Der Bauer stieg ächzend aus dem Wagen, trat in das Zimmer des Feldschers, suchte mit den Augen das Heiligenbild und bekreuzigte sich.
»Nun, Wassilij Dmitritsch, was gibt es Neues …? Sie sind sicher nicht wohclass="underline" Sie sehen nicht gut aus.«
»Ja, Kapiton Timofejitsch, es ist mir nicht ganz wohl.«
»Was haben Sie?«
»Sehen Sie, Kapiton Timofejitsch: Neulich kaufte ich in der Stadt Mühlsteine; ich fuhr sie nach Hause, und als ich sie aus dem Wagen ablud, habe ich mich überanstrengt, in meinem Bauch knackte es, als wäre etwas gerissen … und von der Zeit an kränkele ich immer. Heute geht es mir sogar sehr schlecht.«
»Hm«, versetzte Kapiton und nahm eine Prise. »Es wird wohl ein Bruch sein. Wann ist das Ihnen zugestoßen?«
»Heute ist der zehnte Tag.«
»Schon der zehnte?« Der Feldscher zog durch die Zähne Luft ein und schüttelte den Kopf. »Laß dich mal betasten. – Nun, Wassilij Dmitritsch«, sagte er schließlich, »du tust mir leid, Liebster, deine Sache steht schlecht, du bist ernstlich krank; bleib mal hier bei mir; ich werde mein möglichstes tun, aber ich bürge für nichts.«
»Ist es wirklich so schlimm?« murmelte der Müller erstaunt.
»Ja, Wassilij Dmitritsch, es steht schlimm; wären Sie zu mir zwei Tage früher gekommen, so hätte ich Sie vollständig kuriert; jetzt haben Sie aber eine Entzündung, und es kann leicht zu einem Brand kommen.«
»Es kann nicht sein, Kapiton Timofejitsch.«
»Aber wenn ich es Ihnen sage …!«
»Wie ist es nun?«
Der Feldscher zuckte die Achseln.
»Und soll ich wegen einer solchen Dummheit sterben?«
»Das sage ich nicht … aber bleiben Sie hier.«
Der Mann überlegte, blickte auf den Boden, dann auf uns, kratzte sich den Nacken und griff nach der Mütze.
»Wo wollen Sie denn hin, Wassilij Dmitritsch?«
»Wo ich hin will? Natürlich nach Hause, wenn es so schlimm steht. Ich muß meine Anordnungen treffen, wenn es so ist.«
»Sie richten Unheil an, Wassilij Dmitritsch, ich bitte Sie! Ich wundere mich schon so, wie Sie hergekommen sind. Bleiben Sie doch.«
»Nein, Bruder Kapiton Timofejitsch, wenn ich schon sterben soll, so will ich zu Hause sterben; wenn ich hier sterbe, so kann bei mir zu Hause Gott weiß was alles passieren.«
»Es ist noch unbekannt, Wassilij Dmitritsch, was aus der Sache wird … Natürlich ist es gefährlich, sehr gefährlich, ich leugne es nicht … aber gerade darum müssen Sie hierbleiben.«
Der Bauer schüttelte den Kopf. »Nein, Kapiton Timofejitsch, ich bleibe nicht … nein, verschreiben Sie mir vielleicht eine Arznei.«
»Die Arznei allein kann nicht helfen.«
»Ich bleibe nicht, habe ich gesagt.«
»Nun, wie du willst … aber daß du mir hinterher keine Vorwürfe machst!«
Der Feldscher riß aus dem Album ein Blatt heraus, schrieb ein Rezept und sagte ihm, was er sonst zu tun habe. Der Bauer nahm das Papier, gab Kapiton einen halben Rubel, ging hinaus und setzte sich in seinen Wagen.
»Leben Sie wohl, Kapiton Timofejitsch, nichts für ungut, vergessen Sie meine Waisen nicht, wenn was passiert …«
»Ach, bleib doch hier, Wassilij!«
Der Bauer schüttelte nur den Kopf, schlug das Pferd mit dem Zügel und fuhr fort. Ich trat auf die Straße und sah ihm nach. Der Weg war schmutzig und holprig; der Müller fuhr vorsichtig, ohne Übereilung, lenkte sein Pferd geschickt und grüßte die Vorbeigehenden … Auf den vierten Tag war er tot.
Überhaupt, merkwürdig sterben die Russen. Viele Verstorbene kommen mir in den Sinn. Ich erinnere mich deiner, du mein alter Freund, nicht ausstudierter Student, Awenir Sorokoumow, du prächtiger, edelster Mensch! Ich sehe wieder dein schwindsüchtiges, grünliches Gesicht vor mir, dein dünnes blondes Haar, dein sanftes Lächeln, deinen begeisterten Blick, deine langen Glieder; ich höre deine schwache, freundliche Stimme. Du lebtest beim großrussischen Gutsbesitzer Gur Krupjannikow, unterrichtetest seine Kinder Fofa und Sjosja in Russisch, Geographie und Geschichte, ertrugst mit Geduld die derben Späße Gurs, die groben Liebenswürdigkeiten des Haushofmeisters, die dummen Streiche der bösen Jungen, und erfülltest nicht ohne ein bitteres Lächeln, aber auch ohne zu murren die Launen der sich langweilenden Gnädigen; wie ruhtest du dafür aus, wie selig warst du, wenn du abends nach dem Essen, nach Erledigung aller Verpflichtungen, dich an das Fenster setztest, nachdenklich die Pfeife anstecktest oder mit Gier die zerfetzte und schmierige Nummer der dickleibigen Zeitschrift durchblättertest, die der Feldmesser, ein ebenso heimatloser Unglücksrabe wie du, aus der Stadt mitgebracht hatte! Wie gefielen dir damals allerlei Verse und allerlei Erzählungen, wie leicht kamen dir die Tränen in die Augen, mit welchem Vergnügen lachtest du, von welcher aufrichtigen Liebe zu den Menschen, von welch edler Sympathie für alles Gute und Schöne wurde da deine kindlich reine Seele erfüllt! Man muß die Wahrheit sagen: Du zeichnetest dich nicht durch allzu großen Geist aus; die Natur hatte dich weder mit Gedächtnis noch mit Fleiß begabt; auf der Universität galtest du als einer der schlechtesten Studenten; in den Vorlesungen schliefst du, beim Examen bewahrtest du ein feierliches Schweigen; aber wer war es, dessen Augen vor Freude leuchteten und dem der Atem stockte, wenn ein Freund Erfolg hatte? – Das warst du, Awenir … Wer glaubte blind an den hohen Beruf seiner Freunde, wer rühmte sie mit Stolz, wer trat mit Eifer für sie ein? Wer kannte weder Neid noch Eigenliebe, wer brachte sich selbst uneigennützig zum Opfer, wer ließ sich gern von Leuten beherrschen, die seine Stiefelsohle nicht wert waren …? Das warst immer du, unser guter Awenir! Ich erinnere mich noch, wie du mit zerknirschtem Herzen dich von deinen Freunden verabschiedetest, als du deine ›Kondition‹ antratest; schlimme Ahnungen quälten dich … Und in der Tat, du hattest es schlimm auf dem Lande; da gab es niemand, dem du andachtsvoll zuhören, den du bewundern oder lieben könntest … Wie die in der Steppe verwilderten, so auch die gebildeten Gutsbesitzer behandelten dich nur wie einen Hauslehrer: die einen grob, die anderen nachlässig. Zudem warst du auch äußerlich wenig einnehmend; du warst schüchtern, du errötetest, schwitztest, stottertest … Die Landluft besserte nicht einmal deine Gesundheit, du schmolzest wie eine Kerze, du Ärmster! Es ist wahr, dein Zimmerchen lag nach dem Garten; die Faulbäume, Apfelbäume und Linden schütteten ihre leichten Blüten dir auf den Tisch, auf das Tintenfaß, auf die Bücher; an der Wand hing ein kleines, blauseidenes Kissen für die Uhr, das dir in der Abschiedsstunde eine gutmütige, empfindsame deutsche Gouvernante mit blonden Locken und blauen Augen geschenkt hatte; ab und zu besuchte dich ein alter Freund aus Moskau und entzückte dich durch fremde oder sogar eigene Verse; aber die Einsamkeit, aber die unerträgliche Sklaverei des Lehrerberufs, die Unmöglichkeit, frei zu werden, aber die endlosen Herbst- und Wintermonate, aber die unaufhörliche Krankheit … Armer, armer Awenir!