Ich schlug irgendwie die Zeit bis zum Abend tot, befahl meinem Kutscher, den Wagen am anderen Morgen um fünf Uhr anzuspannen, und begab mich zur Ruhe.
Aber es war mir beschieden, noch am gleichen Tag einen sehr merkwürdigen Menschen kennenzulernen.
Infolge der großen Zahl der Gäste schlief niemand allein. In dem kleinen, grünlichen, etwas feuchten Zimmer, in das mich der Haushofmeister Alexander Michailytschs geleitet hatte, befand sich schon ein anderer Gast, der schon völlig entkleidet war. Als er mich sah, tauchte er schnell unter seine Bettdecke, zog sie sich bis über die Nase, rückte noch eine Weile auf dem weichen Pfühle hin und her und beruhigte sich dann, blickte aber aufmerksam unter dem runden Saum seiner baumwollenen Nachtmütze hervor. Ich trat an das andere Bett (es waren nur zwei Betten im Zimmer), zog mich aus und legte mich auf das feuchte Laken. Mein Nachbar bewegte sich in seinem Bett … Ich wünschte ihm gute Nacht.
So verging eine halbe Stunde. Trotz meiner Bemühungen konnte ich unmöglich einschlafen: In einem endlosen Reigen zogen sich unnütze und verworrene Gedanken hin, hartnäckig und einförmig wie die Eimer einer Schöpfmaschine.
»Mir scheint, Sie schlafen nicht?« fragte mein Nachbar.
»Wie Sie sehen«, antwortete ich. »Aber auch Sie sind noch nicht schläfrig?«
»Ich bin niemals schläfrig.«
»Wieso?«
»So. Ich weiß selbst nicht, wie ich einschlafe; ich liege, liege und schlafe plötzlich ein.«
»Warum legen Sie sich dann zu Bett, ehe Sie schläfrig sind?«
»Was soll ich denn machen?«
Ich beantwortete diese Frage meines Nachbars nicht.
»Ich wundere mich«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »warum es hier keine Flöhe gibt. Man sollte glauben, daß gerade hier welche sein müßten.«
»Sie scheinen sie sehr zu vermissen«, bemerkte ich.
»Nein, ich vermisse sie nicht; aber ich liebe in allen Dingen die Konsequenz.«
So, so, dachte ich mir, solche Worte gebraucht er also!
Der Nachbar schwieg wieder.
»Wollen Sie mit mir wetten?« begann er von neuem ziemlich laut.
»Worüber?«
Mein Nachbar fing an, mich zu amüsieren.
»Hm … worüber? Nun, ich bin überzeugt, daß Sie mich für einen Dummkopf halten.«
»Ich bitte Sie!« murmelte ich erstaunt.
»Für einen Steppenmenschen, für einen ungebildeten Kerl … Gestehen Sie es nur …«
»Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen«, entgegnete ich. »Woraus konnten Sie denn schließen …«
»Woraus! Schon aus dem Ton Ihrer Stimme; Sie antworten mir so nachlässig … Ich bin aber etwas ganz anderes als das, für was Sie mich halten …«
»Erlauben Sie …«
»Nein, erlauben Sie. Erstens spreche ich Französisch nicht schlimmer als Sie, Deutsch sogar besser als Sie; zweitens habe ich drei Jahre im Ausland verbracht, in Berlin allein habe ich acht Monate verlebt. Ich habe Hegel studiert, sehr verehrter Herr, und kann Goethe auswendig; außerdem war ich lange in die Tochter eines deutschen Professors verliebt und habe hier zu Hause ein schwindsüchtiges Mädchen geheiratet, eine kahlköpfige, aber sehr bemerkenswerte Person. Folglich bin ich aus dem gleichen Holz wie Sie; ich bin kein Steppenmensch, wie Sie es wohl annehmen … Auch ich bin von der Reflexion vergiftet, und es ist nichts Ursprüngliches in mir.«
Ich hob den Kopf und sah den merkwürdigen Menschen mit doppelter Aufmerksamkeit an. Beim trüben Schein des Nachtlichtes konnte ich seine Züge kaum unterscheiden.
»Jetzt sehen Sie mich an«, fuhr er fort, indem er seine Nachtmütze zurechtrückte, »und fragen sich wohclass="underline" Wie habe ich ihn heute am Tag nicht bemerkt? Ich will Ihnen sagen, warum Sie mich nicht bemerkt haben: Weil ich meine Stimme nicht erhebe; weil ich mich hinter den anderen verstecke, hinter der Tür stehe und mit niemandem spreche; weil der Haushofmeister, wenn er mit dem Tablett an mir vorüberkommt, im voraus schon seinen Ellenbogen in die Höhe meiner Brust hebt … Woher kommt aber das alles? Aus zwei Ursachen: Erstens bin ich arm, und zweitens habe ich mich gedemütigt … Sagen Sie doch die Wahrheit: Sie haben mich nicht bemerkt?«
»Ich hatte wirklich nicht das Vergnügen …«
»Nun ja, nun ja«, unterbrach er mich, »ich habe es gewußt.«
Er setzte sich auf und kreuzte die Arme; der lange Schatten seiner Nachtmütze bog sich von der Wand weg auf die Decke hinüber.
»Gestehen Sie doch«, fügte er hinzu, mich plötzlich von der Seite anblickend, »Sie müssen mich für einen großen Sonderling, was man ein Original nennt, halten, vielleicht sogar für etwas Schlimmeres; vielleicht glauben Sie gar, daß ich den Sonderling bloß spiele?«
»Ich muß Ihnen noch einmal sagen, daß ich Sie nicht kenne …«
Er senkte auf einen Augenblick das Gesicht.
»Warum ich mit Ihnen, einem mir völlig unbekannten Menschen, so unerwartet ins Gespräch gekommen bin – das weiß der liebe Gott allein!« Er seufzte. »Doch nicht infolge der Verwandtschaft unserer Seelen! Sie und ich, wir sind beide anständige Menschen, das heißt Egoisten: Ich kümmere mich nicht um Sie, und Sie kümmern sich nicht um mich, nicht wahr? Aber wir können beide nicht einschlafen … Warum soll man dann nicht ein wenig plaudern? Ich bin in Stimmung, und das kommt bei mir selten vor. Ich bin, sehen Sie, schüchtern, schüchtern nicht aus dem Grunde, daß ich ein armer, titelloser Provinzler bin, sondern weil ich schrecklich selbstsüchtig bin. Aber zuweilen, unter dem Einfluß günstiger Umstände und Zufälligkeiten, die ich übrigens selbst weder zu bestimmen noch vorauszusehen vermag, verschwindet meine Schüchternheit, wie zum Beispiel jetzt, vollkommen. Sie können mich jetzt dem Dalai-Lama selbst gegenüberstellen, und ich werde ihn um eine Prise bitten. Aber vielleicht wollen Sie schon schlafen?«
»Im Gegenteil«, beeilte ich mich zu erwidern, »es ist mir sehr angenehm, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Das heißt, ich amüsiere Sie, wollten Sie wohl sagen … Um so besser. Ich will Ihnen also sagen, daß man mich hier ein Original nennt, das heißt, so nennen mich diejenigen, denen unter anderm Unsinn auch mein Name auf die Zunge kommt. Um mein Schicksal ist niemand allzusehr besorgt … Sie glauben mich damit zu kränken … Mein Gott, wenn sie wüßten … ja, ich gehe eben darum zugrunde, weil in mir gerade nichts Originelles ist, nichts außer solchen Ausfällen wie zum Beispiel mein jetziges Gespräch mit Ihnen; aber diese Ausfälle sind keinen roten Heller wert, das ist die billigste und gemeinste Art der Originalität.«
Er wandte mir sein Gesicht zu und schwang die Hände.
»Verehrter Herr«, rief er aus, »ich bin der Ansicht, daß nur die Originale allein ein gutes Leben und ein Recht zu leben haben. Mon verre n'est pas grand, mais je bois dans mon verre, hat jemand gesagt. – Hören Sie«, fügte er halblaut hinzu, »wie rein ich das Französische ausspreche. Was habe ich davon, daß dein Kopf groß und geräumig ist, daß du alles verstehst, viel weißt, mit deiner Zeit Schritt hältst, wenn du nichts Originelles, Besonderes hast? Es ist wohl ein Abladeplatz für die Gemeinplätze in der Welt mehr, wer hat aber etwas davon? Nein, sei meinetwegen dumm, sei es aber auf deine eigene Weise! Habe deinen Geruch, deinen eigenen Geruch, das ist es! – Glauben Sie nur nicht, daß ich in bezug auf diesen Geruch allzu große Forderungen stelle … Gott behüte! Solche Originale gibt es eine Menge, wo man auch hinsieht, ist ein Original; jeder lebendige Mensch ist ein Original, ich bin aber nicht darunter!«
»Und doch habe ich«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »in meiner Jugend gewisse Hoffnungen geweckt! Was für eine hohe Meinung habe ich selbst von meiner Person vor meiner Abreise nach dem Ausland gehabt und auch in der ersten Zeit nach meiner Rückkehr! Nun, im Ausland war ich auf der Hut, suchte mir meinen Weg selbst, wie es auch unsereinem ziemt, der alles zu begreifen sucht und zuletzt, wie es sich herausstellt, doch nichts begriffen hat!«
»Ein Original, ein Original!« fuhr er fort, vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd. »Alle nennen mich ein Original, aber in Wirklichkeit zeigt es sich, daß es in der Welt keinen weniger originellen Menschen gibt als Ihren ergebensten Diener. Wahrscheinlich bin ich auch nur als eine Kopie eines anderen geboren … Bei Gott! Ich lebe auch gleichsam als Nachahmung verschiedener Schriftsteller, die ich studiert habe, ich lebe im Schweiß meines Angesichts; ich habe studiert, habe mich verliebt und schließlich auch geheiratet, gleichsam nicht nach eigenem Willen, sondern als wenn ich damit eine Pflicht oder eine Aufgabe zu erfüllen hätte – wer kann daraus klug werden!« Er riß sich die Nachtmütze vom Kopf.
»Wollen Sie, daß ich Ihnen mein Leben erzähle«, fragte er mich kurz, »oder, noch besser, einige Züge aus meinem Leben?«
»Tun Sie mir den Gefallen!«
»Oder nein, ich will Ihnen lieber erzählen, wie ich geheiratet habe. Die Heirat ist doch eine wichtige Sache, ein Prüfstein des ganzen Menschen; in ihr spiegelt sich wie in einem Spiegelglas … aber dieser Vergleich ist zu abgegriffen … Gestatten Sie, daß ich mir eine Prise nehme.«
Er holte unter dem Kissen seine Tabaksdose hervor, öffnete sie und begann wieder zu sprechen, die geöffnete Tabaksdose in der Hand schwingend.
»Versetzen Sie sich doch in meine Lage, sehr geehrter Herr … Urteilen Sie selbst, sagen Sie mir doch, was für einen Nutzen konnte ich aus Hegels Enzyklopädie ziehen? Was hat diese Enzyklopädie mit dem russischen Leben gemein? Wie wollen Sie sie auf unser Leben anwenden, und nicht nur diese Enzyklopädie allein, sondern die deutsche Philosophie überhaupt … ich sage noch mehr: die Wissenschaft?«
Er sprang in seinem Bett auf und begann halblaut, die Zähne boshaft zusammengebissen, zu murmeln: »Ja, so ist es, so ist es …! Warum hast du dich denn im Ausland herumgetrieben? Warum hast du nicht zu Hause gesessen und das dich umgebende Leben an Ort und Stelle studiert? Dann hättest du alle seine Einzelheiten, auch seine Zukunft kennengelernt und wärest dir auch über deine sogenannte Bestimmung klargeworden … Erlauben Sie doch«, fuhr er fort, mit wieder veränderter Stimme, als rechtfertige er sich und verzage, »wo soll unsereins das studieren, was noch kein einziger kluger Mensch in ein Buch geschrieben hat? Ich hätte mich ja sehr gerne vom russischen Leben belehren lassen, aber dieses liebe Leben schweigt. Es sagt: ›Erfasse mich von selber!‹ Ich habe aber nicht die Kraft dazu; man gebe mir die Deduktionen, ziehe mir die Schlüsse … Die Schlüsse? Da hast du, sagt man mir, die Schlüsse: Höre doch mal unsere Moskauer an, sind sie vielleicht keine Nachtigallen? – Das ist aber das Unglück, daß sie wie die Kursker Nachtigallen schmettern, aber nicht wie Menschen reden … So überlegte ich und sagte mir, die Wissenschaft sei doch überall die gleiche, auch die Wahrheit sei die gleiche, und begab mich in Gottes Namen in die Fremde zu den Ungläubigen … Was wollen Sie! Die Jugend, der Stolz war mir zu Kopf gestiegen. Wissen Sie, ich wollte nicht vor der Zeit Fett ansetzen, obwohl man sagt, es sei gesund. Übrigens: Wem die Natur kein Fleisch gegeben hat, der wird niemals Fett an seinem Leib sehen!«
»Aber ich glaube«, fuhr er nach einigem Nachdenken fort, »ich versprach, Ihnen zu erzählen, auf welche Weise ich geheiratet habe. Hören Sie zu. Erstens muß ich Ihnen sagen, daß meine Frau nicht mehr unter den Lebenden weilt; zweitens … zweitens sehe ich, daß ich Ihnen von meiner Jugend erzählen muß, sonst werden Sie nichts verstehen … Sie wollen doch noch nicht schlafen?«
»Nein.«
»Schön. Hören Sie mal … da schnarcht im Nebenzimmer Herr Kantagrjuchin, wie ordinär! Ich wurde von armen Eltern geboren, ich sage Eltern, weil ich laut Überlieferung außer der Mutter auch einen Vater gehabt habe. Ich kann mich seiner nicht erinnern; man sagt, er sei ein beschränkter Mensch mit einer großen Nase und Sommersprossen im Gesicht gewesen, rotes Haar hätte er gehabt und den Tabak nur mit einem Nasenloch geschnupft; im Schlafzimmer meiner Mutter hing sein Bildnis, in roter Uniform mit einem schwarzen Kragen bis an die Ohren, ein ungewöhnlich häßlicher Mensch. Ich wurde an diesem Bildnis vorbeigeführt, sooft ich die Rute bekommen sollte, und meine Mutter zeigte in solchen Fällen immer auf ihn und sagte: ›Er hätte dich noch ganz anders bestraft.‹ Sie können sich vorstellen, wie mich das ermutigte. Ich hatte weder Bruder noch Schwester, das heißt, eigentlich hatte ich einen Bruder, der nicht viel taugte, mit der englischen Krankheit im Nacken, aber der starb sehr bald … Wie kommt auch die englische Krankheit in den Schtschigrowschen Kreis des Kursker Gouvernements? Aber nicht davon will ich sprechen. Meine Mutter leitete selbst meine Erziehung mit dem ganzen Eifer einer Steppengutsbesitzerin: Sie befaßte sich damit von dem herrlichen Tag meiner Geburt bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr … Folgen Sie dem Gang meiner Erzählung?«
»Gewiß, fahren Sie nur fort.«
»Nun gut. Sobald ich sechzehn Jahre alt geworden war, jagte meine Mutter meinen französischen Hofmeister, den Deutschen Philippowitsch, der eigentlich ein Njeschiner Grieche war, aus dem Hause; sie brachte mich nach Moskau, ließ mich bei der Universität einschreiben und befahl ihre Seele dem Allmächtigen, nachdem sie mich meinem Onkel, dem Advokaten Koltun-Babura, einem nicht nur im Schtschigrowschen Kreise bekannten Vogel, überlassen hatte. Mein leiblicher Onkel, der Advokat Koltun-Babura, plünderte mich, wie es so geht, bis aufs Hemd aus … Aber ich will nicht davon sprechen. Auf die Universität kam ich – das muß ich meiner Mutter lassen – recht gut vorbereitet; aber schon damals machte sich bei mir ein Mangel an Originalität bemerkbar. Meine Kindheit unterschied sich durch nichts von der Kindheit anderer Jünglinge: Ich wuchs ebenso dumm und matt wie unter einem Federbett heran, fing ebenso früh an, Gedichte auswendig zu lernen und zu versauern, unter der Vorspiegelung einer träumerischen Hinneigung … wozu doch? – ja, zum Schönen … und so weiter. In der Universität schlug ich keinen andern Weg ein: Ich geriet sogleich in einen ›Zirkel‹. Damals waren andere Zeiten … Sie wissen aber vielleicht nicht, was so ein Zirkel ist? – Ich glaube, Schiller hat irgendwo gesagt: