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Und zwar: Sein Herzensfreund Tichon Iwanytsch Nedopjuskin war gestorben. Schon zwei Jahre vor seinem Tode war es mit seiner Gesundheit nicht am besten bestellt – er litt an Atemnot, schlief fortwährend ein und konnte, wenn er erwachte, lange nicht zu sich kommen; der Kreisarzt behauptete, es seien kleine Schlaganfälle. Während der drei Tage, die Maschas Flucht vorangingen, der drei Tage, an denen sie von der ›Sehnsucht gepackt‹ war, lag Nedopjuskin zu Hause in Besselendejewka, er hatte sich stark erkältet. Um so mehr überraschte ihn Maschas Schritt, er traf ihn vielleicht noch härter als Tschertopchanow selbst. Infolge seines sanften und scheuen Charakters äußerte er nichts außer der zärtlichen Teilnahme und eines schmerzhaften Erstaunens … aber alles in ihm war gerissen. »Sie hat aus mir meine Seele genommen«, flüsterte er zu sich selbst, auf seinem mit Wachstuch bezogenen Lieblingssofa sitzend und mit den Fingern spielend. Selbst als Tschertopchanow sich schon beruhigt hatte, hatte sich Nedopjuskin noch immer nicht erholt – er fühlte noch immer, daß alles in seinem Innern leer sei. – »Hier«, pflegte er zu sagen, indem er auf die Mitte der Brust über dem Magen zeigte.

So zog er bis zum Winter hin. Als die ersten Fröste kamen, wurde es mit seiner Atemnot etwas besser, dafür traf ihn ein wirklicher Schlag, und kein ›kleiner‹ mehr. Er verlor nicht gleich die Besinnung; er konnte noch Tschertopchanow erkennen und antwortete sogar auf den verzweifelten Aufschrei seines Freundes: »Was ist mit dir, Ticha?«

»Pa-a-jej Je-e-jejitsch, zu Ih-en Die-sten.«

Das hinderte ihn aber nicht, am selben Tag zu sterben, noch vor der Ankunft des Kreisarztes, dem angesichts der kaum erstarrten Leiche nichts mehr übrigblieb, als mit dem traurigen Bewußtsein der Vergänglichkeit alles Irdischen um ein Schnäpschen mit gedörrtem Störrücken zu bitten.

Sein Gut hatte Tichon Iwanowitsch, wie es auch zu erwarten war, seinem ›verehrtesten Wohltäter und großmütigsten Gönner‹ Panteiej Jeremejitsch Tschertopchanow vermacht; aber der verehrteste Wohltäter hatte davon keinen großen Nutzen, da es bald darauf öffentlich versteigert wurde – zum Teil, um die Kosten des Grabmonuments zu decken, das Tschertopchanow (es war offenbar eine väterliche Ader in ihm!) über der Asche seines Freundes zu errichten beschloß.

Dieses Monument, eine Statue, die einen betenden Engel darstellen sollte, verschrieb er sich aus Moskau; aber der ihm empfohlene Kommissionär sagte sich, daß in der Provinz die Kenner der Skulptur dünn gesät seien, und schickte ihm statt des Engels eine Flora, die viele Jahre einen verwilderten Park aus der Zeit Katharinas der Großen bei Moskau geschmückt hatte – um so mehr, als diese im übrigen recht hübsche Rokokostatue mit runden Händchen, üppigen Locken, einer Rosengirlande auf dem entblößten Busen und geschwungenem Oberkörper ihn, den Kommissionär, keine Kopeke gekostet hatte. So steht die mythologische Göttin mit graziös erhobenem Füßchen auch heute noch auf dem Grab Tichon Iwanowitschs und schaut mit der echten Grimasse einer Pompadour auf die um sie herumspazierenden Kälber und Schafe, diese unvermeidlichen Besucher unserer ländlichen Friedhöfe.

Nach dem Verlust seines treuen Freundes ergab sich Tschertopchanow wieder dem Trunke, diesmal in einer viel besorgniserregenderen Weise. Seine Geschäfte gingen immer schlechter. Er konnte nicht mehr jagen, sein letztes Geld ging ihm aus, die letzten Leibeigenen liefen ihm davon. Die Vereinsamung Pantelej Jeremejitschs war nun vollständig, er hatte niemanden, mit dem er ein Wort hätte sprechen können, geschweige denn, vor dem er sein Herz ausschütten konnte. Nur sein Stolz allein hatte nicht abgenommen. Im Gegenteil – je schlimmer seine Verhältnisse waren, desto stolzer, hochmütiger und unzugänglicher wurde er selbst. Zuletzt war er ganz verwildert. Nur ein Trost, eine Freude war ihm geblieben: ein wunderbares graues Reitpferd von Donscher Rasse, das er Malek-Adel nannte, ein wirklich wunderbares Tier.

Zu diesem Pferd war er auf folgende Weise gekommen.

Als Tschertopchanow einmal durch ein Nachbardorf ritt, hörte er neben der Schenke einen Haufen Bauern schreien und lärmen. In der Mitte der Menge hoben und senkten sich fortwährend kräftige Fäuste.

»Was ist da los?« fragte er mit dem ihm eigenen befehlenden Ton ein altes Weib, das vor der Schwelle ihres Hauses stand.

An den Türbalken gelehnt und wie schlafend, blickte das Weib in der Richtung nach der Schenke. Ein strohblonder Junge im bloßen Kattunhemd mit einem Kreuzchen aus Zypressenholz auf der nackten Brust saß mit gespreizten Beinchen und geballten Fäustchen zwischen ihren Bastschuhen; gleich daneben pickte ein Küken an einer versteinerten Schwarzbrotrinde.

»Gott weiß es, Väterchen«, antwortete die Alte, indem sie sich vorbeugte und ihre runzelige dunkle Hand auf den Kopf des Jungen legte. »Man sagt, die Unsrigen schlagen einen Juden.«

»Was, einen Juden? Was für einen Juden?«

»Das weiß Gott, Väterchen. Bei uns ist so ein Jude aufgetaucht; woher er kommt, wer kann es wissen? Waßja, Liebster, geh zu der Mutter. – Ksch, ksch, du Mistvieh!« Die Alte verscheuchte das Küken, und Waßja ergriff ihren Rocksaum. »Also schlägt man ihn, Herr.«

»Man schlägt ihn? Warum?«

»Ich weiß es nicht, Väterchen. Er wird es wohl verdient haben. Wie soll man ihn nicht schlagen! Er hat doch Christus ans Kreuz geschlagen!«

Tschertopchanow schrie auf, schlug das Pferd mit der Peitsche auf den Hals und sprengte mitten in die Menge hinein; dann fing er an, auf die Bauern wahllos nach rechts und nach links mit der Peitsche zu schlagen und dabei aufgeregt zu schreien: »Will-kür! Will-kür! Das Gesetz straft und nicht Pri-vat-per-so-nen! Das Gesetz! Das Ge-setz!! Das Ge-setz!!«

Es waren noch keine zwei Minuten vergangen, als die Menge sich nach allen Seiten zerstreut hatte. Auf der Erde, vor der Tür der Schenke, lag aber ein kleines, hageres schwärzliches Geschöpf in einem Kaftan aus Nanking, zerzaust und zerschlagen … Ein bleiches Gesicht, leblose Augen, ein offener Mund … Was war das? Die Erstarrung des Schreckens oder schon der Tod selbst?

»Warum habt ihr den Juden erschlagen?« rief Tschertopchanow mit Donnerstimme und schwang die Reitpeitsche.

Ihm antwortete ein schwaches Murren in der Menge. Der eine Bauer griff sich an die Schulter, der andere an die Hüfte, der dritte an die Nase. »Der kann hauen!« ertönte es in den hinteren Reihen.

»Mit der Reitpeitsche! So kann es ein jeder!« versetzte eine andere Stimme.

»Warum habt ihr den Juden erschlagen? Euch frage ich, ihr verdammten Asiaten!« wiederholte Tschertopchanow.

Hier sprang aber das auf der Erde liegende Geschöpf flink auf die Beine, lief hinter Tschertopchanow und griff krampfhaft nach dem Rand seines Sattels.

»Der ist zäh!« ertönte es wieder in den hinteren Reihen. »Wie eine Katze!«

»Euer Hochwohlgeboren, nehmen Sie sich meiner an, retten Sie mich!« stammelte indessen der unglückliche Jude, sich mit der ganzen Brust an das Bein Tschertopchanows drückend. »Sonst erschlagen sie mich, sie erschlagen mich, Euer Hochwohlgeboren!« »Warum schlagen sie dich?« fragte Tschertopchanow.

»Bei Gott, ich weiß es nicht! Das Vieh fing an bei ihnen zu fallen, und sie glauben … ich aber …«

»Nun, das werden wir später untersuchen!« unterbrach ihn Tschertopchanow. »Halte dich jetzt an meinem Sattel fest und folge mir. – Ihr aber«, fügte er hinzu, indem er sich an die Menge wandte, »kennt ihr mich? Ich bin der Gutsbesitzer Pantelej Tschertopchanow und wohne auf dem Gut Bessonowo – wenn ihr wollt, könnt ihr euch über mich beschweren, auch über den Juden zugleich!«