»Wer ist das?« fragte ich Jermolai.
»Der da? Tichon Iwanytsch Nedopjuskin. Er wohnt bei Tschertopchanow.«
»Ist er arm?«
»Gar nicht reich, aber auch Tschertopchanow hat keinen roten Heller.«
»Warum wohnt er dann bei ihm?«
»Ja, sie sind Freunde. Der eine macht ohne den andern keinen Schritt… Wie es im Sprichwort heißt: Wohin das Pferd mit seinem Huf, dorthin auch der Krebs mit seiner Schere …«
Wir kamen aus dem Gebüsch heraus; plötzlich schlugen neben uns zwei Jagdhunde an, und ein großer, dicker Hase schoß über den schon ziemlich hohen Hafer dahin, und hinter den Hunden sauste auch Tschertopchanow einher. Er schrie nicht, er hetzte nicht, er rief den Hunden nichts zu; er keuchte und rang um Atem; aus seinem offenen Mund kamen zuweilen abgerissene, sinnlose Laute; er sprengte mit aufgerissenen Augen daher und schlug das unglückliche Pferd grausam mit der Reitpeitsche. Die Windhunde kamen heran … der Hase duckte sich, wandte sich scharf um und rannte an Jermolai vorbei in die Büsche … Die Windhunde liefen weiter. »Gib acht, gib acht«, stammelte mühevoll wie ein Stotterer der vor Aufregung ersterbende Jäger, »Liebster, gib acht!« Jermolai schoß … der verwundete Hase purzelte wie ein Kreisel über das glatte, trockene Gras, sprang empor und schrie jämmerlich unter den Zähnen des herbeigeeilten Hundes. Die anderen Hunde kamen sofort herbei.
Tschertopchanow flog wie ein Raubvogel vom Sattel, zog seinen Dolch, lief breitbeinig zu den Hunden, entriß ihnen unter wütenden Flüchen den zerfetzten Hasen und stieß ihm mit verzerrtem Gesicht den Dolch bis ans Heft in den Hals… stieß ihn hinein und fing zu jodeln an. Am Waldsaum erschien Tichon Iwanytsch. »Ho-ho-ho-ho-ho-ho-ho!« schrie Tschertopchanow zum zweitenmal… »Ho-ho-ho-ho!« wiederholte ruhig sein Freund.
»Eigentlich sollte man im Sommer nicht jagen«, bemerkte ich zu Tschertopchanow, auf den zerstampften Hafer zeigend.
»Es ist mein Feld«, antwortete Tschertopchanow, kaum atmend.
Er weidete den Hasen aus, band ihn an den Sattel und verteilte die Pfoten unter die Hunde.
»Ich schulde dir eine Ladung«, sagte er nach der Jägerregel zu Jermolai. »Ihnen aber, mein Herr«, fügte er mit der gleichen abgerissenen, scharfen Stimme hinzu, »danke ich.«
Er stieg in den Sattel.
»Gestatten Sie die Frage … ich vergaß … Ihren Namen und Familiennamen.«
Ich nannte noch einmal meinen Namen.
»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sollten Sie Gelegenheit haben, so kehren bitte bei mir ein … Wo ist aber dieser Fomka, Tichon Iwanytsch?« fuhr er erregt fort. »Wir haben ohne ihn den Hasen erlegt.«
»Sein Pferd ist unter ihm gestürzt«, antwortete Tichon Iwanytsch mit einem Lächeln.
»Wie, gestürzt? Orbassan gestürzt? Pfu, pfüt…! Wo ist er?«
»Dort, hinter dem Wald.«
Tschertopchanow gab seinem Pferd mit der Reitpeitsche eins auf die Schnauze und sprengte wie der Wind davon. Tichon Iwanytsch verbeugte sich vor mir zweimal – für sich und für seinen Freund – und trabte ihm ins Gebüsch nach.
Diese beiden Herren hatten meine Neugierde stark erregt. Was mochte wohl die beiden so verschiedenen Naturen mit Banden unzertrennlicher Freundschaft aneinanderfesseln? Ich zog Erkundigungen ein und erfuhr folgendes:
Pantelej Jeremejitsch Tschertopchanow galt in der ganzen Umgegend als ein gefährlicher, verrückter und hochmütiger Mensch und als Raufbold der schlimmsten Sorte. Er hatte ganz kurze Zeit in der Armee gedient und ›Unannehmlichkeiten halber‹ seinen Abschied mit dem Rang bekommen, der Anlaß zu dem Ausspruch gibt, das Huhn sei kein Vogel. Er stammte aus einer alten, einst reichen Familie; seine Vorfahren hatten prächtig, nach Steppenart gelebt, das heißt, sie nahmen Geladene und Ungeladene bei sich auf, fütterten sie zum Zerspringen, verabfolgten den fremden Kutschern je eine Tschetwert Hafer für jede Troika, hielten sich Musikanten, Säuger, Possenreißer und Hunde, bewirteten das Volk an Feiertagen mit Branntwein und Bier, reisten im Winter mit eigenen Pferden in schwerfälligen Kutschen nach Moskau, saßen aber oft auch monatelang ohne einen Groschen Geld und lebten von Hausgeflügel, Der Vater Pantelej Jeremejitschs hatte das Gut schon in einem arg ruinierten Zustand geerbt; auch er genoß seinerseits sein Leben und hinterließ seinem einzigen Erben Pantelej das verpfändete Dörfchen Bessonowo mit fünfunddreißig männlichen und sechsundsiebzig weiblichen leibeigenen Seelen und vierzehn und ein Achtel Desjatinen schlechten Landes in der Wildnis Kolobrodowo, über deren Besitz sich jedoch in den Papieren des Verstorbenen keinerlei Urkunden vorfanden. Der Verstorbene hatte sich, man muß es zugeben, auf eine höchst seltsame Weise ruiniert, ›die wirtschaftliche Berechnung‹ hatte ihn zugrunde gerichtet. Nach seiner Ansicht ziemte es einem Edelmann nicht, von Kaufleuten, Bürgern und ähnlichen ›Räubern‹, wie er sie nannte, abzuhängen; darum führte er bei sich allerlei Werkstätten und Handwerke ein. ›So ist es anständiger und auch vorteilhafter‹, pflegte er zu sagen, ›das ist die wirtschaftliche Berechnung!‹ An diesem verderblichen Gedanken hielt er bis an sein Ende fest; er richtete ihn auch zugrunde. Dafür war ihm das Leben eine Freude. Keine einzige Laune versagte er sich. Unter anderen Einfallen kam er einmal auf die Idee, sich nach eigenen Berechnungen eine so große Familienkutsche zu bauen, daß sie trotz der vereinten Bemühungen der zusammengetriebenen Bauernpferde des ganzen Dorfes und deren Besitzer gleich beim ersten Abhang stürzte und zerfiel. Jeremej Lukitsch (Pantelejs Vater hieß Jeremej Lukitsch) ließ auf jenem Abhang einen Gedenkstein errichten, machte sich aber darüber weiter keine Gedanken. Es fiel ihm auch ein, eine Kirche zu bauen, natürlich ohne Hilfe eines Architekten. Er verbrannte einen ganzen Wald zum Ziegelbrennen, legte ein mächtiges Fundament, das für eine Gouvernementskathedrale paßte, führte die Mauern auf und begann die Kuppel zu wölben; die Kuppel stürzte ein. Er baute sie von neuem, sie stürzte wieder ein; er baute sie zum drittenmal, die Kuppel fiel zum drittenmal auseinander. Da wurde Jeremej Lukitsch nachdenklich: Es geht hier nicht mit rechten Dingen zu, es ist wohl verfluchte Hexerei im Spiel… und er gab plötzlich den Befehl, alle alten Weiber im Dorf durchzupeitschen. Man peitschte die alten Weiber durch, konnte aber die Kuppel doch nicht aufführen. Er begann, die Bauernhäuser nach einem neuen Plan umzubauen, alles aus wirtschaftlicher Berechnung: Er stellte je drei Höfe zu einem Dreieck zusammen und errichtete in der Mitte eine Stange mit einem angemalten Starenhäuschen und einer Flagge. Jeden Tag erfand er etwas Neues, bald kochte er aus Pestwurzblättern Suppen, bald schnitt er den Pferden die Schweife ab, um daraus Mützen für seine Leibeigenen zu machen, bald wollte er statt Flachs Brennesseln anbauen, bald Schweine mit Pilzen füttern… Einmal las er in den Moskauer Nachrichten einen Artikel des Charkower Gutsbesitzers Chrjak-Chrupjorskij über den Nutzen der Sittlichkeit im Bauernleben und befahl gleich am nächsten Tag allen Bauern, den Artikel des Charkower Gutsbesitzers auswendig zu lernen. Die Bauern lernten den Artikel auswendig; der Herr fragte sie, ob sie verstünden, was da geschrieben wäre. Der Verwalter antwortete, wie sollten sie das nicht verstehen? Um die gleiche Zeit ordnete er an, alle seine Untertanen der Ordnung und der wirtschaftlichen Berechnung wegen zu numerieren und jedem die Nummer an den Kragen zu nähen. Bei der Begegnung mit dem Herrn pflegte jeder Bauer schon aus der Ferne zu rufen: »Die Nummer so und so kommt!« Worauf der Herr freundlich antwortete: »Geh mit Gott!«
Aber trotz der Ordnung und der wirtschaftlichen Berechnung geriet Jeremej Lukitsch allmählich in eine äußerst schwierige Lage, er begann seine Dörfer erst zu verpfänden und dann auch zu verkaufen; den letzten Urahnensitz, das Dorf mit der unvollendeten Kirche, verkaufte schon der Staat, zum Glück nicht mehr bei Lebzeiten Jeremej Lukitschs – er hätte diesen Schlag nicht überstanden – , sondern zwei Wochen nach seinem Ableben. So war es ihm beschieden, in seinem eigenen Haus, in seinem Bett, umgeben von seinen Leuten und unter Aufsicht seines Arztes zu sterben; dem armen Pantelej blieb aber nur das kleine Gut Bessonowo.