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Mein Nachbar ergriff seine Schlafmütze und zog sie sich über die Nase.

»Was ich daran Schreckliches finde?« rief er. »Nun, hören Sie also: So ein Zirkel ist der Ruin einer jeden selbständigen Entwicklung; ein Zirkel ist ein häßlicher Ersatz für die Gesellschaft, für die Frau, für das Leben; der Zirkel … warten Sie, ich will Ihnen sagen, was so ein Zirkel ist! Ein Zirkel ist ein träges und mattes Leben miteinander und nebeneinander, dem man das Aussehen und die Bedeutung einer vernünftigen Sache gibt; ein Zirkel ersetzt Gespräche durch Räsonnements, er gewöhnt an fruchtloses Geschwätz, lenkt einen von der einsamen, segensreichen Arbeit ab, impft einem die literarische Krätze ein, nimmt einem schließlich die Frische und die jungfräuliche Kraft der Seele. Ein Zirkel ist Banalität and Langweile unter dem Namen von Verbrüderung und Freundschaft, eine Verkettung von Mißverständnissen und Anmaßungen unter dem Vorwand von Aufrichtigkeit und Teilnahme; in einem Zirkel hat jeder Freund das Recht, zu jeder Zeit und zu jeder Stunde seine ungewaschenen Finger in das Innerste eines Freundes zu stecken, und darum hat niemand eine reine, unberührte Stelle in seiner Seele; in einem Zirkel betet man jeden hohlen Schönredner, jeden eingebildeten Witzling, jeden frühreifen Greis an, man trägt jeden talentlosen Dichter, der aber ›geheime‹ Ideen hat, auf den Händen; in einem Zirkel reden siebzehnjährige Burschen unverständlich und geschraubt von den Frauen und von der Liebe, wenn sie aber mit Frauen zusammenkommen, so reden sie oder reden mit ihnen wie mit einem Buch – und worüber sprechen sie! In einem Zirkel blüht eine geschraubte Beredsamkeit; in einem Zirkel beobachtet einer den andern, wie ein Polizeibeamter … Oh, Zirkel! Du bist kein Zirkel, du bist ein Zauberkreis, in dem schon mehr als ein anständiger Mensch zugrunde gegangen ist!«

»Gestatten Sie die Bemerkung: Sie übertreiben«, unterbrach ich ihn.

Mein Nachbar sah mich schweigend an.

»Vielleicht, Gott mag es wissen, vielleicht. Unsereinem ist doch nur die eine Freude geblieben – zu übertreiben. So lebte ich die vier Jahre in Moskau. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, verehrter Herr, wie schnell für mich diese Zeit verging; es ist mir sogar schmerzvoll und verdrießlich, daran zu denken. Wenn ich am Morgen aufstand, so glitten die folgenden Tagesstunden wie ein Schlitten einen Eisberg hinunter … Eh ich mich dessen versah, war der Tag schon zu Ende; schon ist der Abend da, der verschlafene Diener hilft dir in den Rock, du ziehst ihn an und schleppst dich zu einem Freund, um bei ihm ein Pfeifchen zu rauchen, ein Glas dünnen Tee nach dem anderen zu trinken und von der deutschen Philosophie zu sprechen, von der Liebe, von der ewigen Sonne des Geistes und von ähnlichen fernliegenden Gegenständen. Hier traf ich aber auch originelle, selbständige Menschen; mancher tat sich noch so sehr Gewalt an, um sich nach der Schablone zu biegen, aber die Natur forderte doch ihr Recht; nur ich allein knetete an mir herum wie an weichem Wachs, und meine elende Natur leistete nicht den geringsten Widerstand! Indessen wurde ich einundzwanzig Jahre alt. Ich trat in den Besitz meiner Erbschaft ein oder, richtiger gesagt, des Teiles meiner Erbschaft, den mein Vormund für gut befunden hatte, mir zu lassen, gab meinem freigelassenen Leibeigenen Wassilij Kudrjaschew Vollmacht zur Verwaltung meiner Güter und fuhr ins Ausland, nach Berlin. Im Ausland blieb ich, wie ich schon das Vergnügen hatte, Ihnen zu melden, drei Jahre. Und was glauben Sie? Auch dort im Ausland blieb ich das gleiche unoriginelle Geschöpf. Erstens brauche ich wohl gar nicht zu sagen, daß ich das eigentliche Europa, das europäische Leben in keiner Weise kennenlernte; ich hörte die Vorlesungen deutscher Professoren und las die deutschen Bücher an ihrem Entstehungsort … das war der ganze Unterschied. Ich lebte zurückgezogen wie ein Mönch; ich verkehrte nur mit verabschiedeten russischen Leutnants, die gleich mir von Wissensdurst gequält, im übrigen schwer von Begriff waren und keine Gabe der Rede besaßen; ich gab mich mit stumpfsinnigen Familien aus Pensa und anderen broterzeugenden Gouvernements ab; ich trieb mich in Kaffeehäusern herum, las Zeitschriften und besuchte abends das Theater. Mit den Einheimischen verkehrte ich wenig, sprach mit ihnen gezwungen und empfing bei mir niemand von ihnen, mit Ausnahme von zwei oder drei aufdringlichen Jünglingen jüdischer Abstammung, die jeden Augenblick bei mir erschienen, um Geld von mir zu pumpen, denn der Russe pumpt. Ein seltsames Spiel des Zufalls führte mich endlich in das Haus eines meiner Professoren; das kam so: Ich ging zu ihm, um bei ihm das Kolleg zu belegen, er aber lud mich zu einer Abendgesellschaft ein. Dieser Professor hatte zwei Töchter von etwa siebenundzwanzig Jahren, kräftige Mädels – Gott mit ihnen – , großartige Nasen, gekräuselte Haare und blaßblaue Augen, die Hände aber rot mit weißen Nägeln. Die eine hieß Linchen, die andere Minchen. Ich fing an, bei diesem Professor zu verkehren. Ich muß Ihnen sagen, dieser Professor war nicht dumm, aber irgendwie vernagelt; vom Katheder herab sprach er recht zusammenhängend, zu Hause aber hatte er eine unverständliche Aussprache und trug die Brille immer auf der Stirn; dabei war er ein sehr gelehrter Mann … Und was glauben Sie? Plötzlich schien es mir, ich hätte mich in Linchen verliebt – ganze sechs Monate schien es mir. Ich unterhielt mich mit ihr freilich wenig – , sah sie meistens nur an, aber ich las ihr verschiedene rührende Werke vor, drückte ihr heimlich die Hände und saß an Abenden schwärmend neben ihr, unverwandt auf den Mond oder auch einfach auf den Himmel blickend. Außerdem kochte sie ausgezeichnet Kaffee … ! Was brauchte ich noch mehr? Eines nur machte mir Bedenken: In den Augenblicken der, was man so nennt, unaussprechlichen Seligkeit fühlte ich ein Unbehagen in der Herzgrube, und ein kaltes, banges Zittern lief mir über den Magen. Zuletzt hielt ich dieses Glück nicht aus und floh. Ganze zwei Jahre verbrachte ich darauf im Ausland; ich war in Italien, stand in Rom vor der Verklärung Christi und in Florenz vor der Venus; zuweilen verfiel ich in ein übertriebenes Entzücken, das wie Wut über mich kam; an Abenden schrieb ich Verse und fing ein Tagebuch an; mit einem Wort, ich benahm mich wie alle. Sehen Sie, wie leicht es ist, originell zu sein. Ich verstehe zum Beispiel nichts von Malerei und Skulptur … Das hätte ich doch laut sagen können … aber das kann man doch nicht! Nimm dir einen Cicerone und lauf hin, um die Fresken anzusehen …«

Er senkte wieder den Kopf und warf die Schlafmütze wieder ab;

»So kehrte ich schließlich in die Heimat zurück«, fuhr er mit müder Stimme fort, »und kam nach Moskau. In Moskau geschah mit mir eine merkwürdige Veränderung. Im Ausland hatte ich meistens geschwiegen, hier wurde ich aber plötzlich redselig und bildete mir zugleich Gott weiß was alles ein. Es fanden sich nachsichtige Menschen, die mich fast für ein Genie hielten; Damen hörten mit Teilnahme meinen Reden zu; ich verstand es aber nicht, mich auf der Höhe meines Ruhmes zu halten. Eines schönen Morgens kam eine Klatscherei über mich zur Welt – ich weiß nicht, wer sie gezeugt hatte; wahrscheinlich irgendeine alte Jungfer männlichen Geschlechts, solche alte Jungfern gibt es in Moskau massenhaft; die Klatscherei kam auf und begann wie eine Erdbeerpflanze Schößlinge und Sprossen zu treiben. Ich verwickelte mich darin – wollte mich befreien und die zähen Fäden zerreißen, das gelang mir aber nicht … Ich reiste ab. Hier erwies ich mich als ein alberner, untauglicher Mensch; ich hätte ruhig den Verlauf dieser Plage abwarten sollen, wie man das Ende des Nesselfiebers abwartet, und die gleichen nachsichtigen Menschen hätten mir wieder ihre Arme geöffnet, die gleichen Damen hätten wieder meinen Reden zugelächelt … Aber das ist eben das Unglück, daß ich ein unorigineller Mensch bin. Mein Gewissen, sehen Sie, war plötzlich erwacht: Ich schämte mich, unaufhörlich zu schwatzen, gestern auf dem Arbat, heute auf der Truba, morgen auf dem Siwzew-Wraschek, und immer über dieselben Dinge … Wenn das aber verlangt wird? Schauen Sie nur die echten Helden auf diesem Gebiet an – das macht ihnen nichts; im Gegenteil, das ist es, was sie brauchen; mancher arbeitet zwanzig Jahre mit der Zunge und immer in der gleichen Richtung! Was machen doch Selbstvertrauen und Ehrgeiz aus! Auch in mir war Ehrgeiz, und er ist auch heute noch nicht zur Ruhe gekommen … Schlimm aber ist, daß ich, ich sage es wieder, ein unorigineller Mensch bin und auf halbem Wege stehenblieb – die Natur hätte mir viel mehr Ehrgeiz verleihen oder mir gar keinen Ehrgeiz geben sollen. Aber in der ersten Zeit fiel es mir wirklich schwer; außerdem hatte die Reise ins Ausland endgültig meine Mittel erschöpft, und eine Kaufmannstochter mit einem jungen, aber wie Gelee schwammigen Körper wollte ich doch nicht heiraten. – Ich zog mich also auf mein Gut zurück. Ich glaube«, fügte mein Nachbar hinzu, mich wieder von der Seite anblickend, »ich darf wohl die ersten Eindrücke des Landlebens übergehen, die Hinweise auf die Schönheit der Natur, auf den stillen Reiz der Einsamkeit und so weiter …«