»Verehrter Herr«, rief er aus, »ich bin der Ansicht, daß nur die Originale allein ein gutes Leben und ein Recht zu leben haben. Mon verre n'est pas grand, mais je bois dans mon verre, hat jemand gesagt. – Hören Sie«, fügte er halblaut hinzu, »wie rein ich das Französische ausspreche. Was habe ich davon, daß dein Kopf groß und geräumig ist, daß du alles verstehst, viel weißt, mit deiner Zeit Schritt hältst, wenn du nichts Originelles, Besonderes hast? Es ist wohl ein Abladeplatz für die Gemeinplätze in der Welt mehr, wer hat aber etwas davon? Nein, sei meinetwegen dumm, sei es aber auf deine eigene Weise! Habe deinen Geruch, deinen eigenen Geruch, das ist es! – Glauben Sie nur nicht, daß ich in bezug auf diesen Geruch allzu große Forderungen stelle … Gott behüte! Solche Originale gibt es eine Menge, wo man auch hinsieht, ist ein Original; jeder lebendige Mensch ist ein Original, ich bin aber nicht darunter!«
»Und doch habe ich«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »in meiner Jugend gewisse Hoffnungen geweckt! Was für eine hohe Meinung habe ich selbst von meiner Person vor meiner Abreise nach dem Ausland gehabt und auch in der ersten Zeit nach meiner Rückkehr! Nun, im Ausland war ich auf der Hut, suchte mir meinen Weg selbst, wie es auch unsereinem ziemt, der alles zu begreifen sucht und zuletzt, wie es sich herausstellt, doch nichts begriffen hat!«
»Ein Original, ein Original!« fuhr er fort, vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd. »Alle nennen mich ein Original, aber in Wirklichkeit zeigt es sich, daß es in der Welt keinen weniger originellen Menschen gibt als Ihren ergebensten Diener. Wahrscheinlich bin ich auch nur als eine Kopie eines anderen geboren … Bei Gott! Ich lebe auch gleichsam als Nachahmung verschiedener Schriftsteller, die ich studiert habe, ich lebe im Schweiß meines Angesichts; ich habe studiert, habe mich verliebt und schließlich auch geheiratet, gleichsam nicht nach eigenem Willen, sondern als wenn ich damit eine Pflicht oder eine Aufgabe zu erfüllen hätte – wer kann daraus klug werden!« Er riß sich die Nachtmütze vom Kopf.
»Wollen Sie, daß ich Ihnen mein Leben erzähle«, fragte er mich kurz, »oder, noch besser, einige Züge aus meinem Leben?«
»Tun Sie mir den Gefallen!«
»Oder nein, ich will Ihnen lieber erzählen, wie ich geheiratet habe. Die Heirat ist doch eine wichtige Sache, ein Prüfstein des ganzen Menschen; in ihr spiegelt sich wie in einem Spiegelglas … aber dieser Vergleich ist zu abgegriffen … Gestatten Sie, daß ich mir eine Prise nehme.«
Er holte unter dem Kissen seine Tabaksdose hervor, öffnete sie und begann wieder zu sprechen, die geöffnete Tabaksdose in der Hand schwingend.
»Versetzen Sie sich doch in meine Lage, sehr geehrter Herr … Urteilen Sie selbst, sagen Sie mir doch, was für einen Nutzen konnte ich aus Hegels Enzyklopädie ziehen? Was hat diese Enzyklopädie mit dem russischen Leben gemein? Wie wollen Sie sie auf unser Leben anwenden, und nicht nur diese Enzyklopädie allein, sondern die deutsche Philosophie überhaupt … ich sage noch mehr: die Wissenschaft?«
Er sprang in seinem Bett auf und begann halblaut, die Zähne boshaft zusammengebissen, zu murmeln: »Ja, so ist es, so ist es …! Warum hast du dich denn im Ausland herumgetrieben? Warum hast du nicht zu Hause gesessen und das dich umgebende Leben an Ort und Stelle studiert? Dann hättest du alle seine Einzelheiten, auch seine Zukunft kennengelernt und wärest dir auch über deine sogenannte Bestimmung klargeworden … Erlauben Sie doch«, fuhr er fort, mit wieder veränderter Stimme, als rechtfertige er sich und verzage, »wo soll unsereins das studieren, was noch kein einziger kluger Mensch in ein Buch geschrieben hat? Ich hätte mich ja sehr gerne vom russischen Leben belehren lassen, aber dieses liebe Leben schweigt. Es sagt: ›Erfasse mich von selber!‹ Ich habe aber nicht die Kraft dazu; man gebe mir die Deduktionen, ziehe mir die Schlüsse … Die Schlüsse? Da hast du, sagt man mir, die Schlüsse: Höre doch mal unsere Moskauer an, sind sie vielleicht keine Nachtigallen? – Das ist aber das Unglück, daß sie wie die Kursker Nachtigallen schmettern, aber nicht wie Menschen reden … So überlegte ich und sagte mir, die Wissenschaft sei doch überall die gleiche, auch die Wahrheit sei die gleiche, und begab mich in Gottes Namen in die Fremde zu den Ungläubigen … Was wollen Sie! Die Jugend, der Stolz war mir zu Kopf gestiegen. Wissen Sie, ich wollte nicht vor der Zeit Fett ansetzen, obwohl man sagt, es sei gesund. Übrigens: Wem die Natur kein Fleisch gegeben hat, der wird niemals Fett an seinem Leib sehen!«
»Aber ich glaube«, fuhr er nach einigem Nachdenken fort, »ich versprach, Ihnen zu erzählen, auf welche Weise ich geheiratet habe. Hören Sie zu. Erstens muß ich Ihnen sagen, daß meine Frau nicht mehr unter den Lebenden weilt; zweitens … zweitens sehe ich, daß ich Ihnen von meiner Jugend erzählen muß, sonst werden Sie nichts verstehen … Sie wollen doch noch nicht schlafen?«
»Nein.«
»Schön. Hören Sie mal … da schnarcht im Nebenzimmer Herr Kantagrjuchin, wie ordinär! Ich wurde von armen Eltern geboren, ich sage Eltern, weil ich laut Überlieferung außer der Mutter auch einen Vater gehabt habe. Ich kann mich seiner nicht erinnern; man sagt, er sei ein beschränkter Mensch mit einer großen Nase und Sommersprossen im Gesicht gewesen, rotes Haar hätte er gehabt und den Tabak nur mit einem Nasenloch geschnupft; im Schlafzimmer meiner Mutter hing sein Bildnis, in roter Uniform mit einem schwarzen Kragen bis an die Ohren, ein ungewöhnlich häßlicher Mensch. Ich wurde an diesem Bildnis vorbeigeführt, sooft ich die Rute bekommen sollte, und meine Mutter zeigte in solchen Fällen immer auf ihn und sagte: ›Er hätte dich noch ganz anders bestraft.‹ Sie können sich vorstellen, wie mich das ermutigte. Ich hatte weder Bruder noch Schwester, das heißt, eigentlich hatte ich einen Bruder, der nicht viel taugte, mit der englischen Krankheit im Nacken, aber der starb sehr bald … Wie kommt auch die englische Krankheit in den Schtschigrowschen Kreis des Kursker Gouvernements? Aber nicht davon will ich sprechen. Meine Mutter leitete selbst meine Erziehung mit dem ganzen Eifer einer Steppengutsbesitzerin: Sie befaßte sich damit von dem herrlichen Tag meiner Geburt bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr … Folgen Sie dem Gang meiner Erzählung?«
»Gewiß, fahren Sie nur fort.«
»Nun gut. Sobald ich sechzehn Jahre alt geworden war, jagte meine Mutter meinen französischen Hofmeister, den Deutschen Philippowitsch, der eigentlich ein Njeschiner Grieche war, aus dem Hause; sie brachte mich nach Moskau, ließ mich bei der Universität einschreiben und befahl ihre Seele dem Allmächtigen, nachdem sie mich meinem Onkel, dem Advokaten Koltun-Babura, einem nicht nur im Schtschigrowschen Kreise bekannten Vogel, überlassen hatte. Mein leiblicher Onkel, der Advokat Koltun-Babura, plünderte mich, wie es so geht, bis aufs Hemd aus … Aber ich will nicht davon sprechen. Auf die Universität kam ich – das muß ich meiner Mutter lassen – recht gut vorbereitet; aber schon damals machte sich bei mir ein Mangel an Originalität bemerkbar. Meine Kindheit unterschied sich durch nichts von der Kindheit anderer Jünglinge: Ich wuchs ebenso dumm und matt wie unter einem Federbett heran, fing ebenso früh an, Gedichte auswendig zu lernen und zu versauern, unter der Vorspiegelung einer träumerischen Hinneigung … wozu doch? – ja, zum Schönen … und so weiter. In der Universität schlug ich keinen andern Weg ein: Ich geriet sogleich in einen ›Zirkel‹. Damals waren andere Zeiten … Sie wissen aber vielleicht nicht, was so ein Zirkel ist? – Ich glaube, Schiller hat irgendwo gesagt:
Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn!
Ich versichere Ihnen, er hat gar nicht das sagen wollen; er hat sagen wollen: Das ist ein ›Zirkel‹ in der Stadt Moskau!«
»Was finden Sie so Schreckliches an einem Zirkel?« fragte ich.