Der Bauführer trat also vor, schloß halb die Augen und begann im allerhöchsten Falsett. Seine Stimme war recht angenehm und süß, wenn auch etwas heiser; er ließ diese Stimme wie einen Kreisel spielen, stieg unaufhörlich in die Höhe und in die Tiefe und kehrte unaufhörlich zu den höchsten Noten zurück, die er mit besonderer Sorgfalt anhielt und dehnte; dann verstummte er und ergriff plötzlich die frühere Melodie mit einer herausfordernden, zügellösen Bravour. Seine Passagen waren zuweilen ziemlich kühn, zuweilen recht amüsant; einem Kenner würden sie viel Vergnügen machen, ein Deutscher würde sich über sie entrüsten. Es war ein russischer Tenore di grazia, ténor léger. Er sang ein lustiges Tanzlied, dessen Worte, soviel ich durch die fortwährenden Ausschmückungen, durch die hinzugefügten Konsonanten und Ausrufe erkennen konnte, wie folgt, lauteten:
Werde pflügen, junge Dirne, meinen Acker gut –
werde säen, junge Dirne, Blumen rot wie Blut …
Er sang; alle hörten ihm mit großer Aufmerksamkeit zu. Er fühlte offenbar, daß er es mit Kennern zu tun hatte, und fuhr deshalb, wie man so sagt, aus der Haut. In unserer Gegend versteht man sich in der Tat auf den Gesang, und nicht umsonst ist das Kirchdorf Sergijewskoje an der großen Orjolschen Landstraße in ganz Rußland wegen seines angenehmen und harmonischen Gesanges berühmt. Lange sang der Bauführer, ohne jedoch in seinen Hörern ein besonders starkes Mitgefühl zu wecken. Ihm fehlte die Unterstützung eines Chores; aber bei einer besonders gelungenen Passage, die selbst den Wilden Herrn zum Lächeln brachte, konnte sich Obaldui nicht länger beherrschen und schrie vor Vergnügen auf. Alle wurden lebendig. Obaldui und Morgatsch fingen an, halblaut mitzusingen und zu schreien: »Gut… Höher, du Schelm! Noch höher, halte den Ton, du Schlange! Halte den Ton! Noch, noch, du Hund…! Möge Herodes deine Seele zugrunde richten!« usw. Nikolai Iwanytsch wiegte hinter seinem Schenktisch den Kopf zustimmend nach rechts und nach links. Obaldui begann schließlich mit den Füßen zu stampfen und zu tänzeln und mit der Achsel zu zucken; Jakows Augen glühten aber wie die Kohlen, er zitterte am ganzen Leib wie ein Espenblatt und lächelte wie verstört. Nur der Wilde Herr allein veränderte seinen Gesichtsausdruck nicht und rührte sich nach wie vor nicht von der Stelle; aber sein auf den Bauführer gerichteter Blick wurde etwas milder, obwohl der Ausdruck der Lippen verächtlich blieb. Ermutigt durch die Zeichen allgemeiner Zufriedenheit, geriet der Bauführer in Ekstase und begann solche Kunststücke zu machen, so mit der Zunge zu schnalzen und zu trommeln, so wahnsinnig mit der Gurgel zu spielen, daß, als er schließlich müde, bleich und in heißen Schweiß gebadet sich mit dem ganzen Körper vorbeugte und den letzten ersterbenden Ton losließ, ein allgemeiner einstimmiger Schrei ihm zujubelte. Obaldui warf sich ihm an den Hals und begann ihn mit seinen langen, knochigen Armen zu würgen; auf dem fleischigen Gesicht Nikolai Iwanytschs zeigte sich eine Röte, und er schien auf einmal jünger; Jakow schrie wie verrückt: »Braver Kerl!« Sogar mein Nachbar, der Bauer im zerrissenen Kittel, hielt es nicht länger aus; er schlug mit der Faust auf den Tisch, rief: »Ah! Gut, hol' dich der Teufel, gut!« und spuckte entschieden auf die Seite.
»Na, Bruder, du hast uns erfreut!« schrie Obaldui, ohne den erschöpften Bauführer aus seinen Armen zu lassen. »Du hast uns erfreut, das muß man sagen! Du hast gewonnen, Bruder, du hast gewonnen! Ich gratuliere, das Achtel ist dein! Jaschka reicht an dich nicht heran … Ich sage es dir, er reicht gar nicht heran … Glaub es mir!« Und er drückte den Bauführer an seine Brust.
»Laß ihn doch los, laß ihn doch los, du Klette …«, sagte geärgert Morgatsch. »Laß ihn sich auf die Bank setzen, siehst, er ist müde…! Was bist du für ein Schafskopf, Bruder! Was klebst du an ihm wie ein Birkenblatt vom Badebesen?«
»Nun, soll er sich nur setzen, ich trinke aber auf seine Gesundheit«, sagte Obaldui und ging zum Schenktisch. »Auf deine Rechnung, Bruder«, fügte er hinzu, zum Bauführer gewandt.
Jener nickte mit dem Kopf, setzte sich auf die Bank, holte aus der Mütze ein Handtuch und begann sich das Gesicht abzuwischen; Obaldui trank indessen mit hastiger Gier ein Glas aus, wobei er nach Art der Gewohnheitstrinker krächzte und traurig und besorgt um sich blickte.
»Du sings gut, Bruder, gut«, bemerkte Nikolai Iwanytsch freundlich. »Jetzt bist du an der Reihe, Jascha, paß auf, daß dir nicht die Courage ausgeht. Wollen wir sehen, wer wen übertrifft … Wollen wir sehen . .. Aber der Bauführer singt gut, bei Gott, gut.«
»Sehr gut«, bemerkte die Frau Nikolai Iwanytschs, mit einem Lächeln auf Jakow blickend.
»Gut!« wiederholte halblaut mein Nachbar.
»Ach du, verdächtiger Poljeche!« brüllte plötzlich Obaldui; dann trat er zu dem Bauern mit dem Loch an der Schulter, deutete mit dem Finger auf ihn, begann zu hüpfen und brach in ein zittriges Lachen, aus. »Poljeche! Poljeche! Ga badje panjaj, du Verdächtiger! Warum bist du hergekommen?« schrie er lachend.
Der arme Bauer wurde verlegen und wollte schon aufstehen und schnell fortgehen, als plötzlich die eherne Stimme des Wilden Herrn erklang. »Was ist das für ein unerträgliches Vieh!« versetzte er, mit den Zähnen knirschend.
»Ich tue nichts«, murmelte Obaldui, »ich tue nichts … ich habe nur so …«
»Also gut, schweig!« entgegnete der Wilde Herr. »Jakow, fang an!«
Jakow griff sich mit der Hand an die Gurgel.
»Ich weiß nicht, Bruder, es ist etwas … Hm … Ich weiß wirklich nicht …«
»Hör auf und verlier nicht die Courage. Schäme dich … ! Was machst du für Geschichten … ? Sing, wie Gott dir befiehlt.«
Und der Wilde Herr senkte erwartungsvoll das Gesicht.
Jakow schwieg eine Weile, sah sich um und bedeckte sich das Gesicht mit der Hand. Alle verschlangen ihn mit den Augen, besonders der Bauführer, dessen Gesicht neben der gewohnten Sicherheit und Siegesgewißheit auch eine unwillkürliche leichte Unruhe zeigte. Er lehnte sich an die Wand, steckte wieder beide Hände unter sich, baumelte aber nicht mehr mit den Füßen. Und als Jakow endlich sein Gesicht enthüllte, war es bleich wie das eines Toten, und die Augen leuchteten kaum durch die gesenkten Wimpern. Er holte tief Atem und begann zu singen … Der erste Ton seiner Stimme war schwach und ungleichmäßig und schien nicht aus seiner Brust zu kommen, sondern aus der Ferne, als hätte er sich zufällig in die Stube verirrt. Seltsam wirkte dieser zitternde, klingende Ton auf uns alle; wir sahen einander an, und die Frau Nikolai Iwanytschs richtete sich auf. Diesem ersten Ton folgte ein zweiter, sicherer und getragener, aber immer noch zitternd wie eine Saite, die unter einem starken Finger plötzlich erklingend, ihre letzten Schwingungen ersterben läßt; dem zweiten Ton folgte ein dritter, und das schwermütige Lied floß immer wärmer und breiter dahin. Er sang: »Nicht ein Weglein ist im Felde«, und uns allen wurde es süß und so bang ums Herz. Ich muß gestehen: Selten habe ich eine solche Stimme gehört. Sie klang wie gesprungen, anfangs sogar etwas krankhaft, aber es lag in ihr eine unverfälschte tiefe Leidenschaft, Jugend, Kraft, Süße und eine eigentümliche, hinreißend sorglose Sehnsucht und Trauer. Die wahre, heiße Russenseele klang und atmete darin und griff einen ans Herz, rührte an den russischen Saiten. Das Lied schwoll an und wuchs. Jakow geriet sichtlich in Begeisterung; er fürchtete sich nicht mehr, er gab sich ganz seinem Glücke hin; seine Stimme bebte nicht mehr, sie zitterte, aber nur von jener kaum merklichen inneren Leidenschaft, die sich wie ein Pfeil in die Seele des Hörers bohrt; sie erstarkte fortwährend, wurde sicherer und mächtiger. Ich erinnere mich, wie ich einmal abends während der Ebbe auf einem flachen, sandigen Ufer des Meeres, das drohend und schwer in der Ferne brauste, eine große weiße Möwe sah; sie saß unbeweglich, die seidige Brust dem blutroten Schein des Abendrotes zugewendet, und breitete nur ab und zu ihre langen Flügel langsam dem ihr vertrauten Meer, der tief stehenden dunkelroten Sonne entgegen; als ich Jakow zuhörte, kam sie mir in den Sinn. Er sang, ohne an seinen Gegner und an uns alle zu denken, aber sichtbar von unserer leidenschaftlichen, stummen Teilnahme wie ein rüstiger Schwimmer von den Wogen getragen. Er sang, und aus jedem Ton seiner Stimme wehte uns etwas Verwandtes und grenzenlos Weites an, als breitete sich vor uns die vertraute, in der unendlichen Ferne verschwindende Steppe. Aus meinem Herzen, ich fühlte es, stiegen mir in die Augen heiße Tränen auf; ein dumpfes, verhaltenes Schluchzen überraschte mich plötzlich … ich sah mich um: Die Frau des Schenkwirts weinte, mit der Brust ans Fenster gelehnt. Jakow warf ihr einen schnellen Blick zu, und seine Stimme ergoß sieh noch klangvoller, noch süßer als vorher; Nikolai Iwanytsch senkte die Augen, Morgatsch hatte sich abgewandt; Obaldui stand, ganz matt vor Genuß, mit dumm geöffnetem Munde da; das graue Bäuerlein schluchzte leise im Winkel und schüttelte, traurig flüsternd, den Kopf; über das eiserne Gesicht des Wilden Herrn rollte aus seinen ganz zusammengezogenen Brauen langsam eine schwere Träne; der Bauführer drückte die geballte Faust an die Stirn und rührte sich nicht … Ich weiß nicht, wie die allgemeine, qualvolle Spannung sich gelöst hätte, wenn nicht Jakow plötzlich mit einem hohen, ungewöhnlich feinen Ton geendigt hätte – es war, als wäre seine Stimme gerissen. Niemand schrie auf, niemand rührte sich; alle schienen zu warten, ob er nicht noch etwas sänge; aber er öffnete die Augen, wie über unser Schweigen erstaunt, sah sich fragend im Kreise um und merkte, daß der Sieg sein war …