Der schuldlose Schuldige trabte gehorsam hinter seinem Rücken … Aber in Tschertopchanows Herzen war kein Mitleid.
Nicht weit vom Waldsaum, zu dem er sein Pferd geführt hatte, zog sich ein kleiner, bis zur Hälfte mit Eichengesträuch bewachsener Graben hin. Tschertopchanow stieg hinunter … Malek-Adel stolperte und fiel beinahe über ihn.
»Du willst mich wohl erdrücken, Verdammter!« rief Tschertopchanow und holte, als müßte er sich verteidigen, die Pistole aus der Tasche. Er spürte keine Erbitterung mehr, sondern jenes eigentümliche starre Gefühl, das sich des Menschen bemächtigt, ehe er ein Verbrechen verübt. Aber seine eigene Stimme erschreckte ihn, so wild klang sie unter den herabhängenden dunklen Ästen, in der faulen und dumpfen Feuchtigkeit des Waldgrabens! Außerdem begann als Antwort auf diesen Ruf irgendein großer Vogel auf dem Baumgipfel über seinem Kopfe mit den Flügeln zu schlagen … Tschertopchanow fuhr zusammen. Es war ihm, als habe er einen Zeugen für seine Tat geweckt – hier, an dieser öden Stelle, wo er doch keinem lebenden Wesen begegnen sollte …
»Teufel, geh in alle vier Winde!« sagte er durch die Zähne, dann ließ er die Zügel Malek-Adels los und schlug ihn, weit ausholend, mit dem Griff der Pistole auf die Schulter. Malek-Adel wandte sich sofort um, kletterte aus dem Graben … und lief davon. Das Klopfen seiner Hufe war aber nicht lange zu hören.
Der Wind, der sich erhoben hatte, vermischte und verdeckte alle Töne.
Tschertopchanow kletterte auch selbst langsam aus dem Graben, erreichte den Waldsaum und schleppte sich nach Hause. Er war mit sich unzufrieden – die Last, die er in seinem Kopf und in seinem Herzen empfunden hatte, verbreitete sich durch alle seine Glieder; er ging böse, finster, unbefriedigt, hungrig, als habe ihn jemand beleidigt, ihm seine Beute, seine Nahrung weggenommen …
Einem Selbstmörder, den man an der Ausführung seines Vorhabens verhindert hat, sind diese Gefühle bekannt.
Plötzlich stieß ihn etwas von rückwärts zwischen die Schultern. Er sah sich um … Malek-Adel stand mitten auf der Straße. Er war der Spur seines Herrn gefolgt und berührte ihn mit der Schnauze … er meldete, daß er zur Stelle sei …
»Ah!« schrie Tschertopchanow. »Du selbst, du selbst kommst, um dir den Tod zu holen! Hier hast du ihn!«
In einem Augenblick zog er die Pistole, spannte den Hahn, setzte die Mündung an Malek-Adels Stirn und drückte ab. Das arme Pferd taumelte zur Seite, bäumte sich, sprang zehn Schritt zurück, stürzte plötzlich zu Boden, röchelte und wälzte sich wie im Krampfe …
Tschertopchanow hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu und lief davon. Die Knie knickten ihm ein. Der Rausch, die Wut, das stumpfe Selbstvertrauen – alles war im Nu verflogen. Es blieb ihm nur das Gefühl der Schande und des Abscheus und das Bewußtsein, das unumstößliche Bewußtsein, daß er nun auch mit sich selbst ein Ende gemacht hatte.
Sechs Wochen später hielt es der Diener Perfischka für seine Pflicht, den am Gut Bessonowo vorbeifahrenden Kreispristaw anzuhalten.
»Was willst du?« fragte der Hüter der Ordnung.
»Bemühen Sie sich doch, Euer Wohlgeboren, zu uns ins Haus«, antwortete der Diener mit einer tiefen Verbeugung. »Pantelej Jeremejitsch scheint sterben zu wollen; also fürchte ich mich.«
»Wie? Sterben?« fragte der Pristaw.
»Zu Befehl, ja. Anfangs hatte der Herr jeden Tag Schnaps getrunken, jetzt hat er sich aber ins Bett gelegt und ist sehr schwach. Ich glaube, daß er jetzt nichts mehr versteht. Hat ganz die Sprache verloren.« Der Pristaw stieg aus dem Wagen.
»Nun, hast du wenigstens den Geistlichen gerufen? Hat dein Herr gebeichtet? Hat er das Abendmahl empfangen?«
»Zu Befehl, nein.«
Der Pristaw runzelte die Stirne: »Was ist das, Bruder? Geht denn das? Oder weißt du nicht, daß man dich dafür zur Verantwortung ziehen kann?«
»Ich habe ihn ja vorgestern und gestern gefragt«, sagte Perfischka, der Angst bekam. »›Befehlen Sie nicht, Pantelej Jeremejitsch, daß ich den Geistlichen hole?‹ – ›Schweig, Dummkopf!‹ sagte er drauf. ›Misch dich nicht in fremde Sachen.‹ Als ich es ihm heute wieder sagte, sah er mich nur an und bewegte den Schnurrbart.«
»Hat er viel Schnaps getrunken?« fragte der Pristaw.
»Furchtbar viel! Aber seien Sie so gut, Euer Wohlgeboren, bemühen Sie sich zu ihm ins Zimmer.«
»Nun, führe mich!« brummte der Pristaw und folgte Perfischka.
Ein ungewöhnlicher Anblick erwartete ihn.
In einem feuchten und dunkeln Hinterzimmer des Hauses lag auf einem ärmlichen, mit einer Pferdedecke bedeckten Bett, mit einem zottigen Filzmantel statt eines Kissens, Tschertopchanow, nicht mehr blaß, sondern gelblichgrün, wie Tote aussehen, mit eingefallenen Augen unter den glänzenden Lidern, mit einer zugespitzten, aber immer noch rötlichen Nase über dem zerzausten Schnurrbart. Er war bekleidet mit seinem ständigen Jagdrock (mit den Patronen auf der Brust) und einer blauen, tscherkessischen Pluderhose. Die Fellmütze mit himbeerrotem Boden verdeckte seine Stirn bis zu den Augenbrauen. In der einen Hand hielt Tschertopchanow seine Hetzpeitsche und in der andern einen gestickten Tabaksbeutel, Maschas letztes Geschenk. Auf dem Tisch neben dem Bett stand eine leere Schnapsflasche; zu seinen Häupten sah man zwei mit Stecknadeln an die Wand befestigte Aquarelle; das eine stellte, soweit man erkennen konnte, einen dicken Mann mit einer Gitarre in den Händen dar – wahrscheinlich Nedopjuskin, das andere einen Reiter im vollen Lauf … Das Pferd glich jenen Märchentieren, die die Kinder an Mauern und Zäunen zeichnen, aber die sorgfältig schattierte Musterung eines Apfelschimmels, die Patronen auf der Brust des Reiters, die spitz zulaufenden Stiefel und der Riesenschnurrbart ließen keinen Zweifel übrig – diese Zeichnung sollte Pantelej Jeremejitsch auf dem Malek-Adel darstellen.
Der Pristaw war erstaunt und wußte nicht, was er unternehmen sollte. Im Zimmer herrschte eine Grabesstille. – Er ist ja schon tot, dachte er sich; dann erhob er die Stimme und rief: »Pantelej Jeremejitsch! Pantelej Jeremejitsch!«
Nun geschah etwas Ungewöhnliches. Tschertopchanows Augen öffneten sich langsam, die erloschenen Pupillen bewegten sich erst von rechts und nach links, dann von links nach rechts, blieben an dem Gast haften und erkannten ihn … In ihrem trüben Weiß leuchtete etwas auf, etwas wie ein Blick zeigte sich in ihnen; die blauen Lippen gingen allmählich auf, und es erklang eine heisere Stimme, die aus dem Grab zu kommen schien: »Der Edelmann Pantelej Tschertopchanow stirbt, wer kann ihn daran hindern? Er schuldet niemand etwas und fordert nichts … Verlaßt ihn, ihr Menschen! Geht!« Die Hand mit der Hetzpeitsche versuchte sich zu heben … Vergebens!
Die Lippen klebten wieder aneinander, die Augen schlossen sich, und Tschertopchanow lag wie früher auf seinem harten Bett ausgestreckt, die Füße aneinandergedrückt.
»Melde mir, wenn er tot ist«, flüsterte der Pristaw im Hinausgehen Perfischka zu. »Einen Popen kannst du aber, glaube ich, auch jetzt noch holen. Man muß doch die Ordnung wahren und ihm die letzte Ölung geben.«
Perfischka holte noch am gleichen Tag den Popen; am andern Morgen mußte er aber dem Pristaw melden, daß Pantelej Jeremejitsch in der gleichen Nacht verschieden war.
Als man ihn beerdigte, folgten zwei Menschen seinem Sarg: der Diener Perfischka und Moschel-Lejba. Die Nachricht vom Tode Tschertopchanows hatte ihn auf unbekannte Weise erreicht, und er unterließ es nicht, seinem Wohltäter die letzte Ehre zu erweisen.
Die lebendige Reliquie
Land der Dulder und der Demut, meine Heimat, Russenerde!