … »Was war es aber, Pawluscha, was ich gestern abend gehört habe?« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. »Vielleicht weißt du es …«
»Was hast du gehört?«
»Das habe ich gehört. Ich ging von der Steinernen Zeile nach Schaschkino; zuerst ging ich durch unsere Haselbüsche, dann durch die Wiese, weißt du, wo sie eine scharfe Wendung macht – dort ist ein Sumpfloch, weißt du, das ganz mit Schilf bewachsen ist; so ging ich, Brüder, an diesem Sumpfloch vorbei, und plötzlich stöhnt jemand so jämmerlich, ach so jämmerlich aus dem Loch: ›Uh … Uh … Uh …‹ Da packte mich die Angst, Brüder: die späte Stunde, und eine so jämmerliche Stimme. Ich hätte selbst weinen können … Was mag es wohl gewesen sein? Wie?«
»In diesem Sumpfloch haben die Diebe im vorvorigen Jahr den Waldhüter Akim ertränkt«, bemerkte Pawluscha. »Vielleicht ist es seine Seele, die da klagt.«
»Das muß ich sagen, Brüder«, entgegnete Kostja, seine ohnehin großen Augen weit aufreißend. »Ich wußte gar nicht, daß man den Akim in diesem Loch ertränkt hatte, dann hätte ich noch viel mehr Angst gekriegt.«
»Man sagt auch, es gäbe solche kleine Frösche«, fuhr Pawel fort, »die so jämmerlich schreien.«
»Frösche? Nein, das waren keine Frösche … was sind das für …«
Der Reiher schrie wieder über dem Fluß.
»Wie der schreit!« sagte Kostja unwillkürlich: »Wie ein Waldteufel.«
»Der Waldteufel schreit nicht, er ist stumm«, fiel ihm Iljuscha ins Wort. »Er klatscht nur in die Hände und kracht …«
»Hast du ihn denn gesehen, den Waldteufel?« unterbrach ihn Fedja spöttisch.
»Nein, ich hab' ihn nicht, gesehen, und Gott beschütze mich davor; aber andere haben ihn gesehen. Neulich hat er bei uns einen Bauer irregeleitet: Er führte ihn immer im Wald herum, immer um die gleiche Waldwiese herum … Mit Not kam er erst am Morgen heim.«
»Hat er ihn gesehen?«
»Er hat ihn gesehen. Er sagt, er habe so riesengroß, finster, eingehüllt dagestanden, hinter einem Baum, gut hätte er ihn nicht unterscheiden können; er hätte sich vor dem Mond versteckt und dabei mit seinen großen Augen geguckt und geblinzelt, und geblinzelt …«
»Ach, du!« rief Fedja, leicht zusammenfahrend und mit den Schultern zuckend. »Pfui …!«
»Wozu gibt es nur diese unsauberen Mächte in der Welt?« bemerkte Pawel. »Wirklich!«
»Schimpfe nicht, paß auf, sie hören dich noch«, bemerkte Ilja.
Wieder trat Schweigen ein.
»Schaut nur, schaut nur, Kinder«, erklang plötzlich Wanjas Kinderstimme. »Schaut nur auf die lieben Sternlein Gottes – wie die Bienen schwärmen sie!«
Er streckte sein frisches Gesichtchen unter der Bastdecke hervor, stützte es auf seine Faust und hob langsam seine großen stillen Augen zum Himmel. Alle Jungen hoben ihre Blicke gen Himmel und ließen sie nicht sobald sinken.
»Sag mal, Wanja«, begann Fedja freundlich. »Wie geht es deiner Schwester Anjutka, geht es ihr gut?«
»Es geht ihr gut«, antwortete Wanja kindlich lallend.
»Frage sie doch, warum sie nicht mehr zu uns kommt …«
»Ich weiß es nicht.«
»Sag ihr, sie möchte doch kommen.«
»Ich werde es ihr sagen.«
»Sag ihr, daß ich ihr was schenke.«
»Wirst du auch mir was schenken?«
»Ja, auch dir.«
Wanja holte tief Atem.
»Nein, ich brauche nichts. Gib es lieber ihr: Sie ist so gut.«
Wanja legte seinen Kopf wieder auf die Erde. Pawel stand auf und nahm das leere Kesselchen in die Hand.
»Wo willst du hin?« fragte ihn Fedja.
»Zum Fluß, Wasser schöpfen: Ich will Wasser trinken.«
Die Hunde erhoben sich und folgten ihm.
»Paß auf, fall nur nicht in den Fluß!« rief ihm Iljuscha nach.
»Warum soll er in den Fluß fallen?« versetzte Fedja. »Er wird sich doch in acht nehmen.«
»Ja, in acht nehmen. Es kommt verschiedenes vor: Er wird sich bücken und Wasser schöpfen, da wird ihn aber der Wassergeist bei der Hand packen und hinunterziehen. Später werden die Leute sagen, der Junge sei ins Wasser gefallen … Ja, ins Wasser gefallen …! Da ist er eben ins Schilf gestiegen«, fügte er hinzu, aufhorchend.
Man hörte wirklich das Schilf rascheln.
»Ist es wahr«, fragte Kostja, »daß die blöde Akulina um ihren Verstand gekommen ist, seit sie im Wasser war?«
»Ja, seit damals … Wie sieht sie jetzt aus! Man sagt aber, sie sei früher eine Schönheit gewesen. Der Wassergeist hat sie verdorben. Er hatte wohl nicht erwartet, daß man sie sobald herausziehen würde. Da hat er sie bei sich auf dem Grund verdorben.«
(Ich selbst habe diese Akulina mehr als einmal gesehen. In Lumpen gekleidet, furchtbar mager, mit einem kohlschwarzen Gesicht, trüben Blicken und ewig gefletschten Zähnen trappelt sie stundenlang irgendwo auf der Landstraße auf dem gleichen Fleck herum, die knöchernen Hände fest auf die Brust gepreßt und langsam von einem Fuß auf den anderen tretend, wie ein wildes Tier im Käfig. Sie versteht nichts, was man ihr auch sagt, und lacht nur zuweilen krampfhaft.)
»Man sagt auch«, fuhr Kostja fort, »Akulina hätte sich in den Fluß gestürzt, weil ihr Schatz sie betrogen hat.«
»Ja, darum.«
»Erinnerst du dich noch an Waßja?« unterbrach ihn Kostja traurig.
»An was für einen Waßja?« fragte Fedja.
»An den, der ertrunken ist«, antwortete Kostja, »in diesem selben Fluß. Das war eine Junge! Mein Gott, war das ein Junge! Seine Mutter Feklista liebte ihren Waßja so. Die Feklista ahnte wohl, daß er sein Ende im Wasser finden würde. Wenn Waßja mit uns anderen Jungen im Sommer an den Fluß zum Baden ging, so zitterte sie am ganzen Leibe. Die anderen Weiber waren ruhig und watschelten mit ihren Waschzubern vorüber; die Feklista stellte aber ihren Waschzuber auf die Erde und rief: ›Kehr zurück, kehr zurück, Liebster! Kehr zurück, mein Söhnchen!‹ Wie er aber ertrunken ist, das weiß nur Gott allein. Er spielte am Ufer, und seine Mutter harkte gleich in seiner Nähe das Heu zusammen; plötzlich hört sie, wie im Wasser Blasen aufsteigen; sie sieht hin, auf dem Wasser schwimmt aber nur noch Waßjas Mützchen. Seit damals ist auch Feklista nicht bei Sinnen: Sie geht an die Stelle, wo er ertrunken ist, legt sich, Brüder, auf die Erde und singt das Liedchen, das Waßja immer zu singen pflegte – ihr wißt es noch – , sie singt das Liedchen und weint dabei und klagt zu Gott …«
»Da kommt schon Pawluscha«, sagte Fedja.
Pawel kam mit vollem Kessel zum Feuer.
»Jungens«, begann er nach einem Schweigen, »die Sache ist schlimm.«
»Was gibt es denn?« fragte Kostja schnell.
»Ich habe Waßjas Stimme gehört.«
Alle fuhren zusammen.
»Was sagst du, was sagst du?« stammelte Kostja.
»Bei Gott. Als ich mich über das Wasser beugte, hörte ich, wie mich Waßjas Stimme unter dem Wasser rief: ›Pawluscha, Pawluscha, komm mal her.‹ Ich ging zurück. Aber ich habe doch Wasser geschöpft.«
»Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!« riefen die Jungen, sich bekreuzigend.
»Dich hat doch der Wassergeist gerufen, Pawel«, versetzte Fedja… »Wir sprachen eben von ihm, von Waßja.«
»Ach, das ist ein schlimmes Zeichen«, sprach Iljuscha langsam.
»Nun, das macht nichts!« sagte Pawel entschlossen und setzte sich wieder. »Seinem Schicksal entgeht man nicht.«
Die Jungen verstummten. Die Worte Pawels hatten auf sie offenbar einen tiefen Eindruck gemacht. Sie fingen an, sich um das Feuer zu lagern, als wollten sie schlafen.
»Was ist das?« fragte plötzlich Kostja, den Kopf hebend.
Pawel horchte auf.