»Sie dürfen es«, sagte ich.
»Um so mehr«, fuhr der Erzähler fort, »als es alles Unsinn ist, wenigstens soweit es mich betrifft. Auf dem Land langweilte ich mich wie ein eingesperrter junger Hund, obwohl ich gestehen muß, daß mir, als ich auf dem Rückweg zum erstenmal im Frühling durch das mir bekannte Birkengehölz fuhr, der Kopf schwindelte und das Herz vor süßer unbestimmter Erwartung klopfte. Aber diese unbestimmten Erwartungen gehen, wie Sie wissen, niemals in Erfüllung, dagegen erfüllen sich andere Dinge, die man gar nicht erwartet hat: wie Viehseuchen, Steuerrückstände, öffentliche Subhastationen und so weiter. Indem ich mich mit Hilfe des Burmistrs Jakow, der an Stelle des früheren Verwalters getreten war und sich mit der Zeit als der gleiche, wenn nicht noch größere Spitzbube als dieser erwies und der obendrein mein Leben durch den Geruch seiner geteerten Stiefel vergiftete, von einem Tag zum anderen durchschlug, erinnerte ich mich eines Tages einer mir bekannten Nachbarfamilie, die aus einer Oberstin a.D. und deren zwei Töchtern bestand; ich ließ meine Droschke anspannen und fuhr zu den Nachbarn. Dieser Tag soll mir ewig im Gedächtnis bleiben: Nach sechs Monaten heiratete ich die zweite Tochter der Oberstin …!«
Der Erzähler senkte den Kopf und hob die Arme zum Himmel.
»Indessen«, fuhr er erregt fort, »ich möchte Ihnen keine schlechte Meinung von der Verstorbenen einflößen. Gott behüte! Sie war das edelste, gütigste Geschöpf, ein liebendes Wesen, zu allen Opfern fähig, obwohl ich, unter uns gesagt, gestehen muß, daß ich, wenn ich nicht das Unglück gehabt hätte, sie zu verlieren, wohl nicht imstande gewesen wäre, mich heute mit Ihnen zu unterhalten, denn in meinem Schuppen ist auch heute noch der Balken ganz, an dem ich mich mehr als einmal habe aufhängen wollen!«
»Gewisse Birnen«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »müssen einige Zeit im Keller lagern, bis sie ihren rechten Geschmack bekommen; auch meine Selige gehörte offenbar zu ähnlichen Naturprodukten. Jetzt erst lasse ich ihr volle Gerechtigkeit widerfahren. Jetzt erst wecken zum Beispiel die Erinnerungen an manche Abende, die ich mit ihr vor der Hochzeit verbrachte, nicht nur nicht die geringste Bitterkeit in mir, sondern rühren mich im Gegenteil fast bis zu Tränen. Die Leute waren nicht reich; ihr sehr altes, hölzernes, aber bequemes Haus stand auf einer Anhöhe zwischen einem verwilderten Garten und einem mit Unkraut bewachsenen Hof. Unten lief ein Fluß, der durch das Laub kaum zu sehen war. Eine große Terrasse führte aus dem Hause in den Garten, vor der Terrasse prangte ein längliches, mit Rosen bepflanztes Beet; an beiden Enden des Beetes wuchsen zwei Akazien, die der verstorbene Besitzer noch in ihrer Jugend in Schraubenform gezogen hatte. Etwas weiter, im Dickicht einer verwahrlosten und verwilderten Himbeerpflanzung stand eine innen kunstvoll ausgemalte, von außen aber dermaßen baufällige und morsche Gartenlaube, daß es unheimlich war, sie anzusehen. Eine Glastür führte von der Terrasse in das Gastzimmer; im Gastzimmer bot sich aber dem neugierigen Blick des Beschauers folgendes dar: In den Ecken Kachelöfen, rechts ein verstimmtes, mit handschriftlichen Noten beladenes Piano, ein mit verblichenem, blauem, weißgemustertem Stoff überzogenes Sofa, ein runder Tisch, zwei Etageren mit Nippsachen aus Porzellan und Glasperlen aus den Zeiten der Kaiserin Katharina; an der Wand das bekannte Bildnis eines blonden Mädchens mit einem Täubchen an der Brust und verdrehten Augen, auf dem Tisch eine Vase mit frischen Rosen … Sehen Sie, wie ausführlich ich es beschreibe. In diesem Gastzimmer, auf dieser Terrasse spielte sich die ganze Tragikomödie meiner Liebe ab. Die Nachbarin selbst war ein böses Frauenzimmer, das vor lauter Bosheit immer heiser war, ein lästiges und zänkisches Geschöpf; die eine Tochter, Wjera, unterschied sich durch nichts von den gewöhnlichen Provinzfräulein; die andere hieß Sofja, und in diese Sofja verliebte ich mich. Die beiden Schwestern hatten ein gemeinsames Schlafzimmer mit zwei keuschen hölzernen Bettchen, vergilbten Poesiealben, Reseden, ziemlich schlechten Bleistiftbildnissen ihrer Freunde und Freundinnen – unter diesen fiel ein Herr mit einem ungewöhnlich energischen Gesichtsausdruck und einer noch energischeren Unterschrift auf, der in seiner Jugend außerordentliche Erwartungen geweckt hatte und es, wie wir alle, zu nichts brachte – mit Büsten von Goethe und Schiller, deutschen Büchern, trockenen Kränzen und anderen Gegenständen, die zur Erinnerung aufbewahrt wurden. In dieses Zimmer kam ich jedoch selten und ungern; ich konnte darin, ich weiß selbst nicht warum, kaum atmen. Außerdem – eine seltsame Sache! Sofja gefiel mir am meisten, wenn ich mit dem Rücken zu ihr saß, und vielleicht auch noch, wenn ich an sie dachte oder vielmehr von ihr träumte, besonders an Abenden auf der Terrasse. Ich blickte damals auf das Abendrot, auf die Bäume, auf die grünen, kleinen Blätter, die schon dunkel geworden waren, sich aber noch immer scharf vom rosa Himmel abhoben; im Gastzimmer am Klavier saß Sofja und spielte fortwährend irgendeinen Lieblingssatz von Beethoven, leidenschaftlich und nachdenklich zugleich; die böse Alte schnarchte friedlich auf dem Sofa sitzend; in dem von rotem Licht durchfluteten Eßzimmer wirtschaftete Wjera am Teetisch; der Samowar sang kunstvoll, als freute er sich über etwas; mit lustigem Knistern brachen die Brezeln, die Löffel schlugen melodisch an die Tassen; der Kanarienvogel, der den ganzen Tag über unbarmherzig geschmettert hatte, wurde plötzlich still und zwitscherte nur ab und zu, als fragte er etwas; aus einem durchsichtigen, leichten Wölkchen fielen im Vorüberziehen einige Tröpfchen herab… Ich aber saß und lauschte und sah zu, mein Herz wurde mir weit, und es schien mir wieder, daß ich liebe. Unter dem Eindruck eines solchen Abends hielt ich einmal bei der Alten um die Hand ihrer Tochter an und war nach zwei Monaten schon verheiratet. Mir schien, daß ich sie liebte… Jetzt wäre es wirklich Zeit, daß ich es wisse, aber ich weiß bei Gott auch jetzt nicht, ob ich Sofja geliebt habe. Sie war ein gütiges, kluges, schweigsames Geschöpf mit einem warmen Herzen; aber Gott weiß warum, ob infolge des langen Lebens auf dem Land oder aus irgendeiner anderen Ursache, barg sich auf dem Grund ihrer Seele – wenn die Seele überhaupt einen Grund hat – eine Wunde, oder es blutete, genauer gesagt, eine Wunde, die man durch nichts heilen konnte, die weder sie selbst noch ich zu nennen vermochte. Von der Existenz dieser Wunde erfuhr ich natürlich erst nach der Hochzeit. Wie sehr ich mich mit ihr auch abmühte, nichts wollte helfen! In meiner Kindheit hatte ich einmal einen Zeisig, den einmal eine Katze in ihren Pfoten gehalten hatte; man hatte ihn gerettet und geheilt, aber der arme Zeisig erholte sich nie wieder. Er saß traurig da, kränkelte und sang nicht mehr… Es endete damit, daß eines Nachts in den offenen Käfig eine Ratte eindrang und ihm den Schnabel abbiß, was ihn endlich zu sterben bewog. Ich weiß nicht, was für eine Katze meine Frau in den Pfoten gehabt hatte, aber auch sie war immer traurig und siechte dahin wie mein unglücklicher Zeisig. Manchmal hatte sie sichtlich Lust, sich aufzuraffen, sich in der frischen Luft, in der Sonne und Freiheit zu vergnügen; sie versuchte es und schrumpfte gleich wieder zu einem Knäuel zusammen. Sie hatte mich dennoch lieb: Wie oft hatte sie mir versichert, daß ihr nichts mehr zu wünschen übrigbliebe – hol's der Teufel – , dabei erloschen aber ihre Blicke. Ich fragte mich, ob sie nicht etwas in ihrer Vergangenheit hätte? Ich zog Erkundigungen ein – nein, es war nichts da. Nun urteilen Sie selbst: Ein origineller Mensch hätte wohl die Achsel gezuckt, vielleicht zweimal aufgeseufzt und dann angefangen, sein eigenes Leben zu leben, ich aber bin ein unoriginelles Geschöpf und fing darum an, nach dem Balken zu schielen. In meiner Frau wurzelten alle die Angewohnheiten einer alten Jungfer – Beethoven, nächtliche Spaziergänge, Reseden, Briefwechsel mit Freunden, Poesiealben usw. – so tief, daß sie sich an eine andere Lebensweise, besonders an die einer Hausfrau, unmöglich gewöhnen konnte; dabei ist es doch lächerlich, wenn eine verheiratete Frau sich in namenloser Sehnsucht verzehrt und an Abenden das Lied singt: O weck sie nicht beim Morgenstrahl!