»Um besser zu sehen.«
»Zeigen Sie es mir.«
Viktor verzog das Gesicht, reichte ihr aber das Glas.
»Paß auf, zerbrich es nicht.«
»Keine Angst, ich zerbreche es nicht.« Sie führte das Glas vorsichtig ans Auge. »Ich sehe nichts«, sagte sie harmlos.
»Kneif doch das Auge zu«, entgegnete er mit der Stimme eines unzufriedenen Schulmeisters. Sie kniff das Auge zu, vor dem sie das Glas hielt. »Nein, nicht dieses, nicht dieses, du Dumme! Das andere«, rief Viktor und nahm ihr das Lorgnon weg, ohne ihr Zeit zu lassen, ihren Fehler wieder gutzumachen.
Akulina errötete, lachte leise und wandte sich weg.
»Es taugt wohl nicht für uns«, sagte sie,
»Das will ich meinen!«
Die Arme schwieg eine Weile und seufzte tief. »Ach, Viktor Alexandrytsch, wie werde ich ohne Sie leben!« sagte sie plötzlich.
Viktor wischte das Lorgnon mit dem Mantelschoß ab und steckte es wieder in die Tasche.
»Ja, ja«, sagte er endlich, »es wird dir anfangs wirklich schwer fallen.« Er klopfte sie herablassend auf die Schulter; sie nahm leise seine Hand von ihrer Schulter und küßte sie schüchtern. »Nun, gewiß, du bist ein gutes Mädel«, fuhr er mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »aber was soll man machen? Urteile doch selbst! Mein Herr und ich können doch nicht hier bleiben; bald beginnt der Winter, und im Winter auf dem Land, du weißt es selbst, ist es einfach gemein. Wie anders ist es in Petersburg! Dort gibt es solche Wunder, wie du Dumme sie dir nicht vorstellen kannst. Was für Häuser, was für Straßen, und erst die Gesellschaft, die Bildung – wunderbar …« Akulina hörte ihm mit verzehrender Neugierde zu, den Mund wie ein Kind halb geöffnet. »Übrigens«, fügte er hinzu, sich auf der Erde rekelnd, »wozu erzähle ich dir das alles? Du kannst es ja doch nicht verstehen!«
»Warum denn nicht, Viktor Alexandrytsch? Ich habe es verstanden, ich habe alles verstanden.«
»Schau, schau!«
Akulina senkte den Kopf.
»Früher haben Sie mit mir nicht so gesprochen, Viktor Alexandrytsch«, sagte sie, ohne die Augen zu heben.
»Früher…? Früher! Sieh mal an …! Früher!« bemerkte er unzufrieden.
Beide schwiegen.
»Ich muß aber gehen«, sagte Viktor und stützte sich schon auf einen Ellenbogen …
»Warten Sie noch ein Weilchen«, versetzte Akulina mit flehender Stimme.
»Worauf soll ich warten …? Ich hab' mich ja von dir schon verabschiedet.«
»Warten Sie«, wiederholte Akulina.
Viktor legte sich wieder hin und fing zu pfeifen an. Akulina sah ihn unverwandt an. Ich konnte sehen, wie sie allmählich in Aufregung geriet; ihre Lippen zuckten, ihre Wangen röteten sich …
»Viktor Alexandrytsch«, begann sie endlich mit stockender Stimme, »es ist Sünde … es ist Sünde, Viktor Alexandrytsch, bei Gott!«
»Was ist Sünde?« fragte er mit gerunzelten Brauen, indem er sich leicht erhob und den Kopf zu ihr wandte.
»Es ist Sünde, Viktor Alexandrytsch. Hätten Sie mir doch nur ein einziges gutes Wörtchen zum Abschied gesagt; ein einziges gutes – Wörtchen mir, der Armen, Verlassenen …«
»Was soll ich dir sagen?«
»Ich weiß es nicht; das müssen Sie besser wissen, Viktor Alexandrytsch. Sie reisen doch fort, und kein einziges Wörtchen … Womit habe ich das verdient?«
»Wie merkwürdig du bist! Was kann ich denn sagen?«
»Wenn nur ein einziges Wörtchen …«
»Immer dasselbe«, sagte er ärgerlich und stand auf.
»Seien Sie nicht böse, Viktor Alexandrytsch«, fügte sie schnell hinzu, mit Mühe die Tränen zurückhaltend.
»Ich bin nicht böse, aber du bist dumm … Was willst du? Ich kann dich doch nicht heiraten? Ich kann es doch nicht? Also was willst du dann? Was?« Er streckte das Gesicht vor, als erwarte er eine Antwort, und spreizte die Finger.
»Ich will nichts … gar nichts«, antwortete sie stotternd und kaum wagend, ihm ihre bebenden Hände entgegenzustrecken, »aber nur ein einziges Wörtchen zum Abschied …«
Aus ihren Augen stürzten Tränen.
»Das habe ich mir auch gedacht, jetzt weint sie«, versetzte Viktor kaltblütig, indem er sich die Mütze von hinten über die Augen stülpte.
»Ich will nichts«, fuhr sie fort, schluchzend und das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, »aber wie wird es mir jetzt in meiner Familie sein, wie? Und was soll aus mir Unglücklichen werden? Mit einem verhaßten Mann wird man mich Verwaiste verheiraten … Mein armer Kopf!«
»Weine nur, weine«, murmelte Viktor halblaut, von einem Fuß auf den anderen tretend.
»Hätten Sie mir doch nur ein einziges Wörtchen gesagt, nur ein einziges …« Und nach einer langen Pause: »Hätten Sie mir doch gesagt: ›Akulina, ich …‹«
Ein plötzliches, herzzerreißendes Schluchzen ließ sie nicht zu Ende sprechen, sie warf sich mit dem Gesicht ins Gras und fing bitter zu weinen an … Ihr ganzer Körper zitterte wie im Krampf, ihr Nacken hob sich … Der lange zurückgehaltene Schmerz brach endlich als unaufhaltsamer Strom hervor. Viktor stand eine Weile neben ihr, zuckte die Achseln, drehte sich um und entfernte sich mit großen Schritten.
Es vergingen einige Augenblicke … Sie wurde stiller, hob den Kopf, sprang auf, sah sich um und schlug die Hände zusammen; sie wollte ihm nachlaufen, aber ihre Füße knickten ein, sie fiel in die Knie … Ich hielt es nicht länger aus und stürzte mich zu ihr; aber kaum hatte sie mich gesehen, als sie, Gott weiß woher, wieder zu Kräften kam; sie erhob sich mit einem leisen Schrei und verschwand zwischen den Bäumen, die auf der Erde zerstreuten Blumen zurücklassend.
Ich blieb eine Weile stehen, hob das Kornblumensträußchen auf und ging aus dem Wäldchen auf das freie Feld. Die Sonne stand tief auf dem blassen, heiteren Himmel, ihre Strahlen schienen welk und kälter geworden zu sein, sie glänzten nicht mehr und ergossen sich als ein gleichmäßiges, wässeriges Licht. Bis zum Abend blieb höchstens eine halbe Stunde, aber das Abendrot fing erst eben zu glühen an. Ein Wind kam mir stoßweise über das gelbe, trockene Stoppelfeld entgegen; vor ihm wirbelten hastig über die Straße am Waldessaum hin kleine, dürre Blätter; die dem Feld zugekehrte Seite des Gehölzes zitterte und flimmerte klar, doch nicht grell; auf dem rötlichen Gras, auf den Strohhalmen, überall glänzten und wogten zahllose Herbstfäden. Ich blieb stehen … Es wurde mir traurig ums Herz; durch das freudige, wenn auch noch frische Lächeln der welkenden Natur glaubte ich die bedrückende Angst vor dem nahenden Winter zu spüren. Hoch über mir flog ein vorsichtiger Rabe, die Luft schwer und scharf mit seinen Flügeln schneidend; er wandte den Kopf, sah mich von der Seite an, schwang sich auf und verschwand mit abgerissenem Gekrächze hinter dem Wald; ein großer Schwarm Tauben stieg schnell von der Tenne auf, wirbelte plötzlich in einer Säule auf, zerstreute sich geschäftig über das Feld – ein Zeichen des Herbstes! Jemand fuhr über die entblößten Hügel, und sein leerer Wagen rasselte laut …
Ich kehrte nach Hause zurück; aber das Bild der armen Akulina kam mir lange nicht aus dem Sinn, und ihre schon längst verwelkten Kornblumen bewahre ich auch heute noch auf …
Der Hamlet des Schtschigrowschen Kreises
Auf einer meiner Fahrten wurde ich vom reichen Gutsbesitzer und Jagdliebhaber Alexander Michailytsch G*** zum Essen geladen. Sein Gut lag etwa fünf Werst von dem kleinen Dörfchen, in dem ich damals wohnte. Ich zog meinen Frack an, ohne den ich niemand rate, sogar zur Jagd auszufahren, und begab mich zu Alexander Michailytsch. Das Mittagessen war für sechs Uhr angesetzt; ich kam um fünf und traf bereits eine große Anzahl von Edelleuten in Uniform, in Zivilkleidern und in anderen, weniger charakteristischen Anzügen vor. Der Hausherr empfing mich freundlich, lief aber gleich in das Dienstbotenzimmer. Er erwartete irgendeinen hohen Würdenträger und befand sich daher in einer gewissen Aufregung, die zu seiner unabhängigen Stellung in der Gesellschaft und seinem Reichtum gar nicht paßte. Alexander Michailytsch war nie verheiratet gewesen und liebte keine Frauen; bei ihm versammelten sich lauter Herren. Er lebte auf großem Fuß, vergrößerte seinen Ahnensitz und stattete ihn mit großem Pomp aus, verschrieb sich alljährlich für etwa fünfzehntausend Rubel Wein aus Moskau und genoß überhaupt das größte Ansehen. Alexander Michailytsch hatte schon längst den Dienst quittiert und strebte nach keinen Ehren … Was veranlaßte ihn dann, sich den Besuch des hochgestellten Gastes zu erbetteln und sich am Tag des feierlichen Mittagessens vom Morgen an so aufzuregen? Das bleibt vom Dunkel der Ungewißheit verhüllt, wie mein Bekannter, ein Gerichtsbeamter, zu antworten pflegte, wenn man ihn fragte, ob er von freiwilligen Gebern Geldgeschenke annehme.