»Ich lüge nicht«, antwortete Obaldui mit Würde. »Aber du fragst darum. Er wird wohl singen, wenn er gewettet hat, du Marienkäferchen, du Spitzbube, Morgatsch!« »Also gehen wir, Narr«, entgegnete Morgatsch.
»Küß mich wenigstens, meine liebe Seele«, lallte Obaldui, seine Arme öffnend.
»Sieh mal an, du zärtlicher Äsop«, antwortete Morgatsch verächtlich, indem er ihn mit dem Ellenbogen zurückstieß, und beide traten gebückt in die niedere Tür.
Das Gespräch, das ich hörte, erregte lebhaft meine Neugier. Schon mehr als einmal hatte ich von Jaschka dem Türken als dem besten Sänger im ganzen Kreis gehört, und plötzlich bot sich mir die Gelegenheit, ihn im Wettstreit mit einem anderen Meister zu hören. Ich verdoppelte meine Schritte und trat in die Schenke.
Es haben wohl nur wenige von meinen Lesern die Gelegenheit gehabt, einen Blick in eine Dorfschenke zu werfen; aber unsereins, der Jäger – wo kommt er nicht überall hin! Die Einrichtung so einer Schenke ist außerordentlich einfach. Sie besteht gewöhnlich aus einem dunklen Flur und einer besseren Stube, die durch einen Verschlag in zwei Teile geteilt ist; niemand von den Besuchern darf hinter diesen Verschlag treten. In diesen Verschlag ist über einem breiten, eichenen Tisch eine große breite Öffnung eingeschnitten. Auf diesem Tisch wird der Branntwein ausgeschenkt. Versiegelte Branntweinflaschen verschiedener Größe stehen nebeneinander auf Borden, der Öffnung gegenüber. In der vorderen Hälfte der Stube, die für die Gäste bestimmt ist, befinden sich Bänke, zwei oder drei leere Fässer und ein Ecktisch. Die Dorfschenken sind meistens ziemlich dunkel, und man wird an den aus Balken gezimmerten Wänden nie irgendwelche bunt ausgemalten Bilderbogen finden, die sonst kaum in einem Bauernhaus fehlen.
Als ich in die Pritynnyj-Schenke trat, befand sich da schon eine ziemlich große Gesellschaft.
Hinter dem Schenktisch stand, die ganze Breite der Öffnung einnehmend, Nikolai Iwanytsch in einem bunten Kattunhemd und schenkte mit einem trägen Lächeln auf den dicken Wangen mit seiner vollen, weißen Hand zwei Glas Branntwein, für die eintretenden Freunde Morgatsch und Obaldui ein; hinter ihm am Fenster in der Ecke sah man seihe Frau mit ihren lebhaften Augen. In der Mitte der Stube stand Jaschka der Türke, ein hagerer, schlanker Mann von dreiundzwanzig Jahren, bekleidet mit einem Kaftan aus blauem Nanking. Er sah wie ein fixer Fabrikarbeiter aus und schien sich keiner hervorragenden Gesundheit rühmen zu können. Seine eingefallenen Wangen, seine großen, unruhigen grauen Augen, die gerade Nase mit den feinen, beweglichen Flügeln, die weiße, abschüssige Stirn mit den zurückgeworfenen hellblonden Locken, die dicken, aber schönen und ausdrucksvollen Lippen – sein ganzes Gesicht zeugte von einem leicht erregbaren und leidenschaftlichen Temperament. Er war in großer Aufregung: Er zwinkerte mit den Augen, atmete unregelmäßig, seine Hände zitterten wie im Fieber – und er hatte auch wirklich Fieber, jenes plötzliche Fieber der Unruhe, das allen Menschen, die vor einer Versammlung sprechen oder singen, so gut bekannt ist. Neben ihm stand ein etwa vierzigjähriger Mann mit breiten Schultern und breiten Backenknochen, einer niederen Stirn, tatarischen Schlitzaugen, einer kurzen, flachen Nase, einem viereckigen Kinn und schwarzen, glänzenden, borstenähnlichen Haaren. Den Ausdruck seines dunklen Gesichts mit dem bleigrauen Schimmer, besonders seiner bleichen Lippen, könnte man grausam nennen, wenn er dabei nicht so ruhig und versonnen wäre. Er bewegte sich fast nicht und blickte nur langsam um sich wie ein Stier unter dem Joch. Er trug irgendeinen alten Rock mit glatten Messingknöpfen; ein altes schwarzes Seidentuch umschlang seinen starken Hals. Man nannte ihn den Wilden Herrn. Ihm gerade gegenüber saß auf der Bank unter den Heiligenbildern Jaschkas Gegner, der Bauführer aus Schisdra; dieser war ein Mann von etwa dreißig Jahren, pockennarbig und kraushaarig, mit einer aufgeworfenen, stumpfen Nase, lebhaften braunen Augen und einem dünnen Bärtchen. Er blickte verwegen um sich, hatte die Hände unter sich gesteckt und baumelte und klopfte sorglos mit seinen Füßen, die in eleganten, mit Band besetzten Stiefeln staken. Er trug einen neuen Kittel aus feinem grauem Tuch mit einem Plüschkragen, von dem sich der Saum des roten Hemdes, das am Halse fest zugeknöpft war, scharf abhob. In der Ecke gegenüber, rechts von der Tür, saß am Tisch ein Bäuerlein in einem engen, abgetragenen Kittel mit einem Riesenloch auf der Schulter; Das Sonnenlicht drang als ein flüssiger gelblicher Strom durch die verstaubten Scheiben der beiden kleinen Fenster und schien die gewohnte Dunkelheit des Zimmers nicht besiegen zu können: Alle Gegenstände waren spärlich, fleckenweise beleuchtet; dafür war es in der Stube fast kühl, und das Gefühl der Schwüle und Hitze fiel mir wie eine schwere Last von den Schultern, sobald ich über die Schwelle trat.
Mein Erscheinen – das konnte ich merken – brachte die Gäste Nikolai Iwanytschs anfangs in einige Verlegenheit; als sie aber sahen, daß er mich wie einen Bekannten begrüßte, beruhigten sie sich und schenkten mir keine weitere Aufmerksamkeit. Ich ließ mir Bier geben und setzte mich in die Ecke neben das Bäuerlein im zerrissenen Kittel. »Na«, schrie plötzlich Obaldui auf, nachdem er ein Glas Branntwein auf einen Zug geleert hatte, und begleitete diesen Ausruf mit jenem sonderbaren Fuchteln mit den Händen, ohne das er anscheinend kein einziges Wort zu sprechen pflegte, »was sollen wir noch warten? Wenn wir anfangen wollen, so müssen wir anfangen. Nun, Jasdika …?«
»Anfangen, anfangen«, fiel ihm Nikolai Iwanytsch zustimmend ins Wort.
»Gut, fangen wir meinetwegen an«, versetzte der Bauführer kaltblütig mit einem selbstbewußten Lächeln. »Ich bin fertig.«
»Auch ich bin fertig«, sagte Jakow aufgeregt.
»Nun, fangt doch an, Kinderchen, fangt an«, piepste Morgatsch.
Aber trotz des einstimmig geäußerten Wunsches fing niemand an; der Bauführer erhob sich nicht einmal von seiner Bank – alle schienen noch auf etwas zu warten.
»Fang an!« sagte scharf und düster der Wilde Herr.
Jakow fuhr zusammen. Der Bauführer erhob sich, schob seinen Gürtel hinunter und räusperte sich.
»Wer soll aber anfangen?« fragte er mit leicht veränderter Stimme den Wilden Herrn, der immer noch unbeweglich mitten in der Stube stand, die dicken Beine breit auseinandergespreizt und die mächtigen Hände fast bis an die Ellenbogen in die Hosentaschen vergraben.
»Du, du, Bauführer«, lallte Obaldui, »du, Bruder!«
Der Wilde Herr sah ihn finster an. Obaldui gab einen leisen, piepsenden Ton von sich, wurde verlegen, blickte auf einen Punkt an der Decke, zuckte die Achseln und verstummte.
»Man werfe ein Los«, sagte der «Wilde Herr gedehnt, »und das Achtel Bier auf den Schenktisch!«
Nikolai Iwanytsch bückte sich, hob ächzend das Achtel vom Boden und stellte es auf den Tisch.
Der Wilde Herr sah Jakow an und sagte: »Nun!«
Jakow wühlte in seinen Taschen, holte einen Kupfergroschen hervor und machte mit dem Zahn ein Zeichen darauf. Der Bauführer holte unter dem Schoß seines Kaftans einen neuen Lederbeutel hervor, band ohne Übereilung die Schnur auf, schüttete einen Haufen Kleingeld auf die Hand und suchte einen neuen Groschen heraus. Obaldui hielt seine abgetragene Mütze mit dem gebrochenen und abstehenden Schirm hin; Jakow warf seinen Groschen hinein, und der Bauführer seinen.
»Du hast zu ziehen«, sagte der Wilde Herr zu Morgatsch. Morgatsch lächelte selbstzufrieden, nahm die Mütze in die beiden Hände und begann sie zu schütteln.
Augenblicklich trat eine tiefe Stille ein: die Groschen klirrten, aneinanderschlagend, leise. Ich sah mich aufmerksam um: Alle Gesichter drückten eine gespannte Erwartung aus; der Wilde Herr selbst kniff die Augen zusammen; sogar mein Nachbar, der Bauer im zerrissenen Kittel, reckte neugierig den Hals. Morgatsch steckte die Hand in die Mütze und holte den Groschen des Bauführers hervor; alle atmeten auf. Jakow errötete, und der Bauführer strich sich mit der Hand das Haar.