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»Ich hab' doch gesagt, daß du anfangen sollst«, rief Obaldui, »ich hab' es dir doch gesagt!«

»Nun, nun, krächze nicht!« bemerkte verächtlich der Wilde Herr. »Fang an«, fuhr er fort, mit dem Kopf dem Bauführer zunickend.

»Was für ein Lied soll ich denn singen?« fragte der Bauführer, in Erregung geratend.

»Welches du willst«, antwortete Morgatsch. »Was für ein Lied dir einfällt, das sing.«

»Natürlich, welches du willst«, fügte Nikolai Iwanytsch hinzu, die Hände langsam auf der Brust faltend. »Das kann dir niemand vorschreiben. Sing ein Lied, das du willst; sing aber gut; wir werden nachher nach unserem Gewissen entscheiden.«

»Natürlich, nach unserem Gewissen«, fiel Obaldui ein und leckte am Rande seines leeren Glases.

»Brüder, laßt mir noch etwas Zeit, daß ich mich räuspere«, sagte der Bauführer, mit den Händen am Kragen seines Kaftans nestelnd.

»Nun, nun, mach keine langen Geschichten, fang an!« entschied der Wilde Herr und senkte den Kopf.

Der Bauführer dachte eine Weile nach, schüttelte die Haare und trat vor, Jakow heftete auf ihn seine Augen …

Bevor ich aber mit der Beschreibung des Wettstreites beginne, halte ich es nicht für überflüssig, einige Worte von jeder der handelnden Personen meiner Erzählung zu sagen. Das Leben einiger von ihnen war mir schon bekannt, als ich sie in der Pritynnyj-Schenke traf; über die anderen zog ich erst später Erkundigungen ein.

Wollen wir mit Obaldui anfangen. Dieser Mensch hieß eigentlich Jewgraf Iwanow, aber im ganzen Kreis nannte ihn niemand anders als Obaldui, und auch er selbst titulierte sich mit diesem Spitznamen, so gut paßte er zu ihm. Und in der Tat, er stand gut zu seinen nichtssagenden, immer aufgeregten Gesichtszügen. Er war ein verbummelter, unverheirateter Leibeigener aus dem Hausgesinde, den seine eigene Herrschaft schon längst aufgegeben hatte und der, ohne irgendein Amt zu versehen und ohne einen Groschen Gehalt zu beziehen, dennoch Mittel fand, jeden Tag auf fremde Rechnung zu bummeln. Er hatte eine Menge Bekannte, die ihn mit Branntwein und Tee traktierten, ohne selbst zu wissen, warum; denn er war in Gesellschaft nicht nur nicht unterhaltend, sondern langweilte alle mit seinem albernen Geschwätz, mit seiner unerträglichen Zudringlichkeit, seinen fieberhaften Gebärden und dem unaufhörlichen, unnatürlichen Lachen. Er verstand weder zu singen noch zu tanzen. Zeit seines Lebens hatte er kein einziges kluges, nicht einmal ein halbwegs vernünftiges Wort gesprochen, er faselte nur und log das Blaue vom Himmel herunter – ein wirklicher Obaldui. Und doch konnte vierzig Werst im Umkreis kein einziges Trinkgelage stattfinden, ohne daß sich seine lange, hagere Gestalt unter den Gästen bewegte – so sehr hatte man sich an ihn gewöhnt und ertrug seine Gegenwart wie ein unvermeidliches Übel. Allerdings behandelte man ihn mit Verachtung, aber seine sinnlosen Ausfälle zu bändigen verstand nur der Wilde Herr.

Morgatsch glich in keiner Weise dem Obaldui. Auch ihm stand sein Spitzname Morgatsch gut, obwohl er mit den Augen nicht mehr zwinkerte als alle anderen Menschen; das russische Volk ist bekanntlich ein Meister im Erfinden von Spitznamen. Trotz meiner Bemühungen, die Vergangenheit dieses Menschen genauer zu erforschen, blieben für mich – wahrscheinlich auch für viele andere – in seinem Leben viele dunkle Punkte, oder, wie sich die Büchermenschen ausdrücken, in undurchdringliche Finsternis gehüllte Stellen. Ich hatte nur erfahren, daß er früher einmal Kutscher bei einer alten, kinderlosen Dame gewesen und mit der ihm anvertrauten Troika durchgebrannt war; nachdem er ein ganzes Jahr verschollen war und sich wohl durch Erfahrung von den Schattenseiten und dem Elend des Vagabundenlebens überzeugt hatte, kehrte er von selbst, jedoch lahm zurück, warf sich seiner Herrin zu Füßen, machte durch sein musterhaftes Betragen während einiger Jahre sein Verbrechen wieder gut und erwarb ihre Gunst und ihr volles Vertrauen, so daß er Verwalter wurde und sich nach dem Tode seiner Herrin, man weiß nicht recht auf welche Weise, als Freigelassener auswies; er ließ sich als Kleinbürger einschreiben, fing an, von den Nachbarn Gurkenfelder zu pachten, wurde reich und lebte nun ohne Sorgen. Er war ein erfahrener, vorsichtiger Mann, weder gut noch böse, eher berechnend; ein geriebener Kerl, der die Menschen kennt und sie auszunützen versteht. Er ist vorsichtig und zugleich unternehmungslustig wie ein Fuchs, geschwätzig wie ein altes Weib, verplaudert sich aber nie, sondern läßt jeden andern sich verplaudern. Übrigens spielt er nicht den Dummen, wie es manche Schlauköpfe seiner Art tun; ich habe noch nie im Leben durchdringendere und klügere Augen gesehen als seine winzigen, listigen ›Gucklöcher‹. Sie blickten niemals einfach vor sich hin, sondern schauten immer aus und lauerten. Morgatsch überlegt sich manchmal wochenlang ein scheinbar ganz einfaches Unternehmen, läßt sich dann plötzlich auf eine verzweifelt riskante Sache ein, bei der er sich wohl den Hals brechen müßte … aber eh man sich's versieht, gelingt ihm alles, und alles geht wie geschmiert. Er ist glücklich und glaubt an sein Glück, er glaubt auch an allerlei Vorbedeutungen. Er ist überhaupt sehr abergläubisch. Man liebt ihn nicht, da er sich selbst um niemand kümmert, man hat aber vor ihm Respekt. Seine ganze Familie besteht aus einem einzigen Söhnchen, das er abgöttisch liebt und das, von einem solchen Vater erzogen, gewiß weit kommen wird. »Der kleine Morgatsch ist ganz seinem Vater nachgeraten«, sagen schon jetzt die alten Leute leise von ., ihm, wenn sie an Sommerabenden auf den Bänken sitzen und miteinander reden; alle verstehen, was das bedeutet und fügen kein Wort mehr hinzu.

Über Jakow den Türken und den Bauführer brauche ich mich nicht zu verbreiten. Jakow, der Türke genannt wird, weil er tatsächlich von einer gefangenen Türkin abstammt, ist innerlich ein Künstler in jedem Sinne, seinem Beruf nach aber ein Büttgesell in der Papierfabrik eines Kaufmanns; was den Bauführer angeht, dessen Schicksal mir, offen gestanden, unbekannt blieb, so erschien er mir als ein schlauer und rühriger städtischer Kleinbürger. Aber über den Wilden Herrn lohnt es sich wohl, etwas ausführlicher zu sprechen.

Der erste Eindruck, den der Anblick dieses Menschen macht, ist der einer rohen, schweren, aber unüberwindlichen Kraft. Er ist vierschrötig gebaut, atmet eine unerschütterliche Gesundheit, und seine Bärengestalt entbehrt seltsamerweise nicht einer eigenartigen Grazie, die vielleicht auf seinem vollkommen ruhigen Vertrauen auf die eigene Macht beruht. Es war schwer, auf den ersten Blick zu bestimmen, welchem Stand dieser Herkules angehörte; er glich weder einem Leibeigenen noch einem Kleinbürger, noch einem verarmten verabschiedeten Schreiber, noch einem ruinierten kleinen Edelmann, einem Hundenarren und Raufbold; er war etwas ganz für sich. Niemand wußte, woher er in unseren Landkreis hereingeschneit war; man erzählte sich, er stamme von Einhöfern ab und habe früher einmal irgendwo gedient; aber man wußte nichts Bestimmtes darüber; man konnte es ja auch von niemandem erfahren, jedenfalls nicht von ihm selbst; es; gab keinen schweigsameren und düstereren Menschen auf der Welt. Ebenso konnte niemand etwas Bestimmtes darüber sagen, wovon er lebte; er trieb kein Handwerk, fuhr zu niemandem hin und verkehrte fast mit niemandem; und doch hatte er Geld, wenn auch nicht viel, aber immerhin etwas. Er benahm sich nicht gerade bescheiden – Bescheidenheit war ihm überhaupt fremd – , aber ruhig; er lebte, als wenn er niemanden um sich herum bemerkte und absolut keines ›Menschen bedurfte. Der Wilde Herr (das war sein Spitzname, eigentlich hieß er Perewljessow) hatte einen großen Einfluß im ganzen Landkreis; man gehorchte ihm sofort und gern, obwohl er nicht nur nicht das geringste Recht hatte, jemand zu befehlen, sondern auch gar keinen Anspruch auf den Gehorsam der Menschen erhob, mit denen er zufällig zusammentraf. Er sprach, und man gehorchte ihm – die Kraft behauptet sich immer. Er trank fast niemals Branntwein, gab sich nicht mit Weibern ab und liebte leidenschaftlich den Gesang. In diesem Menschen war viel Rätselhaftes; irgendwelche Riesenkräfte schienen in ihm düster zu schlummern, als wüßten sie, daß sie, wenn sie einmal befreit zum Ausbruch kämen, ihn selbst und alles, was sie berührten, zermalmen würden; ich müßte mich grausam irren, wenn im Leben dieses Menschen nicht schon ein solcher Ausbruch stattgefunden hat und er, durch Erfahrung belehrt und mit Mühe dem Untergang entronnen, sich jetzt nicht selbst unerbittlich in eisernem Zaum hielt. Besonders wunderte mich an ihm das Gemisch einer angeborenen natürlichen Grausamkeit und einer ebenso angeborenen Großherzigkeit – ein Gemisch, wie ich es noch bei keinem Menschen wahrgenommen habe.