Выбрать главу

Ich besuchte Sorokoumow kurz vor seinem Tode. Er konnte fast nicht mehr gehen. Der Gutsbesitzer Gur Krupjannikow trieb ihn nicht aus dem Hause, hörte aber auf, ihm sein Gehalt zu zahlen, und nahm für Sjosja einen anderen Lehrer … Den Fofa gab man ins Kadettenkorps. Awenir saß am Fenster, in einem alten Großvaterstuhl. Das Wetter war herrlich. Der heitere Herbsthimmel blaute lustig über der dunkelbraunen Reihe entblätterter Linden; hier und da schwankten und lispelten an ihnen die letzten leuchtend goldenen Blätter. Die während der Nacht gefrorene Erde schwitzte und taute in der Sonne auf; die schrägen rötlichen Strahlen glitten über das bleiche Gras; in der Luft glaubte man ein leises Knistern zu hören; deutlich und vernehmbar tönten im Garten die Stimmen der Arbeiter. Awenir hatte einen alten bucharischen Schlafrock an; das grüne Halstuch verlieh seinem schrecklich abgemagerten Gesicht die Farbe des Todes. Er freute sich sehr, mich zu sehen, streckte mir die Hand entgegen, begann zu sprechen und bekam einen Hustenanfall. Ich ließ ihn zur Ruhe kommen und setzte mich zu ihm … Awenir hatte auf den Knien ein Heft mit sauber abgeschriebenen Gedichten Kolzows liegen; er klopfte lächelnd mit der Hand darauf. »Das ist ein Dichter«, sagte er, mit Mühe einen neuen Hustenanfall zurückhaltend, und versuchte mit kaum hörbarer Stimme zu deklamieren:

»Sind die Flügel, Falk, denn gebunden dir?

Sind die Wege all dir verwehret hier?«

Ich bat ihn, aufzuhören; der Arzt hatte ihm das Sprechen verboten. Ich wußte, womit ich ihm eine Freude machen konnte. Sorokoumow hatte niemals, wie man so sagt, die Erfolge der Wissenschaft ›verfolgt‹, interessierte sich aber doch sehr dafür, was die großen Geister schon alles erreicht hatten. Zuweilen hielt er einen Freund irgendwo in einem Winkel fest und fing ihn an auszufragen; er hörte ihm zu, staunte, glaubte ihm alles aufs Wort und erzählte dann alles wörtlich wieder. Besonderes Interesse hatte er für die deutsche Philosophie. – Ich fing an, von Hegel zu sprechen (wie man sieht, ist es eine alte Geschichte). Awenir nickte bejahend mit dem Kopf, hob die Brauen, lächelte, flüsterte: »Ich verstehe, ich verstehe …! Ach, wie schön, wie schön …!« Die kindliche Neugier des sterbenden, heimatlosen und verlassenen armen Menschen rührte mich, offen gestanden, zu Tränen. Es ist zu bemerken, daß Awenir sich, im Gegensatz zu allen Schwindsüchtigen, über seine Krankheit durchaus nicht täuschte … und was glaubt ihr …? Er seufzte nicht, er klagte nicht, er spielte sogar kein einziges Mal auf seinen Zustand an …

Er nahm seine Kräfte zusammen und begann von Moskau zu sprechen, von seinen Kameraden, von Puschkin, vom Theater, von der russischen Literatur; er gedachte unserer kleinen Festgelage, der hitzigen Debatten unseres Kreises und nannte mit Bedauern die Namen einiger verstorbener Freunde …

»Erinnerst du dich noch an die Dascha?« fügte er zuletzt hinzu. »War das eine goldene Seele! War das ein Herz! Und wie sie mich liebte …! Was ist mit ihr jetzt …? Sie ist wohl vor Sehnsucht abgezehrt, die Arme?«

Ich wagte nicht, den Kranken zu enttäuschen – und in der Tat, was brauchte er zu wissen, daß seine Dascha jetzt so breit wie lang war, daß sie sich mit Kaufleuten, den Gebrüdern Konadakow, abgab, sich puderte und schminkte, keifte und zankte?

Wäre es denn nicht möglich, dachte ich mir beim Anblick seines ausgemergelten Gesichts, ihn von hier fortzubringen? Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit, ihn herzustellen … Aber Awenir ließ mich meinen Gedanken nicht zu Ende sprechen.

»Nein, Bruder, danke«, sagte er, »es ist ganz gleich, wo ich sterbe. Den Winter erlebe ich ja nicht mehr … Warum umsonst die Leute belästigen? Ich bin an dieses Haus gewöhnt. Die hiesige Herrschaft ist zwar …«

»Sind sie böse?« unterbrach ich ihn.

»Nein, nicht böse, aber wie Holzklötze sind die Leute. Übrigens darf ich mich über sie nicht beklagen. Es gibt auch Nachbarn hier: Der Gutsbesitzer Kaßtkin hat eine Tochter, ein gebildetes, freundliches, herzensgutes Mädchen … gar nicht stolz …»

Sorokoumow bekam wieder einen Hustenanfall.

»Das würde alles gar nichts machen«, führ er fort, als der Anfall vorüber war, »wenn man mir nur erlaubte, ein Pfeifchen zu rauchen!« fügte er mit einem listigen Blick hinzu. »Ich habe, Gott sei Dank, genug gelebt und mit guten Menschen verkehrt …«

»Du solltest doch deinen Verwandten schreiben«, unterbrach ich ihn.

»Was soll ich ihnen schreiben? Helfen werden sie mir nicht, und wenn ich sterbe, so werden sie es erfahren. Aber was soll man davon sprechen? Erzähle mir lieber, was du im Ausland gesehen hast.«

Ich begann ihm zu erzählen. Er bohrte seine Augen in mich. Am Abend fuhr ich fort, und nach etwa zehn Tagen erhielt ich folgenden Brief von Herrn Krupjannikow:

Hiermit habe ich die Ehre, Sie, sehr geehrter Herr, zu benachrichtigen, daß Ihr Freund, der in meinem Hause lebende Student Herr Awenir Sorokoumow vorvorgestern um zwei Uhr nachmittags verschieden ist und heute in meiner Gemeindekirche auf meine Kosten beerdigt wurde. Er bat mich, Ihnen die beifolgenden Bücher und Hefte zu übermitteln. An Geld hinterließ er zweiundzwanzigundeinhalb Rubel, die mit seinen übrigen Sachen seinen Verwandten zugestellt werden. Ihr Freund ist bei vollem Bewußtsein gestorben, und man kann wohl sagen, mit ebenso vollkommener Gleichgültigkeit, ohne irgendwelches Bedauern zu äußern, selbst als meine ganze Familie von ihm Abschied nahm. Meine Gattin, Kleopatra Alexandrowna, läßt Sie grüßen. Der Tod Ihres Freundes blieb nicht ohne Wirkung auf ihre Nerven; was aber mich betrifft, so bin ich, Gott sei Dank, gesund und habe die Ehre, zu verbleiben

Ihr ergebenster Diener

Gur Krupjannikow.

Es kommen mir noch viele andere Beispiele in den Sinn, aber ich kann sie nicht alle aufzählen. Ich will mich auf nur noch eines beschränken. In meiner Gegenwart starb einmal eine alte Gutsbesitzerin. Der Priester las an ihrem Bett die Sterbegebete; als er plötzlich merkte, daß die Kranke wirklich in den letzten Zügen war, reichte er ihr schnell das Kreuz zum Kuß. Die Gutsbesitzerin rückte mißvergnügt von ihm weg. »Warum eilst du so sehr, Hochwürden«, sagte sie mit erstarrender Zunge, »du hast noch Zeit …« Sie küßte das Kreuz, versuchte noch die Hand unter das Kopfkissen zu stecken und gab den Geist auf. Unter dem Kissen lag ein Silberrubeclass="underline" Sie hatte den Priester für ihr eigenes Sterbegebet bezahlen wollen …

Ja, merkwürdig sterben die Russen!

Die Sänger

Das kleine Dorf Kolotowka, das einst einer Gutsbesitzerin gehört hatte, die man wegen ihres Mutes und ihrer Schlagfertigkeit in der ganzen Umgegend die Kratzbürste nannte (ihr wahrer Name blieb unbekannt), und das jetzt irgendeinem Petersburger Deutschen gehört, liegt am Abhang eines kahlen Hügels, der von oben bis unten durch eine schauerliche Kluft gespalten ist, welche, wie ein Abgrund gähnend, aufgewühlt und ausgespült, sich mitten durch die Straße schlängelt und weit gründlicher als ein Fluß – über einen Fluß kann man wenigstens eine Brücke schlagen – die beiden Hälften des armen Dörfchens voneinander trennt. Einige magere Bachweiden lassen sich ängstlich an ihren sandigen Abhängen herab, und auf dem Grund, der trocken und gelb wie Messing ist, liegen ungeheure flache Platten lehmigen Gesteins. Ein unerfreuliches Bild, das muß man schon sagen, und doch ist der Weg nach Kolotowka allen Bewohnern der Umgegend bekannt: Sie fahren oft und gern hin.

Ganz am Kopf der Kluft, einige Schritt von dem Punkt, wo sie als schmaler Spalt beginnt, steht ein kleines, viereckiges Häuschen; es steht einsam, abseits von den andern. Es ist mit Stroh gedeckt und hat einen Schornstein; ein Fenster ist wie ein wachsames Auge der Kluft zugewandt; es ist an Winterabenden, von innen erleuchtet, im trüben Frostnebel weit sichtbar und leuchtet gar manchem vorbeifahrenden Bauern als Leitstern. Über der Tür des Häuschens ist ein blaues Brettchen angenagelt: Dieses Häuschen ist eine Schenke mit dem Namen Pritynnyj. In dieser Schenke wird der Schnaps wohl nicht billiger als zum vorgeschriebenen Preis verkauft, sie wird aber doch viel fleißiger besucht als alle ähnlichen Anstalten in der ganzen Umgegend. Der Grund dafür ist der Schenkwirt Nikolai Iwanytsch.