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»Von diesem Tag an«, fuhr Lukerja fort, »begann ich zu schwinden und auszutrocknen; ganz schwach war ich geworden; es fiel mir schwer zu gehen, später auch nur die Beine zu bewegen; ich kann weder stehen noch sitzen, möchte immer liegen. Ich will weder essen noch trinken, es geht mir immer schlimmer. Ihre Frau Mutter hat mich in ihrer Güte den Ärzten gezeigt, hat mich auch ins Spital bringen lassen. Ich erfuhr aber keine Erleichterung. Und kein Arzt konnte mir sagen, was ich für eine Krankheit habe. Was sie mit mir nicht schon alles angestellt haben – sie haben mir den Rücken mit glühenden Eisen gebrannt, haben mich in gestoßenes Eis gesetzt, es half alles nichts. Zuletzt war ich ganz verknöchert … Nun beschlossen die Herren, daß es keinen Zweck mehr hat, mich noch weiter zu kurieren, einen Krüppel kann man aber nicht gut im Herrenhaus behalten … also schickte man mich her, denn ich habe hier Verwandte. So lebe ich, wie Sie mich hier sehen.«

Lukerja verstummte von neuem und versuchte wieder zu lächeln.

»Deine Lage ist aber entsetzlich!« rief ich aus … Da ich nicht wußte, was ich ihr noch sagen sollte, fragte ich: »Und was macht Wassilij Poljakow?«

Diese Frage war sehr dumm.

Lukerja blickte etwas zur Seite.

»Was Poljakow macht? – Er grämte sich eine Zeitlang und heiratete schließlich eine andere, ein Mädchen aus Glinnoje. Kennen Sie Glinnoje? Es ist nicht weit von hier. Agrafena hat sie geheißen. Er hat mich sehr geliebt, aber er war doch ein junger Mann und konnte nicht um meinetwillen ledig bleiben. Was wäre ich ihm für eine Lebensgefährtin? Er bekam eine schöne und gute Frau, hat auch Kinderchen. Er ist hier auf dem Nachbargut Verwalter. Ihre Frau Mutter hat ihm einen Paß gegeben, und es geht ihm, Gott sei Dank, gut.«

»Und du liegst immer so?« fragte ich wieder.

»Ja, so liege ich, Herr, schon das siebente Jahr. Im Sommer liege ich hier, in diesem Schuppen, und wenn es kalt wird, trägt man mich in die Badestube hinüber. Dann liege ich dort.«

»Wer pflegt dich denn? Wer schaut nach dir?«

»Es gibt auch hier gute Menschen. Man verläßt mich nicht. Man braucht mich auch fast gar nicht zu pflegen. Ich esse ja fast gar nicht, und Wasser habe ich hier im Kruge, es steht immer ein Vorrat davon, reines Quellwasser. Nach dem Krug kann ich selbst langen, den einen Arm kann ich ja noch bewegen. Dann gibt es hier auch ein kleines Mädel, ein Waisenkind, das kommt zuweilen her, so dankbar bin ich ihr. Sie ist auch eben hier gewesen … Sind Sie ihr nicht begegnet? So ein hübsches Kind mit weißem Gesichtchen. Sie bringt mir Blumen her; ich liebe sie so sehr, die Blumen. Gartenblumen haben wir nicht – es waren wohl welche da, sind aber eingegangen. Aber auch die Wiesenblumen sind schön; sie duften noch schöner als die Gartenblumen. Zum Beispiel die Maiglöckchen … Was gibt es Schöneres?«

»Ist es dir nicht langweilig, nicht unheimlich, meine arme Lukerja?«

»Was soll ich machen? Ich will nicht lügen – anfangs war es mir sehr traurig ums Herz; dann gewöhnte ich mich daran, schickte mich darein – es ist nicht so schlimm; andere haben es noch viel schlimmer.«

»Wieso?«

»Mancher hat kein Obdach! Ein anderer ist blind oder taub! Ich aber kann, Gott sei Dank, gut sehen und alles hören, alles. Ein Maulwurf wühlt in der Erde – auch das höre ich. Ich spüre auch jeden Geruch, selbst den leisesten! Wenn der Buchweizen im Feld oder die Linde im Garten blüht, braucht man mir das gar nicht zu sagen, ich rieche es gleich, wenn nur ein Windhauch herüberkommt. Nein, was soll ich gegen Gott murren? – Viele haben es schlimmer als ich. Wenn ich bloß nur dieses bedenke: Mancher gesunde Mensch kann leicht sündigen; mich hat aber die Sünde selbst verlassen. Neulich reichte mir der Priester P. Alexej das Abendmahl und sagte: ›Deine Beichte brauche ich gar nicht zu hören, kann man denn in deiner Lage sündigen?‹ Aber ich antwortete ihm: ›Und die Sünden, die man in Gedanken begeht, Hochwürden?‹ – ›Diese Sünden sind nicht groß‹, sagte er mir darauf und lachte.«

»Von solchen Sünden habe ich wohl wirklich nicht viel auf dem Gewissen«, fuhr Lukerja fort, »denn ich habe mich gewöhnt, nicht zu denken, und vor allem nicht an das Vergangene zu denken. So vergeht die Zeit schneller.«

Ich war, offen gestanden, erstaunt.

»Du bist aber immer allein, Lukerja; wie kannst du es verhindern, daß dir die Gedanken in den Sinn kommen? Oder schläfst du immer?«

»Oh! Nein, Herr! Schlafen kann ich nicht immer. Große Schmerzen habe ich zwar nicht, aber in meinem Innern, auch in den Knochen, ist immer ein Ziehen; es läßt mich nicht ordentlich schlafen. Nein, ich liege einfach so und denke an nichts; ich fühle, daß ich lebe, daß ich atme – das ist alles. Ich schaue und horche. Die Bienen im Garten summen; eine Taube setzt sich aufs Dach und girrt; eine Henne kommt mal mit ihren Küchlein her, um die Krümel aufzupicken; manchmal fliegt auch ein Spatz oder ein Schmetterling herein – das tut mir wohl. Vor zwei Jahren haben hier in der Ecke sogar Schwalben genistet und Junge ausgebrütet. Das war so lustig! Eine Schwalbe kommt zum Nest geflogen, setzt sich drauf, füttert die Jungen, und weg ist sie. Gleich ist aber schon eine andere da. Manchmal kommt sie gar nicht herein, sondern fliegt nur an der offenen Tür vorüber – die Jungen fangen aber gleich zu piepsen an und reißen die Schnäbel auf … Ich erwartete sie auch im folgenden Jahr, aber man sagte mir, ein hiesiger Jäger hätte sie erschossen. Was für einen Gewinn hatte er davon? Die ganze Schwalbe ist doch nicht größer als ein Käfer … Was seid ihr doch für böse Menschen, ihr Herren Jäger!«

»Ich schieße keine Schwalben«, beeilte ich mich einzuwenden.

»Ein anderes Mal«, fuhr Lukerja fort, »mußte ich so lachen! Ein Hase kam hereingelaufen, wirklich! Ich weiß nicht, vielleicht verfolgten ihn die Hunde, aber er rannte geradewegs durch die Tür herein …! Er setzte sich ganz nahe vor mich hin und saß lange so da, schnupperte mit der Nase, bewegte den Schnurrbart, ganz wie ein Offizier! Auch mich sah er an. Er begriff also, daß ich ihm nicht gefährlich bin. Schließlich stand er auf, sprang zur Tür, sah sich an der Schwelle noch einmal um, und weg war er! So spaßig war es!«

Lukerja sah mich an, ob es nicht spaßig sei? Ich tat ihr den Gefallen und lachte.

Sie biß sich in die ausgetrockneten Lippen.

»Nun, im Winter habe ich es natürlich nicht so gut, denn es ist dunkel, ein Licht anzuzünden, ist zu schade, wozu auch? Ich verstehe zwar zu lesen und habe immer gerne gelesen, aber was soll ich lesen? Es gibt hier keine Bücher, und wenn es auch welche gäbe, wie soll ich so ein Buch halten? P. Alexej brachte mir mal zur Zerstreuung einen Kalender, als er aber sah, daß das Buch mir nichts nützte, holte er wieder ab. Und wenn es auch dunkel ist, so gibt es doch immer etwas zu hören – ein Heimchen zirpt, eine Maus knabbert. – Dann ist es mir so wohl! Nur nicht denken!«

»Manchmal bete ich auch«, fuhr Lukerja nach einer Ruhepause fort. »Aber ich kenne nur wenige Gebete. Was soll ich auch den lieben Gott belästigen? Was soll ich von ihm bitten? Er weiß besser als ich, was mir not tut. Er hat mir mein Kreuz gesandt, also liebt er mich. Uns ist befohlen, es so zu verstehen. Ich spreche manchmal das Vaterunser, das Gebet zur heiligen Mutter Gottes, den Psalm zur schmerzhaften Maria – und dann liege ich wieder ganz ohne Gedanken. Und das ist nicht so schlecht!«

Es vergingen an die zwei Minuten. Ich unterbrach nicht das Schweigen und rührte mich nicht auf dem schmalen Fäßchen, das mir als Sitz diente. Die grausame, steinerne Unbeweglichkeit des vor mir liegenden lebendigen, unglücklichen Wesens hatte sich auch mir mitgeteilt; auch ich war wie erstarrt.

»Hör mal, Lukerja«, begann ich endlich. »Hör, was ich dir vorschlagen möchte. Wenn du willst, lasse ich dich ins Krankenhaus bringen, in das gute städtische Krankenhaus. Wer weiß, vielleicht wird man dich gesund machen. Jedenfalls wirst du nicht mehr allein sein …«